Es ist nicht schwer, einen Sarg zu zimmern. Unten eine Platte, an den Seiten irgendeine Art von Wand und obendrauf einen Deckel. Auch ein handwerklich ungeschickter Mensch kann das. Oder ein Kind. In den Flüchtlingslagern entlang der syrischen Grenze zimmern sich Kinder einen Sarg, legen sich hinein und tragen einander zu Grabe. Sie spielen Beerdigung.
Syrische Flüchtlingskinder vor ihren Zelten in einem Camp an der syrisch-türkischen Grenze.
Ein syrischer Journalist hatte solche Szenen beobachtet und Tilman Rascher davon erzählt. Rascher arbeitet bei der Deutschen Welle Akademie, die sich in Krisen- oder Schwellenländern für die Entwicklung freier Medien einsetzt. Bei der Akademie ist er für Nah- und Mittelost verantwortlich. Er kennt die Situation an der syrischen Grenze, aber die Geschichte mit dem Sarg fand er ungeheuerlich. Und er fand eine Antwort darauf. Raschers Therapieangebot ist das Fernsehen.
In reichen Ländern verfolgt Kinderfernsehen vor allem zwei Ziele. Entweder soll es seinen Zuschauern möglichst früh möglichst viel Wissen vermitteln; sei es, wie man mit einem Flaschenzug selbst gebackene Törtchen ins Baumhaus hochzieht oder wie Kinder in Indien morgens zur Schule kommen. Und das Ganze am liebsten auch noch auf Englisch. Oder es ist im anderen Extrem nicht viel mehr als ein Bespaßungprogramm zwischen Werbeblöcken. Die Kinder, für die Yalla Nehna gemacht ist, haben aber keine Baumhäuser, viele haben gar keine Wohnung. Man sollte meinen, eine eigene Fernsehsendung wäre das Letzte, was diese Kinder brauchen.
Yalla Nehna, das ist arabisch für „Lasst uns loslegen“. Es sieht aus wie ein Format, das auch im deutschen Fernsehen laufen könnte: Faisal und seine Freunde üben Breakdance; Ali will Fußballer werden. Und das Mädchen Shaima kümmert sich nach der Schule um den Haushalt, weil ihre Mutter arbeitet. Zwischen den Einspielfilmen springen aufgedrehte Moderatoren durch ein buntes Studio. Sie machen Witzchen und erklären wissenschaftliche Experimente. Man sieht nicht, dass Yalla Nehna für besondere Kinder gemacht ist, weil es nicht besonders aussieht. Aber gerade das Normale daran ist das Besondere.
2,8 Millionen Syrer haben wegen des Bürgerkriegs ihre Heimat verlassen, mehr als 6,5 Millionen Menschen leben als Vertriebene im eigenen Land. Das Kinderhilfswerk Unicef der Vereinten Nationen schätzt, dass Kinder und Jugendliche mehr als die Hälfte der Flüchtlinge ausmachen. Das Fernsehen ist eine wichtige Informationsquelle, das Programm ist voll von Nachrichten aus den Krisengebieten. Auch in den Flüchtlingscamps schauten die Menschen fern, sagt Rascher. Manche besorgten sich irgendwoher einen eigenen Fernseher, oder es gibt zentrale Treffpunkte, an denen ein Gerät steht.
Auch die Kinder sitzen vor dem Fernseher. Sie sehen Bilder, die selbst für Erwachsene kaum zu ertragen sind. Wenn sie selbst bislang im Programm auftauchten, dann meistens als Opfer. Yalla Nehna hat das geändert. Dafür bekam das Team im Juni beim wichtigen Kinderfernsehfestival Prix Jeunesse in München einen Sonderpreis. Das Programm sei „besser als alles, was es momentan im arabischen Kinderfernsehen gibt“, befand die Jury.
„Elend haben diese Kinder schon genug gesehen“, sagt Tilman Rascher. Yalla Nehna ist die Insel in diesem Elend. Es gibt dort keine Kriegsbilder, keine Gewalt. Die Protagonisten sind wie ihre Zuschauer: syrische Kinder, viele von ihnen selbst geflohen. Faisal lebt mit seinen Freunden in Beirut, Shaima in der Türkei. Man ahnt, dass sie nicht nur schöne Erinnerungen an die vergangenen Jahre haben. In den Beiträgen spielt das aber keine Rolle. „Die Zuschauer sollen den Krieg vergessen können und wenigstens für einen Moment wieder Kind sein“, sagt Rascher.
Das Auswärtige Amt sagte die Finanzierung der Pilotsendung zu, spendierte Kameras und Schnittcomputer. Ein Studio wurde gebaut, Moderatoren wurden gecastet und ausgebildet. Der WDR half mit Erklärstücken aus dem eigenen Programm: Warum beißen Moskitos? Und welche Form hat eigentlich ein Regentropfen?
Anfangs hatte die Redaktion keine Leute vor Ort, die künftigen Videojournalisten mussten erst ausgebildet werden. Rascher und seine Mitarbeiter kannten aus einem früheren Projekt der Akademie einige Syrer, die sich für Journalismus interessierten. Professionell gearbeitet hatten die aber noch nie. In Schulungen in der Türkei sollten aus diesen Bürgern Journalisten werden. Journalisten für Kinderfernsehen, um genau zu sein. Yalla Nehna soll ja keine Sendung über, sondern vor allem eine für Kinder sein. Dazu gehört zum Beispiel, dass man die Kinder nicht von oben filmt, aus der Perspektive eines Erwachsenen. Sondern auf Augenhöhe. Die Kinder sollen selbst zu Wort kommen. Ein Kind vor der Kamera zum Reden bringen, auch das kann nicht jeder automatisch.
Nach nur dreieinhalb Monaten Vorbereitungszeit ging Yalla Nehna auf Sendung. Heute läuft das halbstündige Magazin zweimal pro Woche bei Orient TV. Der Sender produziert das Format mittlerweile in Eigenregie und auf eigene Kosten. Per Satellit ist Orient TV im gesamten arabischen Raum empfangbar. Außerdem sind die Folgen im Netz verfügbar.
Orient TV ist ein gemäßigter syrischer Oppositionskanal, der Großteil des Programms besteht aus Kriegsberichterstattung. Er sendet heute aus Dubai. Dort hat auch die Redaktion von Yalla Nehna ihren Sitz. Die Videojournalisten liefern ihre Beiträge aus der Ferne zu. Orient TV berichte zwar nicht unbedingt objektiv, so Rascher. Aber immerhin beziehe der Kanal nicht für eine bestimmte Gruppierung Position.
Einige Yalla Nehna-Reporter leben nach wie vor in Syrien und suchen sich dort ihre Geschichten. Nur positive, natürlich. Einfach ist das nicht: Schon während der Ausbildung hingen die neuen Reporter gelegentlich an irgendeinem Checkpoint fest und verpassten ihre Schulungen in der Türkei. Manchmal erfuhr ein Journalist während des Trainings vom Tod des Bruders oder des Vaters. Misstrauisch beäugt werden die Reporter nicht nur von Assads Leute, sondern von den Fundamentalisten unter den Oppositionellen. Das Material schafft es per Datenübermittlung über die Grenze, wenn nicht die Telefonverbindung wieder abbricht.
Als die Pilotfolge fertig war, fuhr das Team in ein Camp in die Türkei, um das Programm zum ersten Mal den Kindern zu zeigen. „Der Strom fiel immer wieder aus, nichts funktionierte. Aber alle haben konzentriert zugeschaut“, erinnert sich Rascher. „Das war das Beste.“
Syrische Flüchtlingskinder vor ihren Zelten in einem Camp an der syrisch-türkischen Grenze.
Ein syrischer Journalist hatte solche Szenen beobachtet und Tilman Rascher davon erzählt. Rascher arbeitet bei der Deutschen Welle Akademie, die sich in Krisen- oder Schwellenländern für die Entwicklung freier Medien einsetzt. Bei der Akademie ist er für Nah- und Mittelost verantwortlich. Er kennt die Situation an der syrischen Grenze, aber die Geschichte mit dem Sarg fand er ungeheuerlich. Und er fand eine Antwort darauf. Raschers Therapieangebot ist das Fernsehen.
In reichen Ländern verfolgt Kinderfernsehen vor allem zwei Ziele. Entweder soll es seinen Zuschauern möglichst früh möglichst viel Wissen vermitteln; sei es, wie man mit einem Flaschenzug selbst gebackene Törtchen ins Baumhaus hochzieht oder wie Kinder in Indien morgens zur Schule kommen. Und das Ganze am liebsten auch noch auf Englisch. Oder es ist im anderen Extrem nicht viel mehr als ein Bespaßungprogramm zwischen Werbeblöcken. Die Kinder, für die Yalla Nehna gemacht ist, haben aber keine Baumhäuser, viele haben gar keine Wohnung. Man sollte meinen, eine eigene Fernsehsendung wäre das Letzte, was diese Kinder brauchen.
Yalla Nehna, das ist arabisch für „Lasst uns loslegen“. Es sieht aus wie ein Format, das auch im deutschen Fernsehen laufen könnte: Faisal und seine Freunde üben Breakdance; Ali will Fußballer werden. Und das Mädchen Shaima kümmert sich nach der Schule um den Haushalt, weil ihre Mutter arbeitet. Zwischen den Einspielfilmen springen aufgedrehte Moderatoren durch ein buntes Studio. Sie machen Witzchen und erklären wissenschaftliche Experimente. Man sieht nicht, dass Yalla Nehna für besondere Kinder gemacht ist, weil es nicht besonders aussieht. Aber gerade das Normale daran ist das Besondere.
2,8 Millionen Syrer haben wegen des Bürgerkriegs ihre Heimat verlassen, mehr als 6,5 Millionen Menschen leben als Vertriebene im eigenen Land. Das Kinderhilfswerk Unicef der Vereinten Nationen schätzt, dass Kinder und Jugendliche mehr als die Hälfte der Flüchtlinge ausmachen. Das Fernsehen ist eine wichtige Informationsquelle, das Programm ist voll von Nachrichten aus den Krisengebieten. Auch in den Flüchtlingscamps schauten die Menschen fern, sagt Rascher. Manche besorgten sich irgendwoher einen eigenen Fernseher, oder es gibt zentrale Treffpunkte, an denen ein Gerät steht.
Auch die Kinder sitzen vor dem Fernseher. Sie sehen Bilder, die selbst für Erwachsene kaum zu ertragen sind. Wenn sie selbst bislang im Programm auftauchten, dann meistens als Opfer. Yalla Nehna hat das geändert. Dafür bekam das Team im Juni beim wichtigen Kinderfernsehfestival Prix Jeunesse in München einen Sonderpreis. Das Programm sei „besser als alles, was es momentan im arabischen Kinderfernsehen gibt“, befand die Jury.
„Elend haben diese Kinder schon genug gesehen“, sagt Tilman Rascher. Yalla Nehna ist die Insel in diesem Elend. Es gibt dort keine Kriegsbilder, keine Gewalt. Die Protagonisten sind wie ihre Zuschauer: syrische Kinder, viele von ihnen selbst geflohen. Faisal lebt mit seinen Freunden in Beirut, Shaima in der Türkei. Man ahnt, dass sie nicht nur schöne Erinnerungen an die vergangenen Jahre haben. In den Beiträgen spielt das aber keine Rolle. „Die Zuschauer sollen den Krieg vergessen können und wenigstens für einen Moment wieder Kind sein“, sagt Rascher.
Das Auswärtige Amt sagte die Finanzierung der Pilotsendung zu, spendierte Kameras und Schnittcomputer. Ein Studio wurde gebaut, Moderatoren wurden gecastet und ausgebildet. Der WDR half mit Erklärstücken aus dem eigenen Programm: Warum beißen Moskitos? Und welche Form hat eigentlich ein Regentropfen?
Anfangs hatte die Redaktion keine Leute vor Ort, die künftigen Videojournalisten mussten erst ausgebildet werden. Rascher und seine Mitarbeiter kannten aus einem früheren Projekt der Akademie einige Syrer, die sich für Journalismus interessierten. Professionell gearbeitet hatten die aber noch nie. In Schulungen in der Türkei sollten aus diesen Bürgern Journalisten werden. Journalisten für Kinderfernsehen, um genau zu sein. Yalla Nehna soll ja keine Sendung über, sondern vor allem eine für Kinder sein. Dazu gehört zum Beispiel, dass man die Kinder nicht von oben filmt, aus der Perspektive eines Erwachsenen. Sondern auf Augenhöhe. Die Kinder sollen selbst zu Wort kommen. Ein Kind vor der Kamera zum Reden bringen, auch das kann nicht jeder automatisch.
Nach nur dreieinhalb Monaten Vorbereitungszeit ging Yalla Nehna auf Sendung. Heute läuft das halbstündige Magazin zweimal pro Woche bei Orient TV. Der Sender produziert das Format mittlerweile in Eigenregie und auf eigene Kosten. Per Satellit ist Orient TV im gesamten arabischen Raum empfangbar. Außerdem sind die Folgen im Netz verfügbar.
Orient TV ist ein gemäßigter syrischer Oppositionskanal, der Großteil des Programms besteht aus Kriegsberichterstattung. Er sendet heute aus Dubai. Dort hat auch die Redaktion von Yalla Nehna ihren Sitz. Die Videojournalisten liefern ihre Beiträge aus der Ferne zu. Orient TV berichte zwar nicht unbedingt objektiv, so Rascher. Aber immerhin beziehe der Kanal nicht für eine bestimmte Gruppierung Position.
Einige Yalla Nehna-Reporter leben nach wie vor in Syrien und suchen sich dort ihre Geschichten. Nur positive, natürlich. Einfach ist das nicht: Schon während der Ausbildung hingen die neuen Reporter gelegentlich an irgendeinem Checkpoint fest und verpassten ihre Schulungen in der Türkei. Manchmal erfuhr ein Journalist während des Trainings vom Tod des Bruders oder des Vaters. Misstrauisch beäugt werden die Reporter nicht nur von Assads Leute, sondern von den Fundamentalisten unter den Oppositionellen. Das Material schafft es per Datenübermittlung über die Grenze, wenn nicht die Telefonverbindung wieder abbricht.
Als die Pilotfolge fertig war, fuhr das Team in ein Camp in die Türkei, um das Programm zum ersten Mal den Kindern zu zeigen. „Der Strom fiel immer wieder aus, nichts funktionierte. Aber alle haben konzentriert zugeschaut“, erinnert sich Rascher. „Das war das Beste.“