Brüssel – Michael Dolan muss sich keine Sorgen machen, dass der EU-Diplomat seine Botschaft nicht hört. Dafür spricht Dolan einfach viel zu laut. „Das ISDS-System ist aus unserer Sicht NICHT NEUTRAL!“, schleudert er Ignacio Garcia Bercero vom Podium aus entgegen. Bercero, Chef-Unterhändler der EU für das Freihandelsabkommen mit den USA, sitzt ungerührt in der ersten Reihe des Brüsseler Konferenzsaales und hört sich das alles geduldig an.
Im Mai zeigen Demonstranten in Hamburg ihren Unmut über das Freihandelsabkommen mit den USA.
ISDS ist eine dieser kryptischen Abkürzungen, die derzeit viele Bürger auf beiden Seiten des Atlantiks aufwühlen. Sie steht für „Investor State Dispute Settlement“ – das Recht der Unternehmen, Staaten vor intransparenten Schiedsgerichten auf Milliardensummen zu verklagen.
Dolan bräuchte das Mikro nicht, das vor ihm auf dem Pult steht. Er gestikuliert und donnert, so hat er es schon 1999 beim „Battle of Seattle“ getan, als seine „Teamster“, die Trucker und Milchbauern, das Treffen der WTO-Konferenz lahmlegten. 15 Jahre später nutzt er seinen Auftritt wieder, um gegen einen ungezügelten Freihandel zu kämpfen.
Die Delegationen von EU und USA haben ihre sechste Verhandlungsrunde einen Tag unterbrochen, um den Anliegen der sogenannten Stakeholder zuzuhören, all jenen Gruppen, deren Interesse an den Verhandlungen offiziell anerkannt ist. Auch Bürgerrechtler werden hier zu Lobbyisten, denn es geht um harte Überzeugungsarbeit. Dolan ist einer von 71 Rednern, die den Beamten im Namen ihrer Organisationen erklären, was am Ende im TTIP-Vertrag stehen soll – und was auf gar keinen Fall rein darf.
An diesem Mittwoch begegnen sich im Brüsseler Konferenzzentrum zwei Lager, die sich sonst eher aus dem Weg gehen. Den einen kann Freihandel nicht frei genug sein, die anderen fürchten, dass Konzerne am Ende mehr Rechte haben als Staaten und ihre Bürger. Die einen sind angetrieben von Wirtschaftsinteressen und viel Geld, die anderen von Idealismus und viel Angst.
Pharmaverbände, Saatguthersteller, Verbraucherschützer, Bürgerrechtler – jeder Sprecher hat fünf Minuten für seine Kommentare, danach sind vier Minuten Zeit für Fragen. Speed-Dating für Interessenvertreter. Die Unterhändler, die die Lobbyisten bezirzen wollen, sitzen in der ersten Reihe; dahinter Abgesandte der übrigen Stakeholder.
Betroffen sind 820 Millionen Menschen, fast die Hälfte der Weltwirtschaft, Regeln für Tierschutz oder die Vergabe von öffentlichen Aufträgen: Bei TTIP geht es irgendwie um alles, deshalb kommen jetzt auch alle nacheinander auf das Podium. Eine Umweltschützerin lehnt ISDS, das Sonderklagerecht für Investoren gegenüber Staaten, ab – auch nachdem die EU die ursprünglichen Ideen abgeschwächt und online die Meinungen von mehreren Zehntausend Bürgern eingeholt hat. Nein, das Klagerecht müsse drinbleiben, verkündet dagegen der Mann vom Bund der Deutschen Industrie. TTIP könne einen reformierten, transparenten „Goldstandard“ für ISDS enthalten, Vorbild sein für weitere Abkommen. Andere, so die Vertreter der Autohersteller, wollen gleiche Standards, damit sie nicht zwei Versionen von einem Auto bauen müssen – eine für die USA, eine für Europa.
Ein bisschen Mitleid mit den Unterhändlern von EU und USA ist angebracht. In vier verschiedenen Räumen haben sie drei Stunden unter anderem gehört: Warum europäische Schiffsbauer sich benachteiligt fühlen, warum amerikanische Chemikalienstandards für Kosmetika ein Problem sind – und dann noch die wirre Rede eines holländischen Aktivisten, der plötzlich auf Deutsch Zitate von Philosophen von sich gibt: „Das Ding ist ein Ganzes an Bestimmungen“ – „Alles ist eine Abstraktion“. Was er damit wohl sagen will: TTIP ist nur für die Reichen, irgendwie.
So transparent waren Freihandelsgespräche noch nie, schwärmen Vertreter der EU-Kommission und Industrie-Lobbyisten. Doch natürlich ist das Stakeholder-Treffen auch eine Show-Veranstaltung. EU und USA wollen zeigen, dass sie Bedenken ernst nehmen und die Öffentlichkeit informieren. Dieses Signal wird für die verhandelnden Behörden immer wichtiger, je mehr Bürger befürchten, dass TTIP und Demokratie unvereinbar und europäische Standards in Gefahr sind. Erst am Dienstag wurde die Europäische Bürgerinitiative „Stop TTIP“ präsentiert.
Was bringt diese Konferenz also? Die amerikanische Umweltschützerin sagt: „Jeder sagt seinen Spruch. Es ist eine Wohlfühlübung.“ Meist fragen die Verhandler aus Washington und Brüssel noch ein oder zweimal höflich nach, dann ist der nächste Lobbyist dran. Andreas Thurner von der österreichischen Landwirtschaftskammer findet: „Die Verhandler kennen eigentlich alle Argumente. Der Neuigkeitswert dürfte gering sein.“ Das echte Lobbying findet woanders statt, erzählt Thurner: „Die wichtigen Botschaften werden nicht bei einer Konferenz überbracht. Man versucht immer, direkte Treffen zu bekommen.“ Sein belgischer Lobby-Kollege sagt grinsend: „Das hier ist nur wichtig für Gruppen, die nicht so gut organisiert sind wie wir.“
Thurner hat sich die 71 Präsentationen gar nicht angehört, ihn interessiert vor allem der Nachmittag, wenn die Chef-Unterhändler Dan Mullaney und Ignacio Garcia Bercero unter Ausschluss der Presse die Stakeholder in einem „Debriefing“ über den Stand der Verhandlungen unterrichten. Ausgerechnet in diesem Rahmen findet die lauteste Präsentation statt, die einem Überfall gleicht. Plötzlich erheben sich sieben Aktivisten von ihren Stühlen und rufen „Stop TTIP“. Sie tragen gelbe T-Shirts, auf denen ihre Botschaft steht: „There is no transparency without the texts. #giveusthetexts“. Es ist die wichtigste Forderung der TTIP-Kritiker: Transparenz – sie wollen mehr Details über die Verhandlungspositionen erfahren. Wenige Sekunden später stürmen Sicherheitsbeamte in den Saal, ein Aktivist klammert sich so lange an eine Stuhllehne, bis ihn zwei Männer wegtragen müssen. Kurz darauf ist der Tumult vorbei, die Aktivisten müssen das Tagungszentrum verlassen.
Die Gruppe trifft sich in einem Straßencafé um die Ecke. Die Aktivisten klappen ihre Notebooks auf, tippen das WLAN-Passwort ein und sichten ihr Material. „Das Video hat genau die richtige Länge, drei Minuten halten die Leute durch“, freut sich der Belgier Michel Cernak. Noch während das Debriefing mit Mullaney und Bercero läuft, werden Fotos und Videos bei den sozialen Netzwerken hochgeladen. Twitter und Facebook, das sind die wichtigsten Werkzeuge der TTIP-Gegner im Kampf um die öffentliche Meinung. Anders als in den Konferenzräumen dürfte ihre kompromisslose Haltung im Internet mehr Verständnis finden.
Im Mai zeigen Demonstranten in Hamburg ihren Unmut über das Freihandelsabkommen mit den USA.
ISDS ist eine dieser kryptischen Abkürzungen, die derzeit viele Bürger auf beiden Seiten des Atlantiks aufwühlen. Sie steht für „Investor State Dispute Settlement“ – das Recht der Unternehmen, Staaten vor intransparenten Schiedsgerichten auf Milliardensummen zu verklagen.
Dolan bräuchte das Mikro nicht, das vor ihm auf dem Pult steht. Er gestikuliert und donnert, so hat er es schon 1999 beim „Battle of Seattle“ getan, als seine „Teamster“, die Trucker und Milchbauern, das Treffen der WTO-Konferenz lahmlegten. 15 Jahre später nutzt er seinen Auftritt wieder, um gegen einen ungezügelten Freihandel zu kämpfen.
Die Delegationen von EU und USA haben ihre sechste Verhandlungsrunde einen Tag unterbrochen, um den Anliegen der sogenannten Stakeholder zuzuhören, all jenen Gruppen, deren Interesse an den Verhandlungen offiziell anerkannt ist. Auch Bürgerrechtler werden hier zu Lobbyisten, denn es geht um harte Überzeugungsarbeit. Dolan ist einer von 71 Rednern, die den Beamten im Namen ihrer Organisationen erklären, was am Ende im TTIP-Vertrag stehen soll – und was auf gar keinen Fall rein darf.
An diesem Mittwoch begegnen sich im Brüsseler Konferenzzentrum zwei Lager, die sich sonst eher aus dem Weg gehen. Den einen kann Freihandel nicht frei genug sein, die anderen fürchten, dass Konzerne am Ende mehr Rechte haben als Staaten und ihre Bürger. Die einen sind angetrieben von Wirtschaftsinteressen und viel Geld, die anderen von Idealismus und viel Angst.
Pharmaverbände, Saatguthersteller, Verbraucherschützer, Bürgerrechtler – jeder Sprecher hat fünf Minuten für seine Kommentare, danach sind vier Minuten Zeit für Fragen. Speed-Dating für Interessenvertreter. Die Unterhändler, die die Lobbyisten bezirzen wollen, sitzen in der ersten Reihe; dahinter Abgesandte der übrigen Stakeholder.
Betroffen sind 820 Millionen Menschen, fast die Hälfte der Weltwirtschaft, Regeln für Tierschutz oder die Vergabe von öffentlichen Aufträgen: Bei TTIP geht es irgendwie um alles, deshalb kommen jetzt auch alle nacheinander auf das Podium. Eine Umweltschützerin lehnt ISDS, das Sonderklagerecht für Investoren gegenüber Staaten, ab – auch nachdem die EU die ursprünglichen Ideen abgeschwächt und online die Meinungen von mehreren Zehntausend Bürgern eingeholt hat. Nein, das Klagerecht müsse drinbleiben, verkündet dagegen der Mann vom Bund der Deutschen Industrie. TTIP könne einen reformierten, transparenten „Goldstandard“ für ISDS enthalten, Vorbild sein für weitere Abkommen. Andere, so die Vertreter der Autohersteller, wollen gleiche Standards, damit sie nicht zwei Versionen von einem Auto bauen müssen – eine für die USA, eine für Europa.
Ein bisschen Mitleid mit den Unterhändlern von EU und USA ist angebracht. In vier verschiedenen Räumen haben sie drei Stunden unter anderem gehört: Warum europäische Schiffsbauer sich benachteiligt fühlen, warum amerikanische Chemikalienstandards für Kosmetika ein Problem sind – und dann noch die wirre Rede eines holländischen Aktivisten, der plötzlich auf Deutsch Zitate von Philosophen von sich gibt: „Das Ding ist ein Ganzes an Bestimmungen“ – „Alles ist eine Abstraktion“. Was er damit wohl sagen will: TTIP ist nur für die Reichen, irgendwie.
So transparent waren Freihandelsgespräche noch nie, schwärmen Vertreter der EU-Kommission und Industrie-Lobbyisten. Doch natürlich ist das Stakeholder-Treffen auch eine Show-Veranstaltung. EU und USA wollen zeigen, dass sie Bedenken ernst nehmen und die Öffentlichkeit informieren. Dieses Signal wird für die verhandelnden Behörden immer wichtiger, je mehr Bürger befürchten, dass TTIP und Demokratie unvereinbar und europäische Standards in Gefahr sind. Erst am Dienstag wurde die Europäische Bürgerinitiative „Stop TTIP“ präsentiert.
Was bringt diese Konferenz also? Die amerikanische Umweltschützerin sagt: „Jeder sagt seinen Spruch. Es ist eine Wohlfühlübung.“ Meist fragen die Verhandler aus Washington und Brüssel noch ein oder zweimal höflich nach, dann ist der nächste Lobbyist dran. Andreas Thurner von der österreichischen Landwirtschaftskammer findet: „Die Verhandler kennen eigentlich alle Argumente. Der Neuigkeitswert dürfte gering sein.“ Das echte Lobbying findet woanders statt, erzählt Thurner: „Die wichtigen Botschaften werden nicht bei einer Konferenz überbracht. Man versucht immer, direkte Treffen zu bekommen.“ Sein belgischer Lobby-Kollege sagt grinsend: „Das hier ist nur wichtig für Gruppen, die nicht so gut organisiert sind wie wir.“
Thurner hat sich die 71 Präsentationen gar nicht angehört, ihn interessiert vor allem der Nachmittag, wenn die Chef-Unterhändler Dan Mullaney und Ignacio Garcia Bercero unter Ausschluss der Presse die Stakeholder in einem „Debriefing“ über den Stand der Verhandlungen unterrichten. Ausgerechnet in diesem Rahmen findet die lauteste Präsentation statt, die einem Überfall gleicht. Plötzlich erheben sich sieben Aktivisten von ihren Stühlen und rufen „Stop TTIP“. Sie tragen gelbe T-Shirts, auf denen ihre Botschaft steht: „There is no transparency without the texts. #giveusthetexts“. Es ist die wichtigste Forderung der TTIP-Kritiker: Transparenz – sie wollen mehr Details über die Verhandlungspositionen erfahren. Wenige Sekunden später stürmen Sicherheitsbeamte in den Saal, ein Aktivist klammert sich so lange an eine Stuhllehne, bis ihn zwei Männer wegtragen müssen. Kurz darauf ist der Tumult vorbei, die Aktivisten müssen das Tagungszentrum verlassen.
Die Gruppe trifft sich in einem Straßencafé um die Ecke. Die Aktivisten klappen ihre Notebooks auf, tippen das WLAN-Passwort ein und sichten ihr Material. „Das Video hat genau die richtige Länge, drei Minuten halten die Leute durch“, freut sich der Belgier Michel Cernak. Noch während das Debriefing mit Mullaney und Bercero läuft, werden Fotos und Videos bei den sozialen Netzwerken hochgeladen. Twitter und Facebook, das sind die wichtigsten Werkzeuge der TTIP-Gegner im Kampf um die öffentliche Meinung. Anders als in den Konferenzräumen dürfte ihre kompromisslose Haltung im Internet mehr Verständnis finden.