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Alleingelassen in der Hölle

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Junge nigerianische Schulmädchen entführt und in der Hand von islamistischen Terroristen – es graust einen bei dieser Vorstellung. Aber es gibt noch Steigerungsmöglichkeiten in der Skala des Grausigen, und der vorläufige Höhepunkt war erreicht, als sich am Sonntag der nigerianische Präsident Goodluck Jonathan im Fernsehen zeigte und diesen einen Satz sagte. Er sollte die Menschen beruhigen, er sollte den Eltern der entführten Mädchen Mut machen. Erreicht hat Präsident Jonathan mit diesem einen Satz jedoch vermutlich das genaue Gegenteil. Er sagte: „Unsere Sicherheitskräfte sind mehr als fähig, mit dieser Sache fertig zu werden.“



Die Mutter eines der entführten Mädchen weint um ihre Tochter.

Wären Nigerias Armee und Polizei fähig, es wäre möglicherweise gar nicht zu dieser Situation gekommen. Wären sie fähig, hätte die Terrorsekte Boko Haram vielleicht gar nicht diesen Zulauf gehabt und auch nicht diesen Nährboden bekommen, auf dem sie blühen und gedeihen und ihr blutiges Handwerk verrichten kann. Was da im verarmten Norden Nigerias entstanden ist, diese schier endlose Serie von Anschlägen, Morden und Entführungen, hat sich zu dieser entsetzlichen Plage ja erst auswachsen können durch die Art und Weise, wie die Staatsmacht in Nigeria auf sie reagiert hat. Eine kluge Staatsmacht hätte den Terror der Boko Haram als Alarmsignal verstanden und als einen Weckruf. Eine kluge Staatsmacht hätte nach den Ursachen geforscht und wäre dann schnell zu dem Schluss gekommen, dass es Gründe gibt für diese Aufwallung von Terror und Gewalt. Sie hätte sich dann allerdings selbst infrage stellen und ihr eigenes Verhalten einer selbstkritischen Prüfung unterziehen müssen. Mächtige mögen das nicht. Sie lassen stattdessen lieber die Männer mit den Gewehren von der Leine, lassen gründlich aufräumen, wie es dann heißt – und wundern sich, dass hinterher alles noch viel schlimmer und eine große Schar junger Mädchen plötzlich in der Gewalt von Verbrechern ist.

Als Nigeria von den Briten in die Unabhängigkeit entlassen wurde, da galt es als der Hoffnungsträger Afrikas. Das Land hatte eine gut ausgebildete Elite, es hatte so viel fruchtbares Land, dass man damit ganz Westafrika hätte ernähren können. Dann wurde Öl gefunden, Nigeria stieg auf zum achtgrößten Erdölproduzenten der Welt. Es war auf der Abschussrampe heraus aus der Dritten Welt, doch stattdessen wurde der Staat zum Symbol für all das, was Afrika nicht vorankommen lässt: Korruption und Misswirtschaft, Gewalt, Putsche, Unfähigkeit. Während sich die oben schamlos bereichern, versinken die unten immer mehr in Armut, Elend und Hoffnungslosigkeit.

Das Gegengift ist die Empörung. Sie findet Ausdruck im Aufstand von Jugendbanden im Nigerdelta, wo das Öl seither nur noch unter großen Schwierigkeiten gefördert werden kann, oder eben im Terror der Boko Haram im Norden des Landes. Für Hassprediger ist dort der Boden ganz besonders fruchtbar. Obwohl es jahrzehntelang fast ausschließlich Generäle aus dem Norden waren, die an der Spitze des Staates standen, haben die Menschen im Norden davon nicht profitiert. Nirgendwo im Land ist die Unterentwicklung größer.

Da der Norden überdies, anders als der Süden, überwiegend muslimisch geprägt ist, ergaben sich die Bausteine für ein terroristisches Netzwerk gleichsam von selbst: Armut und religiöser Fanatismus. Als dann die Armee auf den Plan trat, so brutal und so grobschlächtig wie immer, da mussten sie sich in der Sekte um Zulauf und Unterstützung nicht mehr sorgen. „Westliche Bildung ist Sünde“ heißt ihr Name und ihr Programm, und es war nur logisch, dass man früher oder später genau da ansetzen würde, wo eben diese westlichen Werte vermittelt werden.

Nichts ist Eltern in Afrika so wichtig wie die Schulbildung ihrer Kinder. Dafür legen sie sich krumm, dafür bringen sie nahezu jedes Opfer, denn in der Bildung sehen sie den einzigen Erfolg versprechenden Weg aus der Armut. Im Norden Nigerias ist das nicht anders als anderswo, doch Boko Haram hat den Preis dafür unmenschlich hoch getrieben. Er bemisst sich inzwischen nach Toten. Angriff auf eine Schule in dem Ort Mamudo – 22 tote Schüler. Angriff auf eine Schule in Buni Yadi – 59 tote Jungen. Und schließlich Mädchen. Natürlich Mädchen.

Mädchen, da ist sich Boko Haram mit den Taliban völlig einig, haben in der Schule nichts verloren. Frauen sind im Norden Nigerias ohnehin längst Geschöpfe zweiter Klasse. Als vor 14 Jahren in den zwölf nördlichen der 36 nigerianischen Bundesstaaten die islamische Rechtsprechung der Scharia eingeführt wurde mit grausamen Strafen wie Steinigung, Amputationen und Auspeitschungen, da ging das hauptsächlich zulasten der Frauen. Ein Fall war exemplarisch. Da zeigte ein minderjähriges Mädchen drei Männer wegen Vergewaltigung an, aber am Ende war es das Mädchen, das hundert Peitschenhiebe erleiden musste, wegen Unzucht. Die Männer bestritten die Tat und kamen frei.

Das ist Justizalltag im Norden Nigerias, und vor dem Hintergrund ist es fast schon der logische nächste Schritt, wenn jetzt zu hören ist, dass Boko Haram die entführten 276 Schulmädchen verkaufen, versklaven und zwangsverheiraten will. Das Entsetzen darüber ist groß, es zieht weltweite Kreise, so wie es manchmal ist, wenn plötzlich ein Schlaglicht fällt auf etwas, das den Normen von Menschlichkeit und Zivilisation derart zuwiderläuft. Nur: Nichts davon ist in diesem Teil der Welt außergewöhnlich oder unerhört. Es ist leider sehr weitverbreitete Praxis.

Wahr ist aber auch, dass Frauen sich wehren. In Nigeria sind sie auf die Straße gegangen mit Transparenten, auf denen stand: „Rettet unsere Chibok Mädchen“. Chibok ist der Ort, in dem sie zur Schule gingen. Auf Rettung hoffen viele, aber man muss auch hoffen, dass es nicht nigerianische Sicherheitskräfte sind, die diesen Versuch unternehmen, denn dann könnte ein Blutbad programmiert sein. Eine der Frauen, die jetzt demonstriert haben, schrieb im Guardian, man solle statt auf die Armee lieber auf die Cleverness der Mädchen setzen, sich selbst in Sicherheit zu bringen. Es heißt, 53 von ihnen sei bereits die Flucht geglückt.

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