Für einen erfahrenen Goldschürfer gibt es nichts Schlimmeres, als wochenlang durch einen Fluss zu waten und nur Dreck und Steine zu finden. Dann taucht plötzlich ein junger Schnösel auf – ohne Schaufel und Sieb, dafür mit einer Karte für die Stellen mit den größten Nuggets. Die alten Goldgräber lästern über so viel Naivität – und gucken anschließend verdutzt, als der Grünschnabel tatsächlich einen glänzenden Brocken nach dem anderen aus dem Wasser zieht.
Lange Zeit war Reed Hastings, Gründer und Chef des Streamingportals Netflix, dieser erfolgreiche junge Schürfer – und noch viel mehr: Das Unternehmen war nicht nur Liebling der Zuschauer und Investoren, sondern zugleich ein Symbol für Gegenwart und Zukunft des Fernsehens. Netflix zeigte den etablierten Sendern, wie das heute so läuft mit dem Konsum von TV-Serien, zuletzt expandierte das Unternehmen in sechs europäische Länder, darunter Deutschland. Eine Erfolgsgeschichte. Doch am Mittwoch fiel der Aktienkurs im nachbörslichen US-Handel um mehr als 27 Prozent. Das bedeutete einen Wertverlust von mehr als sieben Milliarden Dollar.
Netflix: Der Algorithmus weiß, was gefällt
Zwei Gründe stehen hinter dem Absturz: Zwar konnte Netflix erneut gewaltige Goldnuggets in seinen Quartalszahlen präsentieren – der Umsatz stieg im Vergleich zum Vorjahresquartal um 27 Prozent auf mehr als 1,4 Milliarden Dollar, der Gewinn um 84 Prozent auf 59 Millionen Dollar – die Zahlen interessierten die Anleger aber wenig. Vielmehr musste das Unternehmen einräumen, die Erwartungen bei neuen Abonnenten nicht erfüllt zu haben. So war ein Plus von weltweit 3,69 Millionen Zuschauern prognostiziert, tatsächlich wurden es aber nur 3,02 Millionen.
Für die Enttäuschung macht Netflix zum einen die Preiserhöhung um einen Dollar pro Monat verantwortlich, zum anderen die geänderten Startdaten wichtiger Serien wie „Orange is the new Black“.
„Wir erwarten, unsere internen Prognosen regelmäßig zu verfehlen“, sagte Hastings im Gespräch mit Analysten. „Es ist unsere mittlere Schätzung – und wir werden in jedem Quartal entweder ein wenig darüber oder darunter liegen.“ Dass die Schätzung bei den Neuabonnenten weltweit um 22 und auf dem US-Markt sogar um 35 Prozent daneben lag, war für die Anleger dann doch mehr als nur „ein wenig“.
Der zweite, womöglich noch wichtigere Grund für die Nervosität der Investoren dürfte aber die Ankündigung der Bezahlsendergruppe Home Box Office (HBO) sein, ab 2015 ebenfalls Inhalte über das Internet anzubieten. „Es ist an der Zeit, alle Barrieren zu entfernen für all jene, die HBO haben möchten“, sagte HBO-Chef Richard Plepler. Am donnerstag folgte dann der Senderverbund CBS mit der Ankündigung, ebenfalls ein reines Online-Abo für seine Programme aufzulegen. Damit machen nicht mehr nur andere Streamingportale wie Hulu und Amazon Boden auf Netflix gut – es erscheinen auch Konkurrenten, die über funktionierende Abo-Modelle verfügen und viel Erfahrung mit der Produktion eigener Serien haben.
„Die Konkurrenz wird uns beide besser machen“, sagte Netflix-Chef Hastings mit Hinblick auf die HBO-Ankündigung. „Es gibt nun viele Quellen für Unterhaltung – und die Kunden werden bei vielen ein Abonnement abschließen.“ Das Auftauchen von HBO mache da keinen großen Unterschied, ohnehin seien auch die etablierten und frei empfangbaren Sender dabei, Inhalte ins Netz zu verschieben. Die Konkurrenz für Netflix wird also größer.
Mehr als 160 Jahre nach dem großen kalifornischen Goldrausch jagen die Glücksritter deshalb nicht mehr den Nuggets im Fluss hinterher, sondern basteln am besten Algorithmus, um detailliert zu erfahren, was die Kunden sehen möchten. Noch wähnt sich Netflix-Programmchef Ted Sarandos im Besitz dieses Schatzes – und deshalb im Vorteil gegenüber der Konkurrenz. Kommendes Jahr will er drei Milliarden Dollar in Inhalte investieren, und zwar nicht nur in Serien, sondern auch in Spielfilme. So hat sich das Unternehmen etwa die Rechte an der Fortsetzung des Kampfkunst-Films „Tiger and Dragon“ gesichert, der kommendes Jahr in einigen Imax-Kinos und gleichzeitig bei Netflix laufen soll. Zudem wird für vier Filme mit Adam Sandler kooperiert, der erste soll Ende 2015 exklusiv bei Netflix zu sehen sein.
Was zunächst nicht sonderlich spektakulär klingt – die Fortsetzung eines Überraschungserfolgs von vor 14 Jahren und Filme mit einem Komiker, der seinen Zenit überschritten hat – wurde maßgeblich durch Sarandos’ Algorithmus bestimmt: Welchen Schauspieler sehen die Nutzer gern? Welchen Regisseur mögen sie? Welches Genre bevorzugen sie? All das wissen die Netflix-Macher. In den Ländern, in denen sie aktiv sind, sehen die Kunden vor allem Komödien mit Adam Sandler. Die Fortsetzung des Martial-Arts-Hits soll Netflix den Einstieg in den asiatischen Markt erleichtern. Es ist also kein Experiment, das Hastings und Sarandos da wagen, sondern die konsequente Fortsetzung ihrer bereits im Seriengeschäft erfolgreichen Strategie.
„Wer mehr als 50 Millionen Haushalte begeistern möchte, der muss alles können“, sagt Anthony Wible von der Analysefirma Janney Montgomery Scott: „Sie brauchen Material für den Zehnjährigen, der eine gezeichnete Rennschnecke sehen will, für den Actionfan mit Vorliebe für Martial Arts – und natürlich für den Studenten, der sich kaputtlacht, wenn er Adam Sandler sieht.“ Netflix müsse sein Unterhaltungsportfolio also ständig erweitern, um sich auch weiterhin von der wachsenden Zahl der Konkurrenten abzuheben.
Das neue Alleinstellungsmerkmal sollen daher Filme sein, die entweder gleichzeitig in Imax-Kinos laufen oder exklusiv bei Netflix zu sehen sein werden. Die ganz große Revolution ist das noch nicht. Schließlich werden die neuen Teile großer Kino-Reihen wie „James Bond“, „Star Wars“, „Batman“, „The Avengers“ oder „Jurassic Park“ in den kommenden beiden Jahren – wie gehabt – allesamt zuerst im Kino zu sehen sein. Dennoch sendet Netflix eine Botschaft: Der traditionelle Vertriebsdreiklang – erst Kino, etwa 90 Tage später auf DVD, bei Bezahlsendern oder Streamingportalen, anschließend im frei empfangbaren Fernsehen – bald ebenso ein Relikt sein könnte wie die Tradition, dass die Zuschauer dann einschalten, wenn es die TV-Sender wollen.
Bisher verfügte Sarandos über den Algorithmus, der ihm am zuverlässigsten verriet, wo er das Gold findet, mit dem er das Geschäft revolutioniert. Mit der neue Konkurrenz, allen voran HBO, könnte sich das ändern. Denn auch die Neuen am Fluss haben modernes Werkzeug mitgebracht. Und auch sie wollen an die Nuggets.
Lange Zeit war Reed Hastings, Gründer und Chef des Streamingportals Netflix, dieser erfolgreiche junge Schürfer – und noch viel mehr: Das Unternehmen war nicht nur Liebling der Zuschauer und Investoren, sondern zugleich ein Symbol für Gegenwart und Zukunft des Fernsehens. Netflix zeigte den etablierten Sendern, wie das heute so läuft mit dem Konsum von TV-Serien, zuletzt expandierte das Unternehmen in sechs europäische Länder, darunter Deutschland. Eine Erfolgsgeschichte. Doch am Mittwoch fiel der Aktienkurs im nachbörslichen US-Handel um mehr als 27 Prozent. Das bedeutete einen Wertverlust von mehr als sieben Milliarden Dollar.
Netflix: Der Algorithmus weiß, was gefällt
Zwei Gründe stehen hinter dem Absturz: Zwar konnte Netflix erneut gewaltige Goldnuggets in seinen Quartalszahlen präsentieren – der Umsatz stieg im Vergleich zum Vorjahresquartal um 27 Prozent auf mehr als 1,4 Milliarden Dollar, der Gewinn um 84 Prozent auf 59 Millionen Dollar – die Zahlen interessierten die Anleger aber wenig. Vielmehr musste das Unternehmen einräumen, die Erwartungen bei neuen Abonnenten nicht erfüllt zu haben. So war ein Plus von weltweit 3,69 Millionen Zuschauern prognostiziert, tatsächlich wurden es aber nur 3,02 Millionen.
Für die Enttäuschung macht Netflix zum einen die Preiserhöhung um einen Dollar pro Monat verantwortlich, zum anderen die geänderten Startdaten wichtiger Serien wie „Orange is the new Black“.
„Wir erwarten, unsere internen Prognosen regelmäßig zu verfehlen“, sagte Hastings im Gespräch mit Analysten. „Es ist unsere mittlere Schätzung – und wir werden in jedem Quartal entweder ein wenig darüber oder darunter liegen.“ Dass die Schätzung bei den Neuabonnenten weltweit um 22 und auf dem US-Markt sogar um 35 Prozent daneben lag, war für die Anleger dann doch mehr als nur „ein wenig“.
Der zweite, womöglich noch wichtigere Grund für die Nervosität der Investoren dürfte aber die Ankündigung der Bezahlsendergruppe Home Box Office (HBO) sein, ab 2015 ebenfalls Inhalte über das Internet anzubieten. „Es ist an der Zeit, alle Barrieren zu entfernen für all jene, die HBO haben möchten“, sagte HBO-Chef Richard Plepler. Am donnerstag folgte dann der Senderverbund CBS mit der Ankündigung, ebenfalls ein reines Online-Abo für seine Programme aufzulegen. Damit machen nicht mehr nur andere Streamingportale wie Hulu und Amazon Boden auf Netflix gut – es erscheinen auch Konkurrenten, die über funktionierende Abo-Modelle verfügen und viel Erfahrung mit der Produktion eigener Serien haben.
„Die Konkurrenz wird uns beide besser machen“, sagte Netflix-Chef Hastings mit Hinblick auf die HBO-Ankündigung. „Es gibt nun viele Quellen für Unterhaltung – und die Kunden werden bei vielen ein Abonnement abschließen.“ Das Auftauchen von HBO mache da keinen großen Unterschied, ohnehin seien auch die etablierten und frei empfangbaren Sender dabei, Inhalte ins Netz zu verschieben. Die Konkurrenz für Netflix wird also größer.
Mehr als 160 Jahre nach dem großen kalifornischen Goldrausch jagen die Glücksritter deshalb nicht mehr den Nuggets im Fluss hinterher, sondern basteln am besten Algorithmus, um detailliert zu erfahren, was die Kunden sehen möchten. Noch wähnt sich Netflix-Programmchef Ted Sarandos im Besitz dieses Schatzes – und deshalb im Vorteil gegenüber der Konkurrenz. Kommendes Jahr will er drei Milliarden Dollar in Inhalte investieren, und zwar nicht nur in Serien, sondern auch in Spielfilme. So hat sich das Unternehmen etwa die Rechte an der Fortsetzung des Kampfkunst-Films „Tiger and Dragon“ gesichert, der kommendes Jahr in einigen Imax-Kinos und gleichzeitig bei Netflix laufen soll. Zudem wird für vier Filme mit Adam Sandler kooperiert, der erste soll Ende 2015 exklusiv bei Netflix zu sehen sein.
Was zunächst nicht sonderlich spektakulär klingt – die Fortsetzung eines Überraschungserfolgs von vor 14 Jahren und Filme mit einem Komiker, der seinen Zenit überschritten hat – wurde maßgeblich durch Sarandos’ Algorithmus bestimmt: Welchen Schauspieler sehen die Nutzer gern? Welchen Regisseur mögen sie? Welches Genre bevorzugen sie? All das wissen die Netflix-Macher. In den Ländern, in denen sie aktiv sind, sehen die Kunden vor allem Komödien mit Adam Sandler. Die Fortsetzung des Martial-Arts-Hits soll Netflix den Einstieg in den asiatischen Markt erleichtern. Es ist also kein Experiment, das Hastings und Sarandos da wagen, sondern die konsequente Fortsetzung ihrer bereits im Seriengeschäft erfolgreichen Strategie.
„Wer mehr als 50 Millionen Haushalte begeistern möchte, der muss alles können“, sagt Anthony Wible von der Analysefirma Janney Montgomery Scott: „Sie brauchen Material für den Zehnjährigen, der eine gezeichnete Rennschnecke sehen will, für den Actionfan mit Vorliebe für Martial Arts – und natürlich für den Studenten, der sich kaputtlacht, wenn er Adam Sandler sieht.“ Netflix müsse sein Unterhaltungsportfolio also ständig erweitern, um sich auch weiterhin von der wachsenden Zahl der Konkurrenten abzuheben.
Das neue Alleinstellungsmerkmal sollen daher Filme sein, die entweder gleichzeitig in Imax-Kinos laufen oder exklusiv bei Netflix zu sehen sein werden. Die ganz große Revolution ist das noch nicht. Schließlich werden die neuen Teile großer Kino-Reihen wie „James Bond“, „Star Wars“, „Batman“, „The Avengers“ oder „Jurassic Park“ in den kommenden beiden Jahren – wie gehabt – allesamt zuerst im Kino zu sehen sein. Dennoch sendet Netflix eine Botschaft: Der traditionelle Vertriebsdreiklang – erst Kino, etwa 90 Tage später auf DVD, bei Bezahlsendern oder Streamingportalen, anschließend im frei empfangbaren Fernsehen – bald ebenso ein Relikt sein könnte wie die Tradition, dass die Zuschauer dann einschalten, wenn es die TV-Sender wollen.
Bisher verfügte Sarandos über den Algorithmus, der ihm am zuverlässigsten verriet, wo er das Gold findet, mit dem er das Geschäft revolutioniert. Mit der neue Konkurrenz, allen voran HBO, könnte sich das ändern. Denn auch die Neuen am Fluss haben modernes Werkzeug mitgebracht. Und auch sie wollen an die Nuggets.