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Der große Bannkreis

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Zuletzt meldete sich auch das Goethe-Institut zum Transatlantischen Freihandelsabkommen: Nein, die „Kultur“ dürfe nicht Gegenstand eines Vertrags werden, in dem alles, was hergestellt oder geleistet werde, gleichermaßen und ausschließlich als Ware behandelt werde. Die „Eigenständigkeit der Kultur“ werde gefährdet, wenn der „kulturellen Vielfalt“ der „Schutz“ und die „Förderung“ entzogen werde. Zwar ist der Stand der Verhandlungen zwischen den USA und der Europäischen Union noch ungewiss – aber es erscheint den Funktionären der Kultur offenbar schon jetzt als nützlich, von vornherein gesagt zu haben, dass weder der „Tatort“ noch das Erlanger Poetenfest noch die Bayerische Staatsoper sich je ökonomisch mit der amerikanischen Konkurrenz werden messen dürfen.



Freihandeslabkommen TTIP: Wird die Kultur dabei geschwächt?

So spricht auch der Deutsche Kulturrat, so redet der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, und der Deutsche Bühnenverein erklärt sich ebenfalls gegen eine „Ökonomisierung der Künste“, durch die angeblich die „europäische Kultur“ ins Wanken gebracht werde. Was das Goethe-Institut fordert, ist weitgehend Konsens unter den „Kulturschaffenden“. Sie alle scheinen davon überzeugt zu sein, dass „die Kultur“ eine gesellschaftliche Sphäre ganz für sich allein bilde, die nur dann wirklich gedeihen könne, wenn sich niemand einmische, vor allem nicht die Politik und die Wirtschaft.

Viele Menschen, die sich gerne in einer Welt bewegten, in der es nicht um Effizienzsteigerung und Nützlichkeitserwägungen geht, glauben das auch. Das Dumme ist bloß, dass in dem Wunsch, die „Kultur“ möge frei sein, nur eine Negation steckt: Sie soll eben nicht dem Streben nach Gewinn und Macht dienen. Aber was soll sie stattdessen tun? Die großen Institutionen des deutschen Kulturbetriebs wollen einen Bannkreis um die „Kultur“ legen, und sie wollen es um so mehr, je weniger sie angeben können oder wollen, was sich innerhalb des Kreises befinden soll. Und weil das so ist, müssen sie sich über Misstrauen nicht wundern.

Die Behauptung, „Kultur“ dürfe nicht zur Ware werden, gehorcht einem Muster, das vertraut ist, aber nicht sehr plausibel. Es gibt viele Dinge, die Waren sind, aber nach Ansicht vieler Menschen nicht zu solchen werden dürfen. Das Wasser gehört dazu, die Gesundheit, die Bildung, vielleicht auch (zumindest für die Armen und für die Dritte Welt) das Essen überhaupt. Die Reihe ließe sich fortsetzen. Zwar verbirgt sich eine Erkenntnis in dieser Forderung: Sie lautet, dass Waren nicht zur Befriedigung von Bedürfnissen hergestellt werden. Das Problem aber besteht darin, dass diese Erkenntnis nicht besonders weit führt, weil sie als Forderung nach einer Ausnahme von einer universal geltenden Regel vorgetragen wird. Von welcher Ware aber ließe sich demgegenüber sagen, sie sei nichts anderes als eine Ware? Nicht einmal ein Geländewagen wird gebaut, nur um verkauft zu werden. Zudem wird die Forderung nicht einleuchtender angesichts der Tatsache, dass fast alle Dinge, die in der „Kultur“ hergestellt oder vertrieben werden, in Gestalt von Waren auftreten: vom Taschenbuch, das zehn Euro kostet, bis hin zur Arbeitskraft eines Theater-Intendanten, für die in einem Jahr durchaus dreihunderttausend Euro verlangt werden dürfen, eigene Regiearbeiten exklusive.

Es gab einmal eine Vorstellung davon, was „Kultur“ zu sein habe. Sie fand ihre Formulierung in Friedrich Schillers Briefen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ aus dem Jahr 1795, in denen das Bild der Kultur als einer allem übergeordneten, für jeden Bürger geltenden Macht entworfen wurde, die jenseits aller partikularen Interessen – und damit auch jenseits aller praktischen Verpflichtungen oder „Nützlichkeitserwägungen“ – zu walten habe. Diese Vorstellung wurde in Deutschland größer und folgenreicher als irgendwo anders, weil sie eine Nation einen sollte, die es politisch noch lange nicht gab. Ihretwegen rückten die Gemäldegalerien, die Opernhäuser und die Akademien in die Stadtmitte, dorthin, wo zuvor Palast, Dom und Rathaus gestanden hatten.

Diese Vorstellung von „Kultur“ war an einen Kanon gebunden, der klein genug war, um verbindlich zu sein: Kunst und Literatur, Theater und Musik. Diesen Kanon gibt es schon lange nicht mehr. Für die ideelle Einheit sorgt, wenn nicht der Nationalstaat selber, doch wenigstens der Fußball. Das große Wort von der „Kultur“ hat dennoch überlebt: als Ausdruck eines ästhetischen Bemühens, das als solches schon auf nichts anderes als auf Zustimmung rechnen darf. Dieser Anspruch aber ist eine intellektuelle Zumutung.
Er ist zum einen eine Zumutung, weil er völlig davon absieht, dass große Bereiche dessen, was wie selbstverständlich zur „Kultur“ gezählt wird, aus kommerziellen Veranstaltungen bestehen. So genießen alle deutschen Verlage die Vorteile der Buchpreisbindung und eines verminderten Mehrwertsteuersatzes – beides ist ein staatlicher Eingriff in die ökonomische Konkurrenz –, gleichgültig, ob sie konkrete Lyrik oder Pornografie veröffentlichen. So sind die Übergänge zwischen Museen für zeitgenössische Kunst oder entsprechenden Ausstellungen auf der einen Seite und dem Kunstmarkt auf der anderen Seite seit geraumer Zeit fließend: Und zwar nicht nur, weil die Museen, wenn sie jüngere Arbeiten ausstellen, diese auch ökonomisch veredeln, sondern auch, weil sie diese durch die Auswahl und die Art der Präsentation überhaupt erst zu Kunstwerken machen. Und so funktioniert populäre Musik, wiewohl schon seit Jahrzehnten Gegenstand staatlicher Förderung, längst nach den Maßstäben einer Industrie – und wenn Großbritannien oder Schweden dabei als Exportnationen erfolgreicher als Deutschland sind, so liegt das sicher nicht daran, dass dort weniger subventioniert würde. Wer dennoch darauf beharrt, angesichts so unterschiedlicher Verhältnisse immerzu von „der Kultur“ zu reden, argumentiert nicht mehr redlich, sondern verfolgt ein eigenes, zumindest ideologisches, wenn nicht ökonomisches Interesse.

Der Anspruch, der „Kultur“ gebühre nichts als Zustimmung, ist zum zweiten eine intellektuelle Zumutung, weil er die gesellschaftliche Realität nicht zur Kenntnis nehmen will: Denn die „Kultur“ im Sinne von „Kulturwirtschaft“ ist seit vielen Jahren einer der wichtigsten Wirtschaftszweige in Deutschland überhaupt, mit Sicherheit größer als die Automobilindustrie, fast so groß wie der Sektor der Banken und Versicherungen. Denn was gehört nicht alles dazu? Die Kulturalisierung der Städte zum Beispiel, die sich zunehmend nicht mehr als funktionale, sondern zuerst als kulturelle Gebilde verstehen, die Musealisierung noch des kleinsten Dorfkerns, die massenweise Herausbildung höchst kreativ und innovativ gesonnener Menschen, die Entstehung von Ökonomien des Designs in großer Zahl. In dem Werk „Die Erfindung der Kreativität“ (Suhrkamp-Verlag, 2012), einem der interessantesten deutschen Sachbücher der vergangenen Jahre, rekapituliert der Soziologe Andreas Reckwitz von der Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, wie, beginnend mit der Demokratisierung des Künstlers, eine Entwicklung einsetzt, in der die Kunst zu einem „exemplarischen Format“ der gesamten Gesellschaft wird – weshalb die vielen Versuche, die „Kulturwirtschaft“ von der echten Kunst abzusetzen, eher müßig sind.

Der Anspruch, der „Kultur“ gebühre nichts als Zustimmung, ist noch aus einem dritten Grund eine Zumutung: Sie kennt keine Kritik, weder an ihren Produkten noch als deren Gegenstand. „Die Kunst ist ein experimentelles Spiel jenseits der eingeübten Praxis von der Ökonomie gesteuerten menschlichen Verhaltens“, behauptet Klaus Zehelein, Präsident des Deutschen Bühnenvereins, der sich im Namen seiner Organisation gegen ein Freihandelsabkommen und dessen mögliche Auswirkungen auf die „Kultur“ wendet: „Sie dient dem wechselseitigen Verstehen des anderen und so dem sozialen Zusammenhalt.“
Solche Begründungen für die Autonomie der Kunst, halb heruntergekommener deutscher Idealismus, halb trivialisierte Sozialpsychologie, gibt es unter Kulturfunktionären gegenwärtig zuhauf. Doch als Raffael die Sixtinische Madonna malte, wollte er mit Sicherheit nicht experimentieren; Honoré de Balzac legte allergrößten Wert darauf, von Ökonomie möglichst viel zu verstehen (und daran zu verdienen), und unter den vielen Feinden, die sich Karl Kraus erkor, war der „soziale Zusammenhalt“ bestimmt der ärgste und dümmste. Die Absicht, die der Bühnenverein mit seinen kühnen Behauptungen verfolgt, ist hingegen offensichtlich: Er will immun werden, ökonomisch wie intellektuell.

Wenn man behauptet, es gehe darum, die „Eigenständigkeit“ der Kultur zu „schützen“ und zu „fördern“, wird außerdem etwas verschwiegen. Es ist nicht wahr, dass die Kulturförderung nur etwas hegt und pflegt, das auch ohne sie – wenn auch womöglich nur kümmerlich – existierte. Sie schafft vielmehr auch „Kultur“, und zwar nicht nur in dem Sinne, dass sie Werken ein Dasein gewährt, das sie ohne Subventionen nicht besäßen, sondern auch, dass sie Werke überhaupt erst ins Dasein ruft, die es ohne sie gar nicht gäbe.
Das ist erst einmal nicht verwerflich, im Gegenteil: Es ist gut möglich, dass auf diese Weise kluge, schöne, interessante, erhellende oder auch bloß lustige Dinge in beträchtlicher Zahl entstehen.

Damit man sie aber erkennt und damit sie die Geltung erlangen, die ihnen gebührt, muss man sie erklären und begründen. Und das heißt: Ihr Schutz und ihre Förderung setzt ihre Kritik voraus. Wer jedoch von vornherein auf „Autonomie“ pocht, wer von „Nützlichkeitserwägungen“ nichts wissen will, wer am liebsten alles, was unter „Kultur“ verbucht werden kann, unterschiedslos unter Bestandsschutz stellte, nimmt – unter dem Vorwand, sie zu retten – der „Kultur“ ihr Lebendigstes.

Schlimmer noch: Es dürfte keine Schwierigkeit sein zu erklären, welche Teile der „Kultur“ einem generell geltenden Freihandelsabkommen am ehesten zum Opfer fallen könnten: die Einrichtungen des kulturellen Erbes vor allem, die Denkmäler, Archive und Bibliotheken sowie, in Teilen wenigstens, die Bühnen, die Theater also, Opernhäuser und Konzerthallen. Und es dürfte auch nicht schwierig sein zu erläutern, warum, ob und in welchem Maße es Musikschulen, Kunstschulen, Akademien und dergleichen geben soll. Und schließlich ließen sich vielleicht sogar Begründungen für Stipendien, Preise und Filmfördergelder geben.

Offenbar will aber die Mehrheit der deutschen Kulturfunktionäre nicht, dass man über Inhalte und Strukturen, über Gründe und Maßnahmen redet. Lieber verlangen sie eine Art Generalschutzklausel für „Kultur“. Diese aber kann es und wird es nicht geben, weshalb durch das unbeirrte Beharren auf dem Großen und Ganzen ein ganz anderer Eindruck entsteht: dass hier nämlich eine Lobby wirkt, die tut, was alle Lobbys tun – nämlich das eigene Interesse zu befördern.

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