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Luftnummer

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Sie haben zweifellos einen guten Job gemacht, die Mitarbeiter der Putzkolonne. Der helle Steinboden des Terminal-Gebäudes glänzt makellos, alle Mülleimer wurden geleert, die Tische des Bistros „Up and Away“ haben neuen Blumenschmuck erhalten und in den Waschräumen wurden die Spender für die Papierhandtücher neu befüllt. So akkurat wie in Kassel-Calden geht es wohl an keinem anderen deutschen Flughafen zu. Und genau da zeigt sich das Problem, das dieser Airport hat: Denn an den meisten Tagen ist einfach niemand da, der diese nordhessische Idylle durcheinanderbringen könnte. Der Verkehrsflughafen Kassel-Calden ist ein Airport fast ohne Passagiere. Eine Lachnummer, ätzten die Kritiker damals, 271Millionen Euro Baukosten in den Sand gesetzt. Wird schon werden, sagten viele aus der Umgebung, gebt dem Flughafen etwas Zeit. Und nun? Wie steht es heute um den umstrittenen Airport, gut ein Jahr nach seiner Eröffnung?



Gut ein Jahr nach der Eröffnung: Es ist nicht viel los am Regionalairport Kassel-Calden.

Erste Antworten liefert ein Rundgang durch den neuen Terminal. Im Bistro sind alle Tische leer, nur an einem sitzen zwei Gäste, eine Frau mittleren Alters und ihre Enkelin. Wohin geht die Reise? „Nirgends, wir sind nur zu Besuch hier und wollen uns den Flughafen mal anschauen“, sagt die Frau. Und wie ist er so? Lange Pause. „Er ist halt da. Jetzt müssen wir damit leben.“ Wenn sie mal mit dem Flugzeug verreist, sagt die Besucherin noch und greift schon nach dem Mantel, dann fliege sie ab Paderborn, da gebe es viel mehr Verbindungen. „Mit dem Auto ist das gerade mal eine Stunde von hier.“

Als der neue Airport Kassel-Calden im April 2013 nach mehrjähriger Planungs- und Bauzeit eröffnet wurde, sprühten die hessischen Politiker vor Optimismus. „Nordhessen hat Flügel bekommen“, sagte Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU). „Für die Region wird sich der Flughafen lohnen“, meinte Finanzminister Thomas Schäfer (CDU). Und als „eine vernünftige Investition“ pries Kassels Oberbürgermeister Bertram Hilgen (SPD) den Airport. Damals rechnete die Betreibergesellschaft – sie gehört zu zwei Dritteln dem Land, darüber hinaus halten auch Stadt und Landkreis Kassel sowie die Gemeinde Calden Anteile – mit 100000 Fluggästen bis zum Jahresende. Zwischen April und Dezember kamen dann lediglich 44000. Einer der ersten Linienflüge musste abgesagt werden, weil zu wenige Passagiere gebucht hatten – sie wurden in Taxen gesetzt und nach Paderborn gefahren. 6,6 Millionen Euro Verlust soll der Flughafen im ersten Jahr gemacht haben, 2014 soll das Defizit noch einmal größer ausfallen. Die Gemeinde Calden kann ihren Anteil am Verlust nach eigenen Angaben nicht einmal ansatzweise stemmen, und in Kassel wollen Kritiker des Airports mit einem Bürgerbegehren erreichen, dass sich die überschuldete Stadt aus der Betreibergesellschaft zurückzieht, damit auch sie nicht mehr anteilig für die Verluste aufkommen muss. 858000 Euro im ersten Jahr, das Geld kann man besser ausgeben, so der Tenor.

Dass man in Kassel mit Blick auf den Flughafen womöglich schon immer eine Nummer zu groß geplant hat, zeigt sich im Kleinen auch im Flughafen-Shop. In mehreren Ausführungen gibt es dort ein einziges Flugzeugmodell aus Plastik zu kaufen: den Airbus A380. Im Original ist der A380 das größte Passagierflugzeug der Welt, mehr als 500 Passagiere passen hinein. Niemals wird ein solcher Jet Kassel-Calden ansteuern, dafür ist allein schon die Landebahn viel zu kurz. Immerhin ist seit Anfang Mai ab und zu mal ein kleinerer Airbus A319 auf dem Rollfeld zu sehen – die Fluggesellschaft Germania fliegt derzeit jeweils zweimal pro Woche nach Antalya und Palma de Mallorca. Damit ist Kassel-Calden aus einem monatelangen Winterschlaf erwacht, denn zwischen Oktober und April soll sich laut Flugplan kein einziges Verkehrsflugzeug in die nordhessische Provinz verirrt haben. Die Geschäftsleitung soll Durchhalteparolen an die etwa 140 zur Untätigkeit verurteilten Mitarbeiter ausgegeben haben.

Von den knapp 23000 Starts und Landungen, die der Airport im vergangenen Jahr verbucht hat, gehen die meisten sowieso auf das Konto der Allgemeinen Luftfahrt – dazu gehören Flüge von Hobbypiloten, kommerzielle Rundflüge, Starts von Chartermaschinen sowie der Betrieb der ortsansässigen Flugschule. Sie halten den Airport am Leben, nicht die großen Jets.

Um wirklich zu erfahren, wie die Bilanz in Kassel-Calden nach dem ersten Jahr aussieht, muss man den Ort wechseln.

Ein paar hundert Meter Luftlinie vom neuen Terminal entfernt ragt eine alte Wellblechhalle in die Höhe. Der Hangar gehört zum alten Flughafen Kassel-Calden, gebaut 1970, geschlossen 2013 im Zuge des Neubaus. Es ist eine sonderbare Parallelwelt dort drüben: Noch immer haben einige Luftfahrtunternehmen am alten Flughafen ihre Büros, weil Gewerbeflächen auf dem neuen Gelände knapp sind. Die Flugzeuge mussten umziehen, die Menschen bleiben. Das sagt auch einiges darüber aus, für wen der neue Flughafen gebaut wurde – und für wen nicht.

Am alten Airport nutzt die Firma Aero-Fallschirmsport zwei Gebäude. Es ist ein kleiner Betrieb: ein Flugzeug, drei Festangestellte, einige freie Mitarbeiter. Fallschirmsprünge und Lehrgänge, damit verdient das Unternehmen sein Geld, pro Jahr veranstalten sie fast 15000 Sprünge. „So als Steuerzahler denke ich, war es eine Fehlentscheidung, diesen neuen Flughafen zu bauen“, sagt Matthias Maushake, Inhaber und Geschäftsführer der Firma. Der Neubau habe für sein Unternehmen sogar fast das Aus bedeutet, sagt er, denn Fallschirmspringer und kommerzielle Luftfahrt, das vertrage sich nicht so gut. Am Ende stand ein Kompromiss: Die Springer starten am neuen Flughafen, aber die Landezone bleibt die Wiese am alten Airport. Für jeden Sprung müssen die Luftsportler darum erst mit einem Bus vom alten zum neuen Flughafen gebracht werden. Das ist umständlich. Was wäre für Kassel die bessere Lösung gewesen? „Auf die Ferienflieger verzichten und für die anderen einen kleinen, feinen Provinzflughafen machen“, sagt er. „Die Allgemeine Luftfahrt hat doch Potenzial. Rundflüge, Flugschulen, dafür ist Kassel gut.“

Ein paar Meter weiter, ein anderer Wellblechhangar. Nico Knabe lässt die Autotür ins Schloss fallen und kramt nach dem passenden Schlüssel für die schwere Metalltür. Drinnen hat der Inhaber einer Charterflug-Firma noch immer sein Büro, obwohl seine beiden Propellermaschinen längst in einem Hangar am neuen Flugplatz stehen. „Die Planungen für unser eigenes Bürogebäude laufen noch“, sagt Knabe, so lange macht er den Papierkram von seiner kleinen Bude am alten Flugplatz aus. „Wir brauchen einen Dialog darüber, wie man zusammen etwas für den Flughafen bewirken kann“, sagt Knabe. „Wir müssen für Flugbewegungen sorgen, im Kleinen wie im Großen.“ Fünf Minuten dauert die Autofahrt vom alten hinüber zum neuen Flughafen, die Straße endet auf einer Wiese im Nirgendwo, ein Stück abseits des Passagier-Terminals. „Hier soll mal unser Bürogebäude stehen“, sagt Knabe.

Ein Unternehmen hat durch den Neubau des Flughafens sichtbar profitiert: der amerikanische Flugzeugbauer Piper. Die deutsche Generalvertretung ist für halb Europa zuständig, in Kassel-Calden hat sie schon seit 1970 ihren Sitz. Mit dem Umzug hat sich das Unternehmen eine moderne Halle unweit des Towers gebaut. Mehr als zwei Drittel des Umsatzes macht Piper mit dem Handel von Ersatzteilen, der Rest entfällt auf den Verkauf von Piper-Maschinen sowie auf die Wartung von Flugzeugen fast aller Fabrikate. In der hellen Halle stehen unzählige Maschinen eng zusammengeschoben, ein paar von ihnen werden zum Kauf angeboten, die meisten jedoch sind zur Wartung da. Die Flugzeuge kommen von überall her, gerade steht Peter Borkowski, Leiter der Technikabteilung, vor einer einmotorigen Maschine, die in Libanon stationiert ist. Der Umzug habe dem Unternehmen genutzt, meint Borkowski. „Die neue Halle entspricht unseren Anforderungen, auch die längere Startbahn kommt den Piloten entgegen.“ Einen „Riesenvorteil“ wird Wilfried Otto, der Geschäftsführer der Niederlassung, den neuen Airport später am Telefon nennen. „Wirtschaftlich wird sich das natürlich erst in einigen Jahren auszahlen, vielleicht in zehn.“ Am Ende, davon ist Otto überzeugt, werden die Leute aber sagen, dass es richtig war, Kassel-Calden neu zu bauen.

Zurück im Passagier-Terminal. Es ist plötzlich voll geworden. Vier Schalter sind geöffnet, in zwei Stunden soll Germania-Flug ST 8056 in Richtung Antalya abheben. Es ist der erste Linienflug in diesem Jahr, sogar das Fernsehen ist gekommen. Fünf Frauen vom Kasseler Kegelklub „Joggi“ haben gerade ihre Koffer abgegeben. Eine Woche werden sie in der Türkei bleiben, ihre Männer lassen sie daheim. Gisela Ananiadis fliegt das erste Mal in Kassel ab. „Klein und knuddelig“ findet sie den Flughafen, „man muss nicht lange suchen und verläuft sich nicht.“ Knapp zwei Stunden später hebt der Airbus ab.

Der nächste Flug geht in drei Tagen.

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