Quantcast
Channel: jetzt.de - SZ
Viewing all articles
Browse latest Browse all 3345

Kampf um den intimsten Ort

$
0
0
Wer verstehen will, was digitale Medien von analogen unterscheidet, sollte mal zwei baugleiche Mobiltelefone von Bekannten vertauschen. Selbst bei identischen technischen Daten und Programmen werden die Besitzer mit dem fremden Telefon nicht glücklich. Schuld daran ist – neben eigenen Kontaktdaten und SMS – das Prinzip der Timeline. Der personalisierte Strom von Nachrichten in Twitter, Facebook und ähnlichen Diensten symbolisiert beispielhaft das Grundmuster der nutzerabhängigen Nachrichtenauswahl als Alleinstellung der digitalen Mediennutzung.



Wie intim sind die Posts? Twitter schraubt an den Einstellungen

Wer ein Konto bei Facebook eröffnet oder ein Profil bei Twitter anlegt, wird sehr nachhaltig dazu aufgefordert, sich zu vernetzen: Das Anfreunden oder Folgen ist Basis der Netzwerke und Voraussetzung, um die Timeline, den chronologischen Nachrichtenstrom, gemäß den eigenen Interessen zu bestücken. Twitter steht derzeit in der Kritik, weil der Kurznachrichtendienst genau an diesem Prinzip des personalisierten Blicks auf die Welt herumbastelt.

Entsprechend ihrer Bedeutsamkeit für das digitale Leben wird hart um die optimale Gestaltung der Timeline gekämpft. Die Hoheit über sie verspricht die Hoheit über das wertvollste Gut im Netz: Aufmerksamkeit. Reichweite, Kontakte und Klicks werden über die Timeline hergestellt. Und je präziser die Aufmerksamkeitsfenster auf Basis der Interessen der Nutzer geöffnet werden können, umso wertvoller ist die Timeline als Geschäftsmodell: Für den Nutzer, der zu sehen bekommt, was ihn interessiert und für Werbekunden, die so sehr genau abmessen können, wem sie ihre Reklame schicken wollen und wem nicht.
Um die Timeline zu optimieren, brauchen die Anbieter vor allem Metadaten.

Je mehr, umso besser. Es reicht ihnen nicht, zu wissen, wer mit wem vernetzt ist und interagiert – sie werten auch aus, welche Inhalte geteilt werden. Dabei interessiert sie nicht, wie ein Text geschrieben oder ein Video geschnitten ist, sondern welche Reaktionen sie hervorrufen. Um das auswerten zu können, hat Twitter nun in einem Experiment damit begonnen, eine bislang eher ungenutzte Kategorie auszuwerten: den Favoriten. Twitters Entsprechung zum „Gefällt mir“-Button bei Facebook wird von den Nutzern derzeit aber sehr viel differenzierter eingesetzt: als Sicherung für besondere Tweets oder als Ausdruck der Zustimmung.

Zahlreiche US-Medien wie Readwrite, Mashable und The Atlantic berichten von einem Test, bei dem Twitter die Favoriten nun für eigene Zwecke einsetzt: Nutzern werden auch Beiträge angezeigt, die andere Nutzer mit einem Favoriten versahen. Das führt dazu, dass im intimsten aller Orte im Netz plötzlich Inhalte zu sehen sind, die man selber dort gar nicht bestellt hat. Das kann Belebung für neue Nutzer mit sich bringen, Stammnutzer empfinden das aber eher als störend, ja als Bedrohung für das Grundprinzip von Twitter.
Denn bei aller optischen Angleichung von Twitter, Facebook und Google Plus unterscheiden sich die Dienste bisher in der Ausgestaltung der Timeline:

Bei Twitter wird tatsächlich ungefiltert angezeigt, was von Nutzern veröffentlicht wird, denen man folgt – in Echtzeit. Facebook gewichtet dies in der Standardeinstellung „Hauptmeldung“ mit dem Ziel, Nutzer schneller zu den für sie vermeintlich relevanten Inhalten zu bringen – auch unabhängig vom aktuellen Geschehen. Das bringt Facebook zwar viel Kritik ein, aber auch mehr Möglichkeiten in der Gestaltung der Timeline – und damit Optionen für Geschäftsmodelle. Um abzusehen, dass Twitter sich auch in diese Richtung bewegt, braucht man nicht auf die ausstehende Stellungnahme zu warten, man muss nur die Gestaltung der Dienste vergleichen.

Aber vielleicht ist das gar nicht so bedrohlich, wie jetzt vielerorts behauptet wird, vielleicht bringt es in der Tat eine Verbesserung des Grundprinzips der personalisierten Timeline. Mehr Daten könnten auch mehr Nutzen für den Anwender mit sich bringen. Doch um das bewerten zu können, müssen die Personalisierungsspezialisten besser als bisher zeigen, was sie leisten: Sie müssen den Nutzer in die Lage versetzen, einen ungefilterten Blick auf seine Timeline zu werfen. In Anlehnung an den Publizisten Michael Seemann könnte man mehr Filtersouveränität fordern. Facebook deutet das mit der Funktion „Neueste Meldungen“ bisher nur sehr schlecht an. Besser wäre es, dem Nutzer weitere Gestaltungsmöglichkeiten zu geben, um seine Timeline anzuschauen, etwa mit Wertung von Kommentaren und Retweets oder ohne Favoriten und Likes.

Damit würde man die Personalisierung nicht nur auf die Inhalte, sondern auch auf das Prinzip der Timeline anwenden – und die Nutzer könnten sich selber zusammenstellen, was viele jetzt gefährdet sehen: Twitter, wie es sein sollte.

Viewing all articles
Browse latest Browse all 3345