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Der Gott im Netz

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Cybermobbing, Shitstorm, Handeln ohne Konsequenzen: Gelten Menschen-und Bürgerrechte auch im Internet?

Es muss nicht immer tödlich enden, kann aber. Vor kurzem schockierte eine 15-jährige Kanadierin die Youtube-Welt, als sie auf dem Internet-Filmchenportal ihren Selbstmord ankündigte, den sie später vollzog. Cybermobbing, also massenhafte Verunglimpfung im Netz, hatte sie in den Tod getrieben. Wer genau wie viel dazu beigetragen hatte, wird sich kaum ermitteln lassen. Das sei nur einer dieser traurigen Einzelfälle, könnte man sagen und liegt damit nicht vollkommen falsch. Dennoch illustrieren solche Ereignisse eine Entwicklung, die von der Anonymität und Atomisierung der digitalen Welt befeuert wird und den Kern westlicher Werte berührt: die Unantastbarkeit der Würde des Menschen und die Verantwortung eines jeden Einzelnen dafür, die Würde seiner Mitmenschen zu respektieren.

'Gelten Menschen-und Bürgerrechte im Internet?', fragte denn auch Nordrhein-Westfalens ehemaliger Ministerpräsident Jürgen Rüttgers am Wochenende auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft an der Universität Hildesheim, die sich das Internet als 'Bereicherung oder Stressfaktor für die Demokratie?' zum Thema gemacht hatte. Erschreckend schlicht klingt diese Frage, und erschreckend schwer ist sie zu beantworten. Denn tatsächlich können die Möglichkeiten des Netzes Prinzipien von Demokratie und Rechtsstaat aushebeln.



Ein Kommentar auf der Internetseite "iShareGossip". Respekt sieht anders aus.

Wer das Netz als eine Art Befreiungstechnologie betrachtet, wird das bezweifeln. Eröffnen die digitalen Wege nicht unzählige Möglichkeiten, Bürgerrechte und insbesondere Beteiligung zu viel geringeren Kosten auszuüben als je zuvor? Ist das Netz nicht gerade ein Ich-Medium, das die Stimme des Einzelnen stärkt, ihn seine Meinung wann immer er mag in die Welt blasen lässt, seine Gedanken und Bilder verbreitet, ihn mit etwas Glück ohne Manager zur Prominenz verhilft, und sei es als Depp in einem tausendfach geklickten Video? Schließlich kann ein unzufriedener Kunde über eine Twitter-Botschaft einen jener Shitstorms auslösen, die Top-Manager in Konzernen tagelang beschäftigen. Das ist das einerseits.

Das andererseits aber wiegt schwer. Denn das Internet begünstigt zwar das Handeln, befreit aber die Handelnden von den Konsequenzen, wenn sie in der Masse untergehen oder Ursache und Wirkung wegen Tausender dazwischen liegender Klicks nicht mehr zusammenhängen. Gerade hat ein BGH-Urteil Eltern weitgehend von der Haftung befreit, wenn ihre Kinder ohne ihr Wissen illegal Daten herunterladen. Und es gibt noch unzählige Beispiele: Wer zahlt für die Folgen versehentlich einberufener Facebook-Partys? Wer erstattet den Schaden, wenn Unternehmen Opfer einer unberechtigten (vielleicht vom Konkurrenten lancierten?) Kampagne werden? Wer therapiert den, der - wie in Emden geschehen - in falschen Mordverdacht gerät? Im Netz regiert der Schwarm, und mit ihm nicht nur Schwarmintelligenz, sondern auch 'Schwarmdummheit und Schwarmfeigheit', wie es der Politikprofessor Karl-Rudolf Korte von der Universität Duisburg-Essen auf der Tagung formulierte. Die Folgen ausbaden müssen andere. Das Netz stellt damit das Rechtssystem infrage, das auf dem Konzept des bewusst handelnden Individuums basiert. Es ist, wenn man so will, post Verantwortung.

So wie der Einzelne in der digitalen Welt in vielen Fällen nicht haftet, so profitiert er aber auch nicht mehr. Die Gegner des Urheberrechts zum Beispiel erkennen ihn nicht mehr als Schöpfer von Ideen an. Der Jura-Professor Michael Hassemer (Universität Kaiserslautern) sieht darin einen Paradigmenwechsel. Der Beginn der säkularen Gesellschaft sei dadurch markiert gewesen, dass der einzelne Bürger Schöpfer eines Werkes sein konnte, was zuvor nur Gott vorbehalten war. Nun werde ihm diese Souveränität abgesprochen. 'Die Krise des Urheberrechts ist eine Krise des Subjekts, sagte Hassemer in Hildesheim und fragte: 'Sitzt der nächste Gott im Netz?' Übersetzt bedeutet dies: Kann der Mensch in der digitalen Welt noch selbst bestimmen, oder ist er der Macht des Schwarms unterworfen - oder der Macht von wirtschaftlichen Interessen, die ihn als Summe seiner Daten nach ihren Vorlieben beeinflussen?

Riskant für die Demokratie ist, dass bei Beteiligungsprozessen über das Netz das Grundprinzip 'one person, one vote' seine Geltung verliert. Was nach den Stimmen der Vielen aussieht, kann sich als ein lauter Chor der ganz Wenigen erweisen. Politiker überrascht es immer wieder, dass bei Bürgerentscheiden oder Wahlen, in denen jede Stimme das gleiche Gewicht hat, die wirkliche Mehrheit weit weg von der gefühlten Mehrheit liegt.

Dies könnte man als Korrektiv betrachten, doch Meinungsbildung ist nicht statisch. Menschen lassen sich durch eine über das Netz suggerierte Mehrheit beeinflussen. Dies gilt beim Einkaufen genauso wie in der Politik. Unternehmen kaufen deshalb Fans dazu oder erfinden sie. So sind laut einer an der Universität Mailand veröffentlichten Untersuchung zum Teil nur die Hälfte der Follower eines Unternehmens Menschen aus Fleisch und Blut. Und auch Regierungen werden immer versierter darin, Meinung zu beeinflussen. Die Twitter-Schlacht im jüngsten Nahost-Konflikt ist ein Beispiel dafür. Information Operations, also das bewusste Manipulieren von partizipativen Instrumenten im eigenen politischen Sinne, nehme rasant zu berichtete Sandro Gayken, der im Planungsstab des Auswärtigen Amtes die IT-Außenpolitik Deutschlands mitprägt. Die USA zum Beispiel, die dies daheim nicht dürften, seien diesbezüglich vor allem in Asien und Russland extrem aktiv.

Über das Internet bildet sich zudem eine neue Klassengesellschaft heraus. Netzaffine, gebildete, mit reichlich Zeit ausgestattete Bürger beeinflussen die Meinung im Internet weit überproportional. An der öffentlichen Haushaltspolitik in Hildesheim zum Beispiel hätten sich über das Netz und Bürgerversammlungen nur 0,2 Prozent der Wahlberechtigten beteiligt, berichtete Professorin Marianne Kneuer, die den Forschungsschwerpunkt Politik und Internet an der dortigen Universität leitet. Wer arm ist, ungebildet, zu alt oder zu beschäftigt mit den Dingen des Lebens kommt in der digitalen Welt nicht vor. Diese Welt ist zudem eine vorwiegend männliche, weil das Medium nicht nur dem Technikinteresse sondern auch einer Art Geltungsdrang entgegenkommt, die bei Männern besonders verbreitet ist. Die Piraten sind ein Abbild davon. Die Techno-Elite baut also die Wege, auf denen die Hüter der Grundrechte hetzen, um den Schutz der Bürger wiederherzustellen.

Neben den Prinzipien Verantwortung und Repräsentation hebelt die digitale Welt auch Kontrollinstanzen aus. 'Kill the middleman' lautet die von vielen jungen Leuten zunächst einmal als froh erachtete Botschaft. Warum Händler bezahlen, wenn ich mein Produkt billiger direkt vom Hersteller beziehen kann? Wozu Massenmedien, wenn sich Sender und Empfänger direkt im digitalen Raum begegnen können? Warum einen Abgeordneten entscheiden lassen, wenn man über das direkt mit der Regierung kommunizieren kann? Aber Achtung: Der Händler selektiert und kontrolliert die Qualität. Das schützt vor teuren Fehlentscheidungen. Sind Sender und Empfänger stets ohne Vermittler einander ausgeliefert, wird der Empfänger von der Flut der Informationen erdrückt und duckt sich weg. 'Durch das Internet findet eine Entpolitisierung statt', sagte Prof. Barbara Zehnpfennig von der Universität Passau, die mit der Zunahme der Transparenz die Demokratie schwinden sieht. Denn vollkommene Transparenz und Zeitdruck zerstören Schutzräume, in denen Demokratie erst gedeihen kann: Diskretion und Diplomatie, die Zeit zum Reifen von Überzeugungen, der öffentliche, von Medien gebündelte Diskurs.

Demokratie braucht außerdem Dezentralität. Die Euro-Krise führt die Akteure täglich an die Grenzen dessen, was grenzüberschreitend erforderlich und dennoch demokratisch legitimiert ist. Die digitale Welt ist dabei vergleichbar mit der Finanzwelt. Geld- und Datenströme fließen global, Akteure sind global agierende Finanz- und IT-Konzerne. Die Kontrolle dagegen ist weitgehend national organisiert. Regelverletzungen lassen sich nur mit großer Mühe beider Seiten in den Griff bekommen. Wobei die Freiheit des weltweiten Internets noch eine Glaubensfrage ist, die Freiheit der weltweiten Finanzmärkte schon länger nicht mehr.

Autoritäre Regime begegnen dieser Glaubensfrage auf eigene Weise. Sie glauben daran, dass sich ihre Macht mithilfe des Netzes hervorragend stabilisieren lässt, indem sie Bürgern die Illusion von Freiheit verschaffen und sie gleichzeitig kontrollieren. In China zum Beispiel nutzt ein verschwindend geringer Teil der Menschen das Netz zum politischen Diskurs, die anderen vergnügen sich damit und informieren sich über Regierungsangebote. China habe sehr genau im Westen beobachtet, welche Probleme man sich mit dem Internet einhandeln könne und steuere kräftig dagegen, berichtete die Sinologin und Politikwissenschaftlerin Nele Noesselt vom GIGA Institute of Asien Studies in Hamburg. Bei einem großen Teil der in China verbreiteten Netznachrichten, der Microblogs, sei der Staat der Absender.

Dennoch wäre es verfehlt, den großen Netzpessimismus auszurufen. Das Internet ist da, und es kann ein Segen sein. Nur gilt es, die Demokratie für das Netz auszurüsten. Wie auf der Straße Verkehrsregeln gelten, müssen solche Regeln auch für die Datenstraßen erarbeitet angepasst und durchgesetzt werden. Zu lange haben die demokratischen und meinungsbildenden Institutionen so getan, als sei das Internet lediglich ein Kanal mehr zum Bestellen von Büchern und Versenden von Post. Dabei prägt das Netz alles: vom Handel über das Liebesleben bis hin zum Krieg. Es wird Zeit, wieder über Demokratie zu reden. Deren Institutionen müssen sich den digitalen Raum zurückerobern.

Dabei gibt es viele Chancen. Die Generationen können über das Netz wieder miteinander ins Gespräch kommen, Bildung ist der Schlüssel zum richtigen Umgang mit der digitalen Welt. Aber Bildung in Zeiten des rasanten Wandels kann keine Einbahnstraße sein. So wie die Älteren den Jüngeren die Prinzipien der Demokratie, der Menschenrechte vermitteln müssen, können die Jungen die Alten aufklären: über die Freude am direkten Einfluss, die Kontrolle unerreichbar geglaubter Konzerne. Das ist interaktives Lernen im wahren Sinne.

Mit etwas Mühe lassen sich über das Internet auch jene erreichen, die sich vom politischen Prozess abgekoppelt haben. Junge Leute können zum Beispiel über Facebook zum Wählen animiert werden, wenn der Gruppendruck steigt und das nächstgelegene Wahllokal prominent auf dem Bildschirm erscheint. Ein entsprechendes Experiment bei den US-Wahlen wird gerade ausgewertet. Auch eröffnen digitale Instrumente Menschen Möglichkeiten zur Beteiligung, die das abendliche Treffen des Partei-Ortsverbands nicht in ihren Alltag einbauen können. Gerade Mütter, Väter oder stark beruflich eingespannte Bürger können so in Schaffenspausen ihre Verantwortung wahrnehmen. Das Internet kann die Demokratie stärken, aber dazu braucht es offline Verstärker und Regeln. 'Niemand ist frei von Verantwortung', sagte Bundespräsident Joachim Gauck in der vergangenen Woche auf dem SZ-Führungstreffen Wirtschaft. Das gilt auch im Netz.

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