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Unterwegs in Richtung Schicksal

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In der ersten Einstellung schwenkt die Kamera über eine riesige, nächtlich erleuchtete Baugrube. Ein Arbeiter in Helm, Schutzweste und Gummistiefeln verlässt die Baustelle, steigt in einen Geländewagen und fährt los. An der ersten Ampel blinkt er links, scheint dann aber in eine kurze Agonie zu verfallen. Er reagiert nicht, als es grün wird, hinter ihm hupt zweimal drohend ein Lastwagen, schließlich setzt er den Blinker rechts und biegt ab.



"No Turning Back" zeigt 85 Minuten Autofahrt. Star des Films neben Tom Hardy: Die Freisprechanlage.

Erst nach und nach begreift man, wie groß die Entscheidung war, die da gefallen ist. Ein Mann hat seine Wahl getroffen, für die einzige Möglichkeit, mit der er leben kann. Und wird dabei doch sein Glück, seinen Ruf und seine Existenz aufs Spiel setzen. Die nächsten anderthalb Stunden werden die Hölle für ihn, aber er wird nicht umkehren. Die Filmgeschichte ist voll von Männern, die vor irgendetwas davonfahren – dieser hier ist in die Gegenrichtung unterwegs.

Ähnlich entschlossen ist auch Steven Knight, der Autor und Regisseur. Er wird bei diesem Mann bleiben, der nun über die Autobahn von Birmingham nach London fährt und dafür exakt die anderthalb Stunden braucht, die der Film dauert. Im Wesentlichen wird man sein Gesicht sehen, ein wenig Straßenverkehr, nächtliche Lichter. Andere Menschen aber kommen nur als Stimmen am Telefon vor. Mehr ist da nicht. Es wird keinen Unfall geben und keine Explosionen, keinen Terroranschlag und keine Staatskrise, keine Aliens und keine Superhelden. Nur diesen einen Mann und seine Verantwortung. Für seinen Job, seine Familie – und für den Fehler, den er begangen hat. Und doch ist „No Turning Back – Locke“ schicksalhaft spannend, fast wie ein antikes Drama.

Denn kaum ist der BMW auf der Autobahn, kommt die Freisprechanlage zum Einsatz. Sie wird ein echter Star dieses Films. Ivan Locke, so heißt der Mann, telefoniert nun fast ununterbrochen, während das Ausmaß seines Dilemmas erkennbar wird. Schnell ist klar, dass er auf dem Weg zu einer Geburt ist, und das Kind ist seins. Aber offenbar kennt er die Mutter kaum, sie ist auch fast schon zu alt, um Kinder zu haben, dazu eine sehr fragile, furchtsame Person. Nach einem verunglückten One-Night-Stand sieht sie in dieser Schwangerschaft ihre letzte Chance. Ivan Locke aber ist Familienvater, er liebt seine Frau und seine beiden Söhne, und man glaubt ihm, wenn er beteuert, dass dies in all den Jahren sein einziger Fehltritt war.
Was nun die Albträume von Familienvätern betrifft, ist das in der Tat so ziemlich der Super-GAU: Auf stillere Weise fast so peinigend wie die Kaninchen meuchelnde Glenn Close in „Fatal Attraction“, die den Machos der Achtzigerjahre den Schreck ihres Lebens beschert hat. Nur dass hier, das macht die Sache noch quälender, nicht einmal wirkliche Attraktion im Spiel war.

Ivan Locke hat nun beschlossen, dieser Frau keine Lügen von Liebe und Zuneigung zu erzählen, aber trotzdem für das Kind da zu sein, auch bei der Geburt. Weil er ein anständiger Mensch sein möchte. Und weil er nicht wie sein eigener Vater werden will, den er als Kind und Jugendlicher nicht kannte – und dafür immer gehasst hat. Wie hoch der Preis für Anständigkeit sein kann, das begreifen er und alle anderen, die in seinem Leben eine Rolle spielen, allerdings erst in dieser Nacht.

Denn wie es der Teufel will, fallen die Wehen – zwei Monate zu früh – exakt mit dem bisher wichtigsten Job seiner Karriere zusammen. Er ist Bauleiter auf Englands größter Baustelle, am nächsten Morgen um fünf Uhr fünfundvierzig werden Transporter aus allen Teilen des Landes anrollen, um 355 Tonnen Frischbeton in die Grundfesten seines Wolkenkratzers zu pumpen – bei solchen Zahlen ist Locke exakt.

Weil er aber seine Entscheidung getroffen hat, wird er in diesem Moment, in dem tausend Dinge schiefgehen können, nicht dabei sein. Eine Ansage, auf die sein Assistent und sein Chef erst ungläubig und fassungslos reagieren, schließlich mit nackter Panik. Erkennbar gibt es nur einen Menschen im ganzen britischen Königreich, der die Verantwortung des morgigen Tages tragen kann, und der fährt gerade in die falsche Richtung.

Wie er nun gefeuert wird und beschließt, seinen Assistenten am Telefon trotzdem durch die nötigen Vorbereitungen zu lotsen, während immer neue Probleme auftauchen; wie seine Frau auf die Enthüllung reagiert, dass er sie betrogen hat und noch einmal Vater wird; wie seine Söhne ihn bitten, heimzukommen; und wie die Fremde, die sein Kind gebären wird, am Telefon zunehmend jede Fassung verliert – das ist schon die ganze Handlung des Films. Aber sie erzeugt trotzdem mehr Druck, als ein einzelner Mensch innerhalb von anderthalb Stunden ertragen kann.

Ivan Locke jedoch starrt in den Abgrund, der sich da vor ihm auftut, und bleibt ruhig – getrieben von einem unerschütterlichen Glauben daran, dass man selbst die Apokalypse durchstehen kann, wenn man nur die Nerven nicht verliert. Man versteht, warum er der beste Bauleiter Englands geworden ist, und begreift den Film immer mehr als eine Art Titanenkampf: Hat das Schicksal, in all seiner Willkür und Bösartigkeit, hier endlich einmal einen würdigen Gegner gefunden?

Jedenfalls würde man nicht darauf wetten, dass dieser Mann zerbrechen wird – und das liegt zuallererst an Tom Hardy. Man kennt ihn als Muskelschurken Bane aus „The Dark Knight Rises“, nächstes Jahr wird er Mel Gibson als „Mad Max“ beerben. Einer dieser britischen Alphamänner, etwa in der Tradition Richard Burtons. Allerdings setzt Hardy seine Mittel sparsam ein, arbeitet vor allem mit der Stimme, der man stundenlang zuhören könnte. Diese Performance lässt wenig Zweifel daran, dass er zu den Großen seiner Generation gehören wird.

Die Frage schließlich, ob ein Film im Innenraum eines BMW-Geländewagens entstehen kann und trotzdem die Kraft hat, das ganze Leben zu umfassen, muss man nach „No Turning Back“ mit einem klaren Ja beantworten. Steven Knight, der als Autor für Stephen Frears und David Cronenberg bekannt wurde, hat seine Geschichte brillant geschrieben und inszeniert, und er beweist einmal mehr, wie sehr die Suggestionskraft des Kinos gerade dann wächst, wenn sie sich die härtesten Beschränkungen auferlegt.

Locke, GB 2013 – Regie und Buch: Steven Knight. Kamera: Haris Zambarloukos. Schnitt: Justine Wright. Musik: Dickon Hinchliffe. Mit Tom Hardy, Ruth Wilson, Andrew Scott. Studiocanal, 85 Minuten.

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