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Porno in Zeiten des Internets

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Ein Symposium im Frankfurter Psychoanalytischen Institut befasst sich mit Cybersex, Chatrooms und Internetpornografie.

Bei dem Titel waren Zweifel angebracht: 'Sexualität, Lust und Phantasie in Zeiten des Internets'. Schließlich gibt es das Internet ja nun schon eine ganze Weile. Jetzt bitte nicht noch so ein kulturpessimistisches Lamento über die Bedrohung der Welt durch Internet und Pornografie.



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Nach zwei Tagen kann Entwarnung gegeben werden, der Weltuntergang ist ausgeblieben. Drei Analytiker und eine Sexualwissenschaftlerin brachten den Nachweis, dass man nicht unbedingt in Zeiten des Internets geboren sein muss, um neumodischem Zeug wie Cybersex, Chatrooms und Internetpornografie auch Gutes abzugewinnen. Zwar wurde meist pauschal von 'der Mainstream-Pornografie' geredet - queere, feministische und andere Porno-Abwege blieben weitgehend außen vor. Das zu kritisieren ist aber ein bisschen so, als ginge ein Veganer zum Metzger und beschwerte sich dann über das Angebot.

Heinz Müller Pozzi, Zürcher Altstar der Psychoanalyse, beklagte einmal mehr, dass im Massenporno die Handlung fehlt. Er diagnostizierte 'erregte Langeweile, langweilige Erregtheit'. Dabei war ihm ein gewisses Fremdeln mit der Materie anzumerken: Er wisse auch nicht, warum Frauen weniger Pornos schauen als Männer. Leicht kokett kam er dann auf den 'Ficksaft' zu sprechen - so hatte der Marquis de Sade die weibliche Ejakulation genannt. An dieser Stelle hätte man nun gerne gewusst, was der Psychoanalyse zu 'Squirt' einfällt - einem pornografischen Subgenre, in dem ein paar Dutzend Frauen einem Mann unter großem Geschrei Fontänen dieses Safts ins Gesicht spritzen. So konkret wurde Müller Pozzi dann doch nicht. Stattdessen bescheinigte er der Pornografie die Qualität einer 'Besetzungsabwehrphantasie'. Menschen, denen die Verschiebung des libidinösen Begehrens auf ein Liebesobjekt nicht gelingt, im Porno Zufluchtsräume zu bieten. Pozzis Kollegin Ilka Quindeau berichtete von einem Mittfünfziger, der Porno auf ähnliche Art nutzt. Nach jahrzehntelanger Ehe lebt er mit einer deutlich jüngeren Partnerin in einer sexuell erfüllten Beziehung. Was ihn nicht davon abhält, exzessiv Pornos zu konsumieren und dabei zu masturbieren. Er sei eben auf der Suche nach einer Frau, der

Danach berichtete die Frankfurterin Ilka Quindeau von einem Mittfünfziger, der nach jahrzehntelanger Ehe seine Frau verließ und nun mit einer deutlich jüngeren Partnerin eine sexuell erfüllte Beziehung lebt. Was ihn nicht davon abhält, exzessiv Pornos zu konsumieren und dabei zu masturbieren. Er sei eben auf der Suche nach einer Frau, der er seinen Samen schenken kann, so Quindeau. Tja, wo sollte der Mann mit seinem Samen hin, wenn nicht zum Porno? Im Netz kann man die Partnerin danach praktischerweise wegklicken.

Erstmal Aufräumen mit Netz- und Porno-Mythen: Diesen Job übernahm ausgerechnet Sophinette Becker, nach eigener Auskunft ein Digital Immigrant. Die Frankfurter Psychologin und Sexualtherapeutin ist Jahrgang 1950, erster Computer 1998, Handy nur für Notfälle. In einer furiosen Suada räumte sie mit lieb gewonnenen Halbwahrheiten und Gerüchten auf. Alle machen nach, was ihnen in Internetpornos vorgespielt wird? Nein, so Becker: Es gibt auch mit diesen Filmen einen reflektierten Umgang, der fiktionale Charakter wird erkannt. Beim Internetporno zählt nur der schnelle Orgasmus? Auch Quatsch, dagegen spricht die lange Verweildauer. Sex im Netz ist eine reine Männerdomäne? Nein, Männer konsumieren zwar mehr Pornos, Frauen bevorzugen dafür aber Sex-Chats, die sie als Probebühnen für neue Identitäten nutzen: Heidi heißt jetzt nackte Tigerin.

Wie im Joghurtregal gibt es dabei immer mehr Geschmacksrichtungen. Laut Becker verliert der heterosexuelle Koitus an Bedeutung, stattdessen wird die Masturbation zur eigenständigen Praxis. Dabei wird auch mit Bisexualität und anderen 'komplizierteren' Formen der Sexualität experimentiert - Identität ist im Netz weniger eine Frage der Biologie als eine der Performance.

Dass man solche Entwicklungen nicht rückgängig machen kann, hatten leider nicht alle Anwesenden verstanden. Ein Psychohippie (WER?) aus dem Bilderbuch fand die drastische Sprache im Internet einfach 'ekelhaft', sein beleidigtes Fazit: 'Ich fühle mich da hinterm Mond!' - wobei daran natürlich der Mond schuld war.

Doch zum Glück war selbstgerechte Gegenwartsskepsis dieser Preisklasse die Ausnahme in Frankfurt. Über weite Strecken wurde klar, warum Roland Koch einst gute Gründe hatte, das Frankfurter Institut für Sexualwissenschaft zu zerschlagen: Auch 'in Zeiten des Internets' sind Sexualwissenschaft und Psychoanalyse eine Zumutung für alle, die lieber gar nicht wissen wollen, was sich untenrum so abspielt.


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