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Mensch, Anna

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Und Anna Wintour weinte. Die „Eiskönigin“, der „Prada-Teufel“, „Nu-clear Wintour“, sie lag in den Armen von Michelle Obama, sie hielt Obamas Handgelenk so fest umklammert, dass die Fingerknöchel kalkweiß hervortraten, und unter diesem berühmten, seit Menschengedenken fest um ihr Antlitz betonierten Bob, der Karl Lagerfeld vor zwei Saisons zu einer sehr albernen Chanel-Haube inspirierte, unter der Wintour-Frisur also löste sich eine nun für alle Welt sichtbare Träne. Im Publikum wurde geblinzelt. Manche Berichterstatter schrieben von „Annas Menschwerdung“. Aber wenn die Eis-Lady am Montag im New Yorker Metropolitan Museum of Art tatsächlich ein wenig weggeschmolzen ist, dann wohl eher aus Ergriffenheit von sich selbst.



Selbst Vogue-Chefin Anna Wintour, die "Eiskönigin" und "Prada-Teufel" genannt wird, zeigt manchmal Gefühle. Aber nur, wenn ihr ein Denkmal gesetzt wird. 

40 Millionen Dollar hat die Renovierung des zum Metropolitan gehörigen Costume Center gekostet, das eine historische Sammlung von mehr als 35000 Kleidern, Kostümen und Accessoires beherbergt. Und es war Anna Wintour, Chefredakteurin der US-Vogue, die einen Teil dieser Millionen eingetrieben hat. Und es war die First Lady der Vereinigten Staaten, Wintours Vertraute, die bei der feierlichen Eröffnung in Anwesenheit des kompletten Fashion-Hochadels das Band durchschnippelte. Aber es war Bee Shaffer, Wintours Tochter, die das Foto bei Instagram postete, das dies alles auf den Punkt brachte: „Anna Wintour Costume Institute“. In Stein über den neuen Museumstrakt gemeißelt.

Was bedeutet das, in dieser Vita? Auf dem Mode-Olymp sitzt die 64-jährige Britin seit zwei Dekaden wie festgegipst, in bevorzugt mädchenhaft bunten Kleidern, mit geradem Rücken und strengem Blick. Aber ein Denkmal, das hat ihr noch gefehlt. Jetzt hat sie eins. Da kann man schon mal weinen, nicht?

Auf den Festakt folgte der „Met-Ball“, den seit 1995 ebenfalls Wintour organisiert und aus dem sie dank exzellenter Kontakte das New Yorker Glamourding schlechthin gemacht hat. Wie in jedem Jahr wird im Costume Institute eine Ausstellung gezeigt (diesmal „Charles James: Beyond Fashion“), und wie in jedem Jahr ging es vor allem darum, wer am Eröffnungsabend die 28 Stufen zum Museumsportal hinaufstöckelte.
Im Prinzip: alle. Das Event mit den Oscars zu vergleichen, wäre unfair, denn die Gäste waren besser angezogen: Beyoncé in einem ebenso hoch- wie tiefgeschlitzten Kleid von Givenchy Couture, Rihanna bauchfrei in Stella McCartney, Gisele Bündchen in einem Gespinst von Balenciaga, Lupita Nyong’o in Prada, Anne Hathaway in Calvin Klein und Victoria Beckham in Victoria Beckham. „Fashion’s Biggest Night“, jubelte vanityfair.com und täuschte sich: Die Nacht gehörte nicht der Mode, sondern einer Frau – in Chanel Couture übrigens, was sonst.

Dass Menschen, die Dolce & Gabbana für einen Süßwarenfabrikanten halten, heute wissen, wer Anna Wintour ist, hat natürlich mit dem Film zu tun. „Der Teufel trägt Prada“ brachte Meryl Streep 2007 eine Oscar-Nominierung und der Originalvorlage diesen eisigen Ruhm, nach dem man sich nicht unbedingt verzehrt. Wintour hat später versucht, dieses Image zu korrigieren, indem sie ein paar Talk-Auftritte absolvierte und sich von einem Dokumentarfilmer bei der Arbeit zusehen, keinesfalls aber in die Karten blicken ließ. Immerhin konnte man da miterleben, wie ihr der damalige Designer bei Yves Saint Laurent, Stefano Pilati, aufgeregt wie ein Schuljunge seine noch unfertige Kollektion vorführte und mit einer Frage vernichtet wurde: „Sind alle Kleider so dunkel?“

Kein einzelner Mensch war im Multimilliardengeschäft der Mode je einflussreicher als Wintour. Nicht nur, dass sie bei vielen Kollektionen ein Wörtchen mitzureden hat, sie hat auch schon diverse Designer auf den Chefsessel bugsiert (zuletzt Alexander Wang bei Balenciaga) oder auch heruntergeschubst. Die exklusivsten Fotografen, die begehrtesten Make-up-Künstler, die teuersten Models arbeiten für Wintour – und auch nur für sie, wenn sie das will. Wer in der US-Vogue mit ihrer Auflage von 1,2Millionen Exemplaren gefeatured wird, hat es offiziell geschafft.

Während einige in der Branche – im Flüsterton natürlich – diese Machtfülle beklagen, spricht vieles dafür, dass der Regentin das Gewand der Mode längst zu eng geworden ist. Für insgesamt vier Präsidentschaftskampagnen der Demokraten hat sie so viele Spenden eingesammelt, dass sie zuletzt als Anwärterin auf einen US-Botschafterposten gehandelt wurde. Warum auch nicht, fand der Guardian, Bürgermeisterin von New York sei sie ja schon. Da ist was dran. Grace Coddington, ihre Kreativchefin und engste Mitarbeiterin seit 25Jahren, hat einmal erzählt, wie sie am Tag nach 9/11 in der Redaktion eintraf. Dort saß die Vogue-Chefin mutterseelenalleine und fragte: „Wo sind denn alle? Wir müssen diese Stadt wieder aufbauen!“

Sollte Anna Wintour jemals zweifeln, ob New York sie auch ordnungsgemäß zurückliebt, kann sie jetzt ins Metropolitan gehen und es nachlesen. Aber Zweifel, seien wir ehrlich, sind nicht wirklich ihr Ding.

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