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Engelserscheinung

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Manchmal ist man froh, wenn jemand das Raum-Zeit-Kontinuum durchbricht. Wenn jemand erklären kann, was sich ergeben hätte, wenn vor gut sieben Wochen alles anders gekommen wäre. Am späten Mittwochabend in Düsseldorf beispielsweise war die brenzlige Frage aufgekommen, ob Deutschland heute auch Weltmeister wäre, wenn am 13.Juli im WM-Endspiel von Rio de Janeiro beim Gegner Argentinien ein gewisser Ángel di María mitgespielt hätte? Ob heute auch der vierte Stern auf den deutschen Trikots prangen würde, wenn dieser 26 Jahre alte 75-Millionen-Euro-Mann an jenem Sonntag im Maracanã-Stadion nicht wegen einer Oberschenkelblessur hätte zuschauen müssen? Jener Mann, der am Mittwoch in Düsseldorf bei der 4:2-Revanche der Argentinier drei Treffer vorbereitet und ein Tor selbst geschossen hat.
Reine Spekulation so etwas? Nicht, wenn man ein Medium kennt. Der Bundestrainer Joachim Löw teilte am späten Mittwochabend mit: „Wir hätten die Argentinier an diesem 13. Juli auch mit Ángel di María geschlagen – an diesem Tag hätte er gegen uns nichts ausrichten können.“




Ángel di María war der überragende Mann gegen Deutschland.

Dann lächelte Löw. Man musste ihm einfach glauben.

Es ist schön, dass einen solche Gedanken nicht mehr quälen. Deutschland ist also laut Joachim Löw über jeden Zweifel erhaben und verdienter Weltmeister, auch wenn das am Mittwoch nicht so richtig zu erkennen war. Dem stark veränderten deutschen Team mit nur noch fünf Final-Teilnehmern in der Startelf war in der Arena am Rhein ein Ángel erschienen, ein Engel, der sie binnen 50 Minuten nach allen Regeln der Fußballkunst entzauberte. Sein Kosename ist fideo, Nudel.

Vor dem 1:0 schlenzte er Sergio Agüero (20.) den Ball mit dem Außenrist auf den Fuß, das 2:0 flankte er Erik Lamela auf den Spann zu dessen spektakulärem Volleyschuss unter die Latte (40.), das 3:0 legte die Nudel dem Verteidiger Federico Fernández per Freistoß auf den Kopf vor (47.). Und das 4:0 erzielte er selbst, indem er in den Strafraum sprintete und den Ball über den Torwart Roman Weidenfeller hinweg ins Netz lupfte (50.).

Danach gewährten die Argentinier den Deutschen 40 Minuten Gnade, die André Schürrle (52.) und Mario Götze (78.) zur Ergebnisverbesserung nutzen. Die argentinische Zeitung La Nación hat den Verdacht, dass di Marías Auswechslung Alemania enorm erleichterte, weil er den Champion sonst möglicherweise noch weiter lächerlich gemacht hätte.

Der Sieg sei nicht so wichtig gewesen, berichtete nachher der Held des Abends, kein Freund der großen Worte: „Wir wollten einen guten Eindruck hinterlassen und das tun, was der Trainer will.“ Trainer Gerardo Martino ist ja neu im Amt. Sein Vorgänger Alejandro Sabella hatte di María im Finale von Rio nicht aufgestellt, offiziell wegen dessen Verletzung aus dem Viertelfinale gegen Belgien. Zuletzt hieß es aber immer wieder, der begnadete Außenstürmer sei eigentlich schon wieder erholt gewesen und habe unbedingt spielen wollen. Gerüchteweise war Sabella dagegen oder auch di Marías damaliger Verein Real Madrid, der den Profi nach der WM möglichst unversehrt und teuer verkaufen wollte.

Geld ist ja die Antwort auf mehrere Fragen zu di Marías Wechsel vom Champions-League-Sieger aus Spanien zum britischen Krisenklub Manchester United. Warum gibt Real diesen Mann her? Warum geht er ausgerechnet zu ManUnited, das in dieser Saison nicht mal im Europapokal mitspielen darf? Und warum nennt di María als Motivationsgrund jenen neuen Manchester-Trainer Louis van Gaal, unter dem die Mannschaft keines ihrer bisherigen drei Saisonspiele gewonnen hat und im Liga-Cup beim Drittligisten MK Dons als B-Elf 0:4 untergegangen ist?

Freiwillig verschwand Ángel di María nicht aus Madrid, wie er nach seinem Abschied kürzlich in einem offenen Brief bekannt gab: „Bedauerlicherweise muss ich heute gehen“, schrieb er, „aber ich möchte klarstellen, dass das nie mein Wunsch war. Nach dem Gewinn der Décima (dem zehnten Europacup- bzw. Champions-League-Titel, Anm.) fuhr ich in der Hoffnung zur WM, eine Geste der Führung zu bekommen, aber die kam nie. Leider bin ich nicht nach dem fußballerischen Geschmack mancher Leute.“ Genauer: nicht nach dem Geschmack des Präsidenten Florentino Pérez, der lieber mit Schönlingen wie James Rodríguez, Gareth Bale und Javier Hernández alias Chicharito Trikots verkauft.

Manchester United überwies jedenfalls 59,7 Millionen Pfund, etwa 75 Millionen Euro, ein tolles Geschäft. „Und das haben sie nicht umsonst getan“, sagte am Mittwoch Argentiniens Coach Martino ohne einen Anflug von Ironie: „Für mich gehört di María zu den zehn besten Fußballern der Welt.“ Wobei, er zählte noch mal nach und erkannte, dass er zu den besten drei gehöre. „Da ist Leo“, sagte der Trainer und meinte den absenten Lionel Messi, „der ist von einem anderen Planeten, danach kommen di María und Cristiano Ronaldo“, der in Manchester ebenfalls mal die Nummer 7 trug. Auch Martino stellt sich nun die Frage, die sich 41 Millionen Argentinier stellen: „Man fängt an zu bedauern, dass er nicht im Finale dabei war.“


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