Er liest keine Zeitungen, hört keine Nachrichten, er muss sich schützen vor allem, was ihn beunruhigen könnte. Aber den Absturz des Fluges MH17 in der Ukraine vor ein paar Wochen, mit fast 200 niederländischen Opfern, diese nationale Tragödie hat selbst der Autist Kees Momma mitbekommen. Was er darüber denkt? „Wieder zeigt sich, wie viel Leid die Menschen ihren Artgenossen zufügen können. Tiere tun das auch oft. Sie tun es, um an Futter zu kommen und zu überleben. Beim Homo sapiens geht es um Macht. Wir bilden das letzte Glied in der Futterkette der Natur. Wir haben zu viel Hirn mitbekommen. Das führt zu Extremen: zu den schönsten Erfindungen und zu vernichtenden Waffen.“
Kees Momma hat eine Abneigung gegen "Frauenbeine in engen Strümpfen".
Solche Sätze, Sätze von ungewohnter Eindringlichkeit und naiver Schönheit, können die Niederländer derzeit jede Woche lesen. Einen ganzen Sommer lang schreibt Kees Momma immer dienstags eine Kolumne, und zwar an ehrwürdiger Stelle: in den Schwesterblättern nrc.next und NRC Handelsblad. Er schreibt über Vogelgesänge im Wald, über einen Besuch in den Straßen seiner Kindheit, über die „schöne Seite“ des Autismus oder eben über MH17. Der Titel seiner Kolumne, „Das Beste von Kees“, spielt auf jenen Dokumentarfilm an, der Anfang Juni im öffentlich-rechtlichen Fernsehen der Niederlande lief und den 49-Jährigen zu einem berühmten Mann und überraschenden Star in seiner Heimat gemacht hat.
Die erste Ausstrahlung des Films „Das Beste für Kees“ sahen 765000 Menschen. Das ist viel in den Niederlanden mit ihren 17Millionen Einwohnern, vor allem aber ist das anderthalbstündige Werk danach fast 500000-mal von der Internetseite des Senders heruntergeladen worden: Platz vier der ewigen Bestenliste. Ausschnitte aus dem Film sind Riesenhits auf Youtube, ein „Best of“ kommt auf weit mehr als eine Million Abrufe. Kees Mommas Facebook-Mitteilungen werden begeistert gelesen und kommentiert. Er ist ein Sympathieträger geworden, an dessen Leben viele Menschen Anteil nehmen.
Kees Momma ist ein klassischer Autist, er leidet an einer Entwicklungsstörung, die ihm soziale Kontakte, eine als „normal“ empfundene Kommunikation und das Sich-Einfühlen in andere erschwert. Er lebt bei seinen Eltern, in einem „Chalet“ im Garten ihres Hauses in Velp bei Arnheim, in seiner eigenen Welt, ohne Besuch, ohne Freunde, abgeschottet von den Zudringlichkeiten und dem Lärm des Alltags. Meistens spielt er mit seiner geliebten Eisenbahn und widmet sich der besonderen Begabung, die ihm, wie manchen Autisten, eigen ist: Er ist ein guter Zeichner und Modellbauer. Was er braucht, sind Ruhe und Verlässlichkeit; Abweichungen von der Norm, von seiner Norm, und Menschen, die sein Harmoniebedürfnis stören, können ihn binnen Sekunden komplett aus der Balance bringen.
Es ist die Diskrepanz zwischen den Welten, die Kees Mommas unberechenbare Eruptionen für die Zuschauer so interessant und zunächst auch sehr belustigend macht. Die bekannteste Szene des Films, die schon fast ins niederländische Kulturgut eingegangen ist, zeigt ihn neben seiner Mutter im Wagen. Ein deutscher Autofahrer hält sich nicht an die Verkehrsregeln, und Kees rastet aus, grimassierend, gestikulierend: „Elender Scheiß-Mof, ist doch nicht zu glauben, Schweinehund, Arschloch. God verdomme, man sollte sie bestrafen, diese Scheißdeutschen. Wasserstoffbomben auf Moffrika werfen.“ Und das gibt nur einen Teil seiner vom Vokabular her etwas antiquierten, aber durchaus originellen Schimpfkanonade wieder, die innerhalb von Tagen nach der Sendung parodiert – mit Hitler am Steuer – und zu einem Rapvideo verwurstet wurde. (Inzwischen hat er klargestellt, dass er Deutschenhass daneben findet, „kommt nicht infrage“. Nur mit dem teutonischen Fahrstil habe er eben schlechte Erfahrungen gemacht.) An anderer Stelle echauffiert sich Kees Momma über ein vom Filmteam zerbrochenes Flugzeugmodell und offenbart dabei seine Abneigung gegen kurze Röcke und vor allem „Frauenbeine in engen Strümpfen“. Sie lenkten ihn zu stark ab, sagt er.
Die meisten Szenen des Films aber sind ambivalenter. „Es ist etwas Schreckliches passiert, etwas ganz und gar Furchtbares“, erzählt Momma einmal tief verängstigt: „Mein Neffe ist mir über den Kopf gewachsen.“ Man lacht noch über die Komik der Situation und die Inkongruenz seiner Gefühle, da sagt Momma, was ihn wirklich bedrückt: Der Neffe wird nach Amerika gehen, neue Freunde gewinnen, Spaß haben. „Ich bin wahnsinnig neidisch. Mit meiner Behinderung geht das nicht. Ich wäre lieber nicht Autist. Ich möchte auf ein gutes Gymnasium gehen, auf einer Uni im Ausland studieren, ein Geschäft aufbauen, gut verdienen und eine Familie gründen. Aber ich wohne noch immer bei meinen Eltern.“ Kees Momma, der Verletzliche.
Seine Zwanghaftigkeit wiederum tritt in der ewigen Angst vor den falschen Temperaturen zutage. Vor allem unerwartete Wärme bereitet ihm Probleme. „Dieses verdammte Mistwetter“, kommentiert er eines Abends eine Warmfront im November. „Ich hasse das! Es ist mein Feind! Es wird nie wieder gut. Wir werden dieses Jahr keinen Winter kriegen! Ich will nicht in einem mediterranen Klima leben!“ Seine Verzweiflung löst Rührung, vielleicht auch Mitleid in den Zuschauern aus, sie spricht ihren Beschützerinstinkt an.
Für die Dokumentation hat Monique Nolte Kees Momma fünf Jahre lang mit der Kamera begleitet. Die Regisseurin hatte ihn schon Ende der Neunzigerjahre kennengelernt, einen kürzeren Film über ihn gedreht („Train Man“) und den Kontakt 2008 intensiviert, als Momma an einer Depression litt. Sie erzählt nun aber nicht nur die Geschichte seiner prekären Existenz, sie nimmt auch beharrlich das Dilemma ins Visier, in dem er und vor allem seine Eltern stecken. Bisher ist ja alles gut gelaufen im Garten-Bungalow. Die Mutter Henriette, auf die der Sohn fixiert ist, liest ihm jeden Wunsch von den Lippen ab und hat ihn zeit seines Lebens zu trösten und zu besänftigen gewusst. Der Vater Willem hat es ertragen, dass er bei seiner Frau, wie er klagt, „immer nur die zweite Geige gespielt hat“ – nach Kees. Gegen das Mutter-Sohn-Bollwerk hatte er nie eine Chance.
Aber beide Eltern sind jetzt über 80. Wer kümmert sich um Kees, wenn sie es nicht mehr können? Wer bringt ihm genauso schonend den Wetterbericht bei wie seine Mutter? Und: Hätte man nicht längst darüber nachdenken müssen?
Alle drei sind sich des Problems nur zu bewusst, das dokumentiert Nolte in Szenen und Gesprächen von teilweise brutaler Intimität. Kees Momma hatte wegen der Zukunftssorgen vor Beginn der Dreharbeiten sogar eine handfeste Depression. Trotzdem finden sie über Jahre hinweg keine Lösung. Das Haus in einer Autisten-Siedlung, das Momma gut gefällt, ist zu teuer; in einer anderen Siedlung aus Reihenhäusern aber würden sich Autisten nach Ansicht der Mutter eingeengt fühlen. Auch die Familien der beiden nicht behinderten Brüder von Kees Momma wollen und können die Verantwortung nicht tragen.
Was Henriette Momma nun stattdessen im Sinn hat, muss man vor dem Hintergrund der niederländischen Liberalität sehen und hat erregte Diskussionen ausgelöst: Sterbehilfe. „Wenn es nicht anders geht“, sagt sie, „dann soll er lieber tot sein, dann hätte er seinen Frieden.“ Während Kees einverstanden wäre, ist der Vater skeptisch: „Erst sollte man alles andere probieren, er leidet ja nicht unerträglich.“ Was ist nun wirklich „das Beste für Kees“? Haben ihn seine Eltern gar zu sehr verwöhnt?
Die Leiden und Freuden des Mannes mit dem akkuraten Scheitel bewegen die Niederländer. „Viele Autisten erzählen, dass sie sich in ihm erkennen“, sagt Nolte. Manche fühlen sich ermutigt, wenn Kees Momma von seiner abgeschlossenen autistischen Welt erzählt, die es ihm erlaube, seine „künstlerischen Gaben“ zu entwickeln und spezielle, ganz eigene Glücksmomente zu empfinden. Er erhält nun Ratschläge von allen Seiten: „Auch ich habe Probleme mit der Wärme“, meint eine an MS leidende Frau auf Facebook, „deshalb trage ich eine elektrische Eisweste.“ Andere bejubeln die Kraft und Originalität seiner Prosa und empfehlen ihm, einen Roman zu verfassen. In Kees Momma stecke ein Dichter aus der Zeit der Hochromantik, sagt der Linguist Guus Middag. Er bediene sich einer verstaubten, archaischen Sprache, „ein bisschen wie Beatrix“ (die frühere Königin), was wohl an seiner Isolation und dem alleinigen Kontakt zur Mutter liege. Andererseits könne man in Kees Momma auch den bekannten Schriftsteller Gerard Reve, einen bissigen Ironiker, erkennen. Wenn Momma immer wieder wortreich beklagt, die Behinderung habe ihm „all die Möglichkeiten zunichte gemacht“, sieht Middag gar Parallelen zur klassischen Tragödie: „Schaut her, der Mensch: Er leidet, und er weiß es. Das Schicksal von Kees rührt so an das Schicksal aller Menschen. Aber wir können das nicht so ausdrücken wie Kees.“
Mommas seltenes Talent, aus seiner Behinderung heraus über sich reflektieren zu können, ist eigentlich schon länger bekannt. In den Neunzigerjahren schrieb er zwei autobiografische Bücher, gab Interviews, war der „Train Man“. Aber erst die hohe Qualität des jetzigen Films hat ihn auf die große Bühne geführt. Auf der fühlt er sich wohl, nimmt seine Popularität erfreut zur Kenntnis, ist auch stolz darauf. Nicht zuletzt, weil er damit „ein Bewusstsein wecken und anscheinend Leidensgenossen helfen“ kann, wie er in einem jener Facebook-Briefe an Monique Nolte schreibt, in denen er alle paar Tage Auskunft über sich gibt. Er ist gut beschäftigt: Er erhält jetzt eine Menge Aufträge für Zeichnungen und Modelle, und er kniet sich in die Zeitungskolumnen hinein. Seine „beste Schreibkunst“ wolle er da sehen lassen, voller Ernst und Humor. „Als solcherart Schreibender und Redender versuche ich mir einen Weg in das weitere Leben zu bahnen. In der Hoffnung auf eine gute Zukunft.“
Eine seiner jüngsten Informationen aber lautet: „Liebe Monique, viele, die mich kennen, fragen sich, wie es mir geht. Antwort: nicht so gut. Ich hatte auf kühleres Wetter gehofft, das Gegenteil ist eingetreten. Hitze, überall Hitze, eine ganz üble Hitze.“
Kees Momma hat eine Abneigung gegen "Frauenbeine in engen Strümpfen".
Solche Sätze, Sätze von ungewohnter Eindringlichkeit und naiver Schönheit, können die Niederländer derzeit jede Woche lesen. Einen ganzen Sommer lang schreibt Kees Momma immer dienstags eine Kolumne, und zwar an ehrwürdiger Stelle: in den Schwesterblättern nrc.next und NRC Handelsblad. Er schreibt über Vogelgesänge im Wald, über einen Besuch in den Straßen seiner Kindheit, über die „schöne Seite“ des Autismus oder eben über MH17. Der Titel seiner Kolumne, „Das Beste von Kees“, spielt auf jenen Dokumentarfilm an, der Anfang Juni im öffentlich-rechtlichen Fernsehen der Niederlande lief und den 49-Jährigen zu einem berühmten Mann und überraschenden Star in seiner Heimat gemacht hat.
Die erste Ausstrahlung des Films „Das Beste für Kees“ sahen 765000 Menschen. Das ist viel in den Niederlanden mit ihren 17Millionen Einwohnern, vor allem aber ist das anderthalbstündige Werk danach fast 500000-mal von der Internetseite des Senders heruntergeladen worden: Platz vier der ewigen Bestenliste. Ausschnitte aus dem Film sind Riesenhits auf Youtube, ein „Best of“ kommt auf weit mehr als eine Million Abrufe. Kees Mommas Facebook-Mitteilungen werden begeistert gelesen und kommentiert. Er ist ein Sympathieträger geworden, an dessen Leben viele Menschen Anteil nehmen.
Kees Momma ist ein klassischer Autist, er leidet an einer Entwicklungsstörung, die ihm soziale Kontakte, eine als „normal“ empfundene Kommunikation und das Sich-Einfühlen in andere erschwert. Er lebt bei seinen Eltern, in einem „Chalet“ im Garten ihres Hauses in Velp bei Arnheim, in seiner eigenen Welt, ohne Besuch, ohne Freunde, abgeschottet von den Zudringlichkeiten und dem Lärm des Alltags. Meistens spielt er mit seiner geliebten Eisenbahn und widmet sich der besonderen Begabung, die ihm, wie manchen Autisten, eigen ist: Er ist ein guter Zeichner und Modellbauer. Was er braucht, sind Ruhe und Verlässlichkeit; Abweichungen von der Norm, von seiner Norm, und Menschen, die sein Harmoniebedürfnis stören, können ihn binnen Sekunden komplett aus der Balance bringen.
Es ist die Diskrepanz zwischen den Welten, die Kees Mommas unberechenbare Eruptionen für die Zuschauer so interessant und zunächst auch sehr belustigend macht. Die bekannteste Szene des Films, die schon fast ins niederländische Kulturgut eingegangen ist, zeigt ihn neben seiner Mutter im Wagen. Ein deutscher Autofahrer hält sich nicht an die Verkehrsregeln, und Kees rastet aus, grimassierend, gestikulierend: „Elender Scheiß-Mof, ist doch nicht zu glauben, Schweinehund, Arschloch. God verdomme, man sollte sie bestrafen, diese Scheißdeutschen. Wasserstoffbomben auf Moffrika werfen.“ Und das gibt nur einen Teil seiner vom Vokabular her etwas antiquierten, aber durchaus originellen Schimpfkanonade wieder, die innerhalb von Tagen nach der Sendung parodiert – mit Hitler am Steuer – und zu einem Rapvideo verwurstet wurde. (Inzwischen hat er klargestellt, dass er Deutschenhass daneben findet, „kommt nicht infrage“. Nur mit dem teutonischen Fahrstil habe er eben schlechte Erfahrungen gemacht.) An anderer Stelle echauffiert sich Kees Momma über ein vom Filmteam zerbrochenes Flugzeugmodell und offenbart dabei seine Abneigung gegen kurze Röcke und vor allem „Frauenbeine in engen Strümpfen“. Sie lenkten ihn zu stark ab, sagt er.
Die meisten Szenen des Films aber sind ambivalenter. „Es ist etwas Schreckliches passiert, etwas ganz und gar Furchtbares“, erzählt Momma einmal tief verängstigt: „Mein Neffe ist mir über den Kopf gewachsen.“ Man lacht noch über die Komik der Situation und die Inkongruenz seiner Gefühle, da sagt Momma, was ihn wirklich bedrückt: Der Neffe wird nach Amerika gehen, neue Freunde gewinnen, Spaß haben. „Ich bin wahnsinnig neidisch. Mit meiner Behinderung geht das nicht. Ich wäre lieber nicht Autist. Ich möchte auf ein gutes Gymnasium gehen, auf einer Uni im Ausland studieren, ein Geschäft aufbauen, gut verdienen und eine Familie gründen. Aber ich wohne noch immer bei meinen Eltern.“ Kees Momma, der Verletzliche.
Seine Zwanghaftigkeit wiederum tritt in der ewigen Angst vor den falschen Temperaturen zutage. Vor allem unerwartete Wärme bereitet ihm Probleme. „Dieses verdammte Mistwetter“, kommentiert er eines Abends eine Warmfront im November. „Ich hasse das! Es ist mein Feind! Es wird nie wieder gut. Wir werden dieses Jahr keinen Winter kriegen! Ich will nicht in einem mediterranen Klima leben!“ Seine Verzweiflung löst Rührung, vielleicht auch Mitleid in den Zuschauern aus, sie spricht ihren Beschützerinstinkt an.
Für die Dokumentation hat Monique Nolte Kees Momma fünf Jahre lang mit der Kamera begleitet. Die Regisseurin hatte ihn schon Ende der Neunzigerjahre kennengelernt, einen kürzeren Film über ihn gedreht („Train Man“) und den Kontakt 2008 intensiviert, als Momma an einer Depression litt. Sie erzählt nun aber nicht nur die Geschichte seiner prekären Existenz, sie nimmt auch beharrlich das Dilemma ins Visier, in dem er und vor allem seine Eltern stecken. Bisher ist ja alles gut gelaufen im Garten-Bungalow. Die Mutter Henriette, auf die der Sohn fixiert ist, liest ihm jeden Wunsch von den Lippen ab und hat ihn zeit seines Lebens zu trösten und zu besänftigen gewusst. Der Vater Willem hat es ertragen, dass er bei seiner Frau, wie er klagt, „immer nur die zweite Geige gespielt hat“ – nach Kees. Gegen das Mutter-Sohn-Bollwerk hatte er nie eine Chance.
Aber beide Eltern sind jetzt über 80. Wer kümmert sich um Kees, wenn sie es nicht mehr können? Wer bringt ihm genauso schonend den Wetterbericht bei wie seine Mutter? Und: Hätte man nicht längst darüber nachdenken müssen?
Alle drei sind sich des Problems nur zu bewusst, das dokumentiert Nolte in Szenen und Gesprächen von teilweise brutaler Intimität. Kees Momma hatte wegen der Zukunftssorgen vor Beginn der Dreharbeiten sogar eine handfeste Depression. Trotzdem finden sie über Jahre hinweg keine Lösung. Das Haus in einer Autisten-Siedlung, das Momma gut gefällt, ist zu teuer; in einer anderen Siedlung aus Reihenhäusern aber würden sich Autisten nach Ansicht der Mutter eingeengt fühlen. Auch die Familien der beiden nicht behinderten Brüder von Kees Momma wollen und können die Verantwortung nicht tragen.
Was Henriette Momma nun stattdessen im Sinn hat, muss man vor dem Hintergrund der niederländischen Liberalität sehen und hat erregte Diskussionen ausgelöst: Sterbehilfe. „Wenn es nicht anders geht“, sagt sie, „dann soll er lieber tot sein, dann hätte er seinen Frieden.“ Während Kees einverstanden wäre, ist der Vater skeptisch: „Erst sollte man alles andere probieren, er leidet ja nicht unerträglich.“ Was ist nun wirklich „das Beste für Kees“? Haben ihn seine Eltern gar zu sehr verwöhnt?
Die Leiden und Freuden des Mannes mit dem akkuraten Scheitel bewegen die Niederländer. „Viele Autisten erzählen, dass sie sich in ihm erkennen“, sagt Nolte. Manche fühlen sich ermutigt, wenn Kees Momma von seiner abgeschlossenen autistischen Welt erzählt, die es ihm erlaube, seine „künstlerischen Gaben“ zu entwickeln und spezielle, ganz eigene Glücksmomente zu empfinden. Er erhält nun Ratschläge von allen Seiten: „Auch ich habe Probleme mit der Wärme“, meint eine an MS leidende Frau auf Facebook, „deshalb trage ich eine elektrische Eisweste.“ Andere bejubeln die Kraft und Originalität seiner Prosa und empfehlen ihm, einen Roman zu verfassen. In Kees Momma stecke ein Dichter aus der Zeit der Hochromantik, sagt der Linguist Guus Middag. Er bediene sich einer verstaubten, archaischen Sprache, „ein bisschen wie Beatrix“ (die frühere Königin), was wohl an seiner Isolation und dem alleinigen Kontakt zur Mutter liege. Andererseits könne man in Kees Momma auch den bekannten Schriftsteller Gerard Reve, einen bissigen Ironiker, erkennen. Wenn Momma immer wieder wortreich beklagt, die Behinderung habe ihm „all die Möglichkeiten zunichte gemacht“, sieht Middag gar Parallelen zur klassischen Tragödie: „Schaut her, der Mensch: Er leidet, und er weiß es. Das Schicksal von Kees rührt so an das Schicksal aller Menschen. Aber wir können das nicht so ausdrücken wie Kees.“
Mommas seltenes Talent, aus seiner Behinderung heraus über sich reflektieren zu können, ist eigentlich schon länger bekannt. In den Neunzigerjahren schrieb er zwei autobiografische Bücher, gab Interviews, war der „Train Man“. Aber erst die hohe Qualität des jetzigen Films hat ihn auf die große Bühne geführt. Auf der fühlt er sich wohl, nimmt seine Popularität erfreut zur Kenntnis, ist auch stolz darauf. Nicht zuletzt, weil er damit „ein Bewusstsein wecken und anscheinend Leidensgenossen helfen“ kann, wie er in einem jener Facebook-Briefe an Monique Nolte schreibt, in denen er alle paar Tage Auskunft über sich gibt. Er ist gut beschäftigt: Er erhält jetzt eine Menge Aufträge für Zeichnungen und Modelle, und er kniet sich in die Zeitungskolumnen hinein. Seine „beste Schreibkunst“ wolle er da sehen lassen, voller Ernst und Humor. „Als solcherart Schreibender und Redender versuche ich mir einen Weg in das weitere Leben zu bahnen. In der Hoffnung auf eine gute Zukunft.“
Eine seiner jüngsten Informationen aber lautet: „Liebe Monique, viele, die mich kennen, fragen sich, wie es mir geht. Antwort: nicht so gut. Ich hatte auf kühleres Wetter gehofft, das Gegenteil ist eingetreten. Hitze, überall Hitze, eine ganz üble Hitze.“