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Jetzt erst recht

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München – Der freundliche junge Mann hatte seinen Einkaufskorb kurz vor Weihnachten in ihrem Laden abgestellt. Eine rote Christstollendose lag schon drin, dazu eine Tüte Erdnussflips, der Mann wollte bei ihnen noch Whisky kaufen. Da merkte er, dass er seine Geldbörse nicht dabei hatte. Er wollte sie nur schnell holen und ließ den Korb mit der Christstollendose da. Aber er kam nicht wieder. Nicht vor Weihnachten, nicht nach Weihnachten.



Für Migranten ist die deutsche Sprache nicht die einzige Hürde.

Die Familie des Ladenbesitzers räumte den Korb nach hinten in ihren Aufenthaltsraum, damit er nicht störte. Und im Januar wollte die 19 Jahre alte Tochter nachsehen, was da eigentlich drin war, in dieser mit Sternen verzierten Dose. Sie sah eine blaue Campinggasflasche und dachte noch: Komisches Geschenk zu Weihnachten. An eine Bombe dachte sie nicht.

Es war eine Bombe, „ein Bömbchen“, wie die Täter vom NSU später in ihrem Bekennervideo zynisch lästerten. Sie schweißte der Schülerin am 19. Januar 2001 die Augen zusammen, zerstörte ihre Trommelfelle, zerschnitt ihr Gesicht, verbrannte die Haare, die Haut. Splitter bohrten sich in ihren Kiefer. Die Druckwelle nahm ihr den Atem, ihre Eltern schleppten sie nach draußen . Sie wachte erst sechs Wochen später wieder auf: aus dem Koma.

Das Mädchen von damals ist nun eine erwachsene Frau, 32 Jahre alt. An diesem Mittwoch, 13 Jahre später, sitzt sie als Zeugin im NSU-Prozess. Eine hochgewachsene Frau mit großen Augen und einer tiefen, rheinisch gefärbten Stimme. Allein, dass sie hier sitzt, ist erstaunlich. Aber wie sie hier sitzt, grenzt an ein Wunder.

Sie hat noch im Jahr des Anschlags ihr Abitur nachgemacht, hat erst Chemie und Physik studiert, dann Medizin. Heute ist sie Ärztin. Und möglicherweise erlaubt ihr dieser Beruf, so professionell, so distanziert darüber zu sprechen, wie sie überlebte. Vor ihr ist ein Polizist dran, der sie damals in einer Klinik für Brandverletzte besucht hat. Der Mann ist noch immer berührt. „Das Opfer war verbrannt, aufgedunsen, blutende Verletzungen im Gesicht, an den Unterarmen“, sagt er. Man hört ihn tief atmen. „Es sah aus wie ein Stück Grillfleisch, ein Bild des Grauens, es gibt keine passenden Worte. Ich habe in meiner Laufbahn als Polizist wirklich viel Blut, viele Leichen, viel Elend gesehen, aber dieses Opfer war für mich an der Spitzenposition.“

Dann kommt die junge Frau und das Wort Opfer verbietet sie sich sofort. Hier sitzt eine, die nicht bemitleidet werden will. Sie will auch nicht, dass man ihren Namen nennt. Sie will nicht darauf reduziert werden, Opfer zu sein, hat sie vor Monaten der Süddeutschen Zeitung erzählt. Und das macht sie auch vor Gericht deutlich. Sie ist in Köln aufgewachsen, sie kam als ganz kleines Mädchen mit ihren Eltern aus Iran. Die Eltern hatten das Lebensmittelgeschäft, sie legten Wert auf Bildung.

Die Abiturientin ist dann schrittweise aus dem Koma aufgeweckt worden, ihre Eltern lasen ihr die Briefe von Freunden und Klassenkameraden vor. Aber sie hielten alle Spiegel vor ihr versteckt. Als sie das erste Mal wieder allein auf die Toilette gehen konnte, blickte sie sich im Badspiegel an. „Ich bin erschrocken“, sagt sie. „Ich hatte keine Haare mehr, alles war blau, grün, verbrannt, Schnittwunden im Gesicht.“ Sie war 19, eine junge Frau, die schön sein wollte.

Viermal wurden allein ihre Trommelfelle operiert, das Schwarzpulver hatte sich in schwarzen Flecken in ihr Gesicht gebrannt. Man nennt das Schmutztätowierungen; 20, 30 Sitzungen hatte sie allein, um diese Tätowierungen durch einen Laser zu reduzieren. „Man sieht sie immer noch“, sagt sie. „Wenn ich abgeschminkt bin.“ Dazu die Narbenkorrekturen mit Zitronensäure. „Die können nicht entfernt werden“, sagt sie. „Damit muss ich leben. Damit kann ich leben. Das habe ich integriert in mein Leben.“ Am meisten belasten sie diese Verletzungen im Gesicht. „Dann wird man gefragt, was ist mit dir passiert und dann steht man da und weiß nicht, was man darauf antworten soll.“ Sie sagt das ohne eine Spur von Klage.

Die Polizei hatte ihr gesagt, man könne einen rechtsradikalen Täter sicher ausschließen, sie sei wohl ein Zufallsopfer gewesen. Da schloss sie ab mit der Bombe, schaute nach vorne. Bis sie eines Abends im November 2011 vom Dienst nach Hause kam und in einem Fernsehbeitrag das Bekennervideo des NSU sah – mit dem Laden ihrer Eltern und dem „Bömbchen“, das man dort gelegt habe. „Da stand ich unter Schock, damit hatte keiner gerechnet“, sagt die Frau. Alles war nun wieder da. Als die Garage offen stand, sah sie nach, ob nicht jemand unter ihrem Auto eine Bombe versteckt hat. „Gibt es noch Helfer, die noch frei herumlaufen und morgen bei uns vor der Tür stehen?“, fragt sie in den Saal. „Keiner wird uns das garantieren können.“

Als die Familie merkte, dass der NSU sie aus dem Land treiben wollte und dass zu den Rechtsextremisten auch eine Frau gehören sollte, da erinnerte sich die Mutter der Familie an jene Frau, die ein paar Wochen vor dem Anschlag dringend darum bat, in dem kleinen Lebensmittelladen in Köln auf die Toilette gehen zu dürfen. Und die Mutter sagt nun, diese Frau habe Ähnlichkeit mit Beate Zschäpe, von der Statur her, von den Haaren her.

Und ein Nachbar habe berichtet, er habe diesen Mann, der damals den Korb abgestellt hat im Laden, später noch einmal gesehen, wie er erneut in das Geschäft ging, vielleicht um nachzuschauen, warum die Bombe nicht explodiert sei.

Dann gibt die Zeugin ein einziges Mal Einblick in ihre Seele. „Zu wissen, dass es Menschen gibt, die dich nur wegen deiner Herkunft attackieren“, sagt sie und schüttelt den Kopf. „Wir sind ja alle hier aufgewachsen, haben akademische Abschlüsse. Und dann geht es nur darum, dass die Leute die deutsche Nation erhalten wollen.“ Dies hatte der NSU in seinem Bekennervideo getextet. Die Zeugin schaut Beate Zschäpe auf der Anklagebank nun direkt an. „Das ist traurig, für mich, meine Familie, schade.“
Sie wird gefragt, ob sie nach dem Auffliegen des NSU daran gedacht habe, Deutschland zu verlassen. „Als das Video veröffentlicht wurde, war mein erster Gedanke: Was soll ich noch hier? Ich bin doch ein Muster an Integration, Abitur, Studium“, sagt sie. „Und dann dachte ich: Das ist die Absicht dieser Leute gewesen. Nee, ich hab mir das hier aufgebaut, jetzt erst recht! So leicht ist es nicht, mich aus Deutschland rauszujagen.“

Der Gerichtssaal ist erfüllt von Beifall.

Der Tatort: Am 19. Januar 2001 explodierte in dem Lebensmittelgeschäft in Köln die Bombe, die der NSU dort zurückgelassen hatte.

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