Oscar Pistorius war einer der größten Helden des jungen, des besseren Südafrikas. So seltsam das inzwischen klingt, man muss es sich einmal vergegenwärtigen, weil es anders noch viel irrer erscheint, dass an diesem heißen Donnerstag vor dem Gerichtsgebäude in Pretoria wieder die Demonstrantinnen standen. Mit Schildern, auf denen stand: „Ozzy, wir lieben dich“, oder einfach nur: „Unschuldig“. In Südafrikas Medien ging zuletzt eine Rechnung herum, wonach über den Mordprozess gegen den Sportler Pistorius, 27, bereits mehr berichtet worden ist als über die gesamte Fußball-Weltmeisterschaft 2010, die in Südafrika stattfand. Die WM hatte 25 Spieltage. Der Pistorius-Prozess 37 Verhandlungstage.
Nun ist das Finale gekommen. Drinnen im Gerichtsgebäude empfängt Pistorius an diesem Tag sein Urteil, und zwar gewissermaßen in kleinen Scheibchen, auf quälend langsame Weise – die Richterin Thokozile Masipa, 66, leitet ihre sämtlichen Überlegungen erst ausführlich her, bevor sie dem Angeklagten am Ende ihr Fazit verraten wird. Sie verurteilt ihn zwar nicht wegen vorsätzlichen Mordes an seiner Freundin Reeva Steenkamp, wie es die Staatsanwaltschaft gefordert hatte. Aber wohl doch wegen fahrlässiger Tötung – so viel wird am Donnerstag bereits klar, auch wenn die Richterin die Details erst am Freitag zu Ende erläutern will, in der zweiten Hälfte ihrer Urteilsverkündung.
Oscar Pistorius wurde vom Vorwurf des Mordes freigesprochen.
Über die äußere Handlung in der Tatnacht hat es so gut wie keinen Streit gegeben in diesem Prozess. Pistorius war sogar bereit gewesen, noch einmal nachzustellen, wie er am Abend des 14. Februar 2013 in seiner Wohnung aus dem Bett sprang, eine Waffe ergriff und brüllend durch die verschlossene Badezimmertür schoss. Viermal. Zu klären war nur, was währenddessen in seinem Kopf vorging – ob er irrig annahm, dass es ein Einbrecher irgendwie in sein Badezimmer geschafft hatte, oder ob er bewusst, einem Plan folgend, seine wehrlose Freundin erschießen wollte, die sich im Bad befand. „Es gibt einfach nicht genug Tatsachen, um eine solche These zu stützen“, sagt Richterin Masipa am Donnerstag. „Der Staat hat nicht zweifelsfrei beweisen können, dass der Angeklagte einen Mord plante.“
Und doch handelte Oscar Pistorius fahrlässig, sagt Masipa, denn er habe in der Tatnacht genug Zeit gehabt, um eine vernünftige Entscheidung zu treffen. Er mag gedacht haben, dass ihm das Recht auf Notwehr zustehe. Aber das war ein Fehler, und der war leicht vermeidbar. Das genügt für eine Gefängnisstrafe, wobei die Richterin das genaue Strafmaß erst zu einem wiederum späteren Zeitpunkt verkünden will.
„Nicht einmal der Teufel kann die Gedanken eines Mannes lesen“, hat ein britischer Lordrichter einmal gesagt. Wo die Juristen sich fragen müssen, was im Inneren eines Angeklagten vorgegangen ist, da regiert der Zweifel, und der wirkt sich immer zugunsten des Angeklagten aus. Richterin Masipa konnte sich nur vortasten ins Dunkle, sich allmählich eine Meinung bilden, die aber nie eine Gewissheit ist. Sie hat sich dafür entschieden, vorsichtig zu bleiben.
Ein entschiedenes Urteil bietet sie hinsichtlich des Charakters des Angeklagten.Hat der Sportheld Pistorius hinter seiner perfekten Fassade einen jähzornigen Frauenmörder versteckt, wie es die Anklage behauptete? Oder ist er „nur“ ein angstgestörter Waffennarr, wie es die Verteidigung nahelegte? Was ist da bitte noch der große Unterschied, antworteten viele in Südafrika schon vor dem ersten Gerichtstag, so oder so war der Absturz des Prominenten total. Doch die vielen Zuhörer, die nun Richterin Masipas langsamen, in einfachen Sätzen vorgetragenen Erläuterungen über mehrere Stunden folgen, erleben noch die restlose Dekonstruktion einer einst strahlenden Figur.
Der Angeklagte habe sich als „ausweichender Zeuge“ erwiesen, rügt Masipa. Selbst wenn man ihm im Prozess einfache, „straight-forward“-Fragen gestellt habe, habe er oft das Thema gewechselt und andere Zeugen angegriffen, anstatt sich selbst zu erklären. Oft verwickelte er sich in Widersprüche. „Er gab an, dass er, wenn er einen Menschen hätte töten wollen, auf Brusthöhe gezielt hätte“, sagt die Richterin. „Ich halte inne, um festzustellen, dass diese Behauptung nicht mit der Vorstellung zu vereinbaren ist, dass hier jemand geschossen hat ohne nachzudenken.“
Daraus zieht die Richterin zwar keine unvorsichtigen Schlüsse: „Die Feststellung, dass ein Angeklagter unaufrichtig ist, bedeutet nicht, dass der Angeklagte schuldig ist.“ Dennoch, es ist eine Bewertung, der sie viel Zeit widmet.
Südafrika ist ein junges Land, aber schon alt genug, um seine Politiker sattzuhaben. An positiven Identifikationsfiguren gibt es natürlich Nelson Mandela, danach aber nur noch Sportler. Und unter ihnen war keiner so faszinierend, für viele auch so inspirierend gewesen wie eben Oscar Pistorius, dem das Leben eine so große Hürde in den Weg gelegt hatte. Als Kleinkind mussten ihm beide Unterschenkel abgenommen werden, er ließ sich trotzdem nicht bremsen. Bei den Paralympics 2008 in Peking holte er alle Goldmedaillen, die ein Sprinter holen kann; vier Jahre später in London schrieb er Sportgeschichte, als er nicht nur bei den Paralympics, sondern auch bei den regulären Olympischen Spielen antrat. Als einziger Behinderter.
Oscar Pistorius, das war der Athlet, der sich in Interviews so nett und bescheiden zeigte wie der Junge von nebenan. Der sogar seinen eigenen Perfektionismus scherzhaft auf die Schippe nehmen konnte: „Wenn ich eine Scheibe Brot toaste, muss sie perfekt getoastet sein.“ Und der nach seinen sportlichen Triumphen stets seiner Mutter im Himmel dankte, jener alleinerziehenden Frau, deren Todestag er als Tattoo auf dem Arm trägt.
Sein Gesicht war eines, mit dem man in Südafrika fast alles verkaufen konnte. Er war ein Vorbild, vielleicht etwas mehr für die Weißen im Land, aber auch für viele Millionen Schwarze. Und dazu, schließlich, diese Freundin: Reeva Steenkamp war nicht nur ein Bikini-Model, das weltweit auf der Titelseite der Männerzeitschrift FHM vorgezeigt wurde, ein südafrikanischer Star, der sein Land in der Welt vertrat, ebenfalls eines der häufigsten Werbegesichter. Sie hatte auch einen Jura-Abschluss, nutzte ihren Twitter-Account für Aufrufe gegen sexuelle Gewalt, und sie war in Interviews nett. Ozzy und Reeva, für Südafrika war das wie David Beckham und Posh Spice mit einem Schuss Samuel Koch. Aus dieser moralischen Himmelshöhe ist Pistorius gestürzt.
Die Faszination des südafrikanischen Publikums, das seine Augen wochenlang nicht abwenden konnte von dem im Gerichtssaal elend verweint auftretenden Büßer Pistorius – in schwarzem Anzug mit beerdigungsschwarzer Krawatte –, war denn auch nicht angetrieben von der gespannten Frage, die sonst oft über einem Prozess schwebt: ob der Angeklagte sich aus der Grube herausziehen können wird. Das schied ja aus. Ein Freispruch stand nie zur Debatte. Sondern offen war nur die allerdings quälende Frage, wie es sein konnte, dass man sich derart getäuscht hatte in ihm, über all die Jahre.
Jene, die es nicht wahrhaben wollen, stehen vor dem Gerichtsgebäude mit den „Ozzy, wir lieben dich“-Schildern.
Den ersten Teil des Urteilsspruchs nimmt Oscar Pistorius am Donnerstagmittag unter Tränen auf. Die Eltern der getöteten Reeva Steenkamp sitzen nur wenige Meter von ihm entfernt im Publikum. Er hat sie im Vorbeigehen mit einem leisen „Good morning“ begrüßt.
2012, am Ende von Pistorius’ Medaillen-Gala bei den Olympischen Spielen in London, gab es einen Moment, der zumindest zweifeln lassen konnte an der Fassade: Pistorius musste sich auf der 200-Meter-Strecke der Paralympics geschlagen geben, er wurde nur Zweiter hinter dem beinamputierten Brasilianer Alan Oliveira. 21,45 Sekunden brachten Oliveira die Goldmedaille. Pistorius’ 21,52 Sekunden reichten für Silber, danach suchte er das erste Mikrofon, das er finden konnte, ätzte über die „unglaublich langen“ Lauf-Prothesen seines Konkurrenten; sie seien sicher länger als erlaubt. Ozzy, der schlechte Verlierer.
Die südafrikanischen Medien fanden das nicht witzig, auch nicht, als er sich später entschuldigte. Die Kommentatoren stutzten einen Moment lang, verwirrt. Dann gingen die Festspiele weiter, aber es war ein Moment, in dem kurz aufflackerte, dass Pistorius womöglich eine Emotionalität in sich trägt, die er bisher verbarg.
An diesem Freitag soll die Urteilsverkündung in Pretoria fortgesetzt werden.
Nun ist das Finale gekommen. Drinnen im Gerichtsgebäude empfängt Pistorius an diesem Tag sein Urteil, und zwar gewissermaßen in kleinen Scheibchen, auf quälend langsame Weise – die Richterin Thokozile Masipa, 66, leitet ihre sämtlichen Überlegungen erst ausführlich her, bevor sie dem Angeklagten am Ende ihr Fazit verraten wird. Sie verurteilt ihn zwar nicht wegen vorsätzlichen Mordes an seiner Freundin Reeva Steenkamp, wie es die Staatsanwaltschaft gefordert hatte. Aber wohl doch wegen fahrlässiger Tötung – so viel wird am Donnerstag bereits klar, auch wenn die Richterin die Details erst am Freitag zu Ende erläutern will, in der zweiten Hälfte ihrer Urteilsverkündung.
Oscar Pistorius wurde vom Vorwurf des Mordes freigesprochen.
Über die äußere Handlung in der Tatnacht hat es so gut wie keinen Streit gegeben in diesem Prozess. Pistorius war sogar bereit gewesen, noch einmal nachzustellen, wie er am Abend des 14. Februar 2013 in seiner Wohnung aus dem Bett sprang, eine Waffe ergriff und brüllend durch die verschlossene Badezimmertür schoss. Viermal. Zu klären war nur, was währenddessen in seinem Kopf vorging – ob er irrig annahm, dass es ein Einbrecher irgendwie in sein Badezimmer geschafft hatte, oder ob er bewusst, einem Plan folgend, seine wehrlose Freundin erschießen wollte, die sich im Bad befand. „Es gibt einfach nicht genug Tatsachen, um eine solche These zu stützen“, sagt Richterin Masipa am Donnerstag. „Der Staat hat nicht zweifelsfrei beweisen können, dass der Angeklagte einen Mord plante.“
Und doch handelte Oscar Pistorius fahrlässig, sagt Masipa, denn er habe in der Tatnacht genug Zeit gehabt, um eine vernünftige Entscheidung zu treffen. Er mag gedacht haben, dass ihm das Recht auf Notwehr zustehe. Aber das war ein Fehler, und der war leicht vermeidbar. Das genügt für eine Gefängnisstrafe, wobei die Richterin das genaue Strafmaß erst zu einem wiederum späteren Zeitpunkt verkünden will.
„Nicht einmal der Teufel kann die Gedanken eines Mannes lesen“, hat ein britischer Lordrichter einmal gesagt. Wo die Juristen sich fragen müssen, was im Inneren eines Angeklagten vorgegangen ist, da regiert der Zweifel, und der wirkt sich immer zugunsten des Angeklagten aus. Richterin Masipa konnte sich nur vortasten ins Dunkle, sich allmählich eine Meinung bilden, die aber nie eine Gewissheit ist. Sie hat sich dafür entschieden, vorsichtig zu bleiben.
Ein entschiedenes Urteil bietet sie hinsichtlich des Charakters des Angeklagten.Hat der Sportheld Pistorius hinter seiner perfekten Fassade einen jähzornigen Frauenmörder versteckt, wie es die Anklage behauptete? Oder ist er „nur“ ein angstgestörter Waffennarr, wie es die Verteidigung nahelegte? Was ist da bitte noch der große Unterschied, antworteten viele in Südafrika schon vor dem ersten Gerichtstag, so oder so war der Absturz des Prominenten total. Doch die vielen Zuhörer, die nun Richterin Masipas langsamen, in einfachen Sätzen vorgetragenen Erläuterungen über mehrere Stunden folgen, erleben noch die restlose Dekonstruktion einer einst strahlenden Figur.
Der Angeklagte habe sich als „ausweichender Zeuge“ erwiesen, rügt Masipa. Selbst wenn man ihm im Prozess einfache, „straight-forward“-Fragen gestellt habe, habe er oft das Thema gewechselt und andere Zeugen angegriffen, anstatt sich selbst zu erklären. Oft verwickelte er sich in Widersprüche. „Er gab an, dass er, wenn er einen Menschen hätte töten wollen, auf Brusthöhe gezielt hätte“, sagt die Richterin. „Ich halte inne, um festzustellen, dass diese Behauptung nicht mit der Vorstellung zu vereinbaren ist, dass hier jemand geschossen hat ohne nachzudenken.“
Daraus zieht die Richterin zwar keine unvorsichtigen Schlüsse: „Die Feststellung, dass ein Angeklagter unaufrichtig ist, bedeutet nicht, dass der Angeklagte schuldig ist.“ Dennoch, es ist eine Bewertung, der sie viel Zeit widmet.
Südafrika ist ein junges Land, aber schon alt genug, um seine Politiker sattzuhaben. An positiven Identifikationsfiguren gibt es natürlich Nelson Mandela, danach aber nur noch Sportler. Und unter ihnen war keiner so faszinierend, für viele auch so inspirierend gewesen wie eben Oscar Pistorius, dem das Leben eine so große Hürde in den Weg gelegt hatte. Als Kleinkind mussten ihm beide Unterschenkel abgenommen werden, er ließ sich trotzdem nicht bremsen. Bei den Paralympics 2008 in Peking holte er alle Goldmedaillen, die ein Sprinter holen kann; vier Jahre später in London schrieb er Sportgeschichte, als er nicht nur bei den Paralympics, sondern auch bei den regulären Olympischen Spielen antrat. Als einziger Behinderter.
Oscar Pistorius, das war der Athlet, der sich in Interviews so nett und bescheiden zeigte wie der Junge von nebenan. Der sogar seinen eigenen Perfektionismus scherzhaft auf die Schippe nehmen konnte: „Wenn ich eine Scheibe Brot toaste, muss sie perfekt getoastet sein.“ Und der nach seinen sportlichen Triumphen stets seiner Mutter im Himmel dankte, jener alleinerziehenden Frau, deren Todestag er als Tattoo auf dem Arm trägt.
Sein Gesicht war eines, mit dem man in Südafrika fast alles verkaufen konnte. Er war ein Vorbild, vielleicht etwas mehr für die Weißen im Land, aber auch für viele Millionen Schwarze. Und dazu, schließlich, diese Freundin: Reeva Steenkamp war nicht nur ein Bikini-Model, das weltweit auf der Titelseite der Männerzeitschrift FHM vorgezeigt wurde, ein südafrikanischer Star, der sein Land in der Welt vertrat, ebenfalls eines der häufigsten Werbegesichter. Sie hatte auch einen Jura-Abschluss, nutzte ihren Twitter-Account für Aufrufe gegen sexuelle Gewalt, und sie war in Interviews nett. Ozzy und Reeva, für Südafrika war das wie David Beckham und Posh Spice mit einem Schuss Samuel Koch. Aus dieser moralischen Himmelshöhe ist Pistorius gestürzt.
Die Faszination des südafrikanischen Publikums, das seine Augen wochenlang nicht abwenden konnte von dem im Gerichtssaal elend verweint auftretenden Büßer Pistorius – in schwarzem Anzug mit beerdigungsschwarzer Krawatte –, war denn auch nicht angetrieben von der gespannten Frage, die sonst oft über einem Prozess schwebt: ob der Angeklagte sich aus der Grube herausziehen können wird. Das schied ja aus. Ein Freispruch stand nie zur Debatte. Sondern offen war nur die allerdings quälende Frage, wie es sein konnte, dass man sich derart getäuscht hatte in ihm, über all die Jahre.
Jene, die es nicht wahrhaben wollen, stehen vor dem Gerichtsgebäude mit den „Ozzy, wir lieben dich“-Schildern.
Den ersten Teil des Urteilsspruchs nimmt Oscar Pistorius am Donnerstagmittag unter Tränen auf. Die Eltern der getöteten Reeva Steenkamp sitzen nur wenige Meter von ihm entfernt im Publikum. Er hat sie im Vorbeigehen mit einem leisen „Good morning“ begrüßt.
2012, am Ende von Pistorius’ Medaillen-Gala bei den Olympischen Spielen in London, gab es einen Moment, der zumindest zweifeln lassen konnte an der Fassade: Pistorius musste sich auf der 200-Meter-Strecke der Paralympics geschlagen geben, er wurde nur Zweiter hinter dem beinamputierten Brasilianer Alan Oliveira. 21,45 Sekunden brachten Oliveira die Goldmedaille. Pistorius’ 21,52 Sekunden reichten für Silber, danach suchte er das erste Mikrofon, das er finden konnte, ätzte über die „unglaublich langen“ Lauf-Prothesen seines Konkurrenten; sie seien sicher länger als erlaubt. Ozzy, der schlechte Verlierer.
Die südafrikanischen Medien fanden das nicht witzig, auch nicht, als er sich später entschuldigte. Die Kommentatoren stutzten einen Moment lang, verwirrt. Dann gingen die Festspiele weiter, aber es war ein Moment, in dem kurz aufflackerte, dass Pistorius womöglich eine Emotionalität in sich trägt, die er bisher verbarg.
An diesem Freitag soll die Urteilsverkündung in Pretoria fortgesetzt werden.