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Unheimlich schön

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Man kann sich den Neuigkeitsgenerator im Pop wie einen einarmigen Banditen vorstellen. Die einzelnen Motive, die auf den Scheiben rotieren, sind wohlbekannt. Erst die Kombination entscheidet darüber, ob das Ergebnis mit Langeweile zur Kenntnis genommen wird oder aber den Spieler elektrisiert. Wie beim neuen Album „You’re Dead“ von Flying Lotus. Der hat es mal wieder geschafft, dass alle, die sich für die Gegenwart von Pop interessieren, die Augen weit aufreißen. Man weiß nur nicht genau, ob vor Freude – oder vor Schreck.

Flying Lotus ist der Künstlername des 31-jährigen Produzenten, DJs und Musikers Steven Ellison aus Los Angeles. Seit 2003 veröffentlicht er anspruchsvolle elektronische Musik: cineastische, oft nervös-atonale Sounds, für die er viel Respekt erntete. Und zwar von Album zu Album mehr, was unter anderem daran lag, dass er sich verstärkt in Richtung der sogenannten Black Music, also Hip-Hop und R’n’B öffnete. Abstrakter weißer elektronischer Frickelsound ist ein alter Hut und tendenziell langweilig.

Ebenso abstraktes Blubbern und Ticken allerdings, das einen hypnotischen Groove hat, sich hörbar auf den legendären, 2006 verstorbenen Hip-Hop-Produzenten J Dilla bezieht und das noch dazu mit neuen Soul-Stimmen arbeitet – das war neu und interessant.

Flying Lotus ging diesen Weg nun weiter: Black Music ist jedoch der Anteil seines neuen Albums, der gewissermaßen am erwartbarsten war. So lässt Kendrick Lamar, der derzeit als einer der besten Rapper Amerikas gilt, auf „Never Catch Me“ seine unglaublich rasanten und lyrischen Reime über unruhig sprudelndem Sound hören. Der alte Gangster-Rap-Held Snoop Dogg, der sich mit seinem Reggae-Alter-Ego Snoop Lion zuletzt doch etwas unter Wert verkaufte, ruft auf „Dead Men’s Tetris“ seine Coolness in Erinnerung. Und auf dem besten Stück des Albums, auf „Coronus, The Terminator“, prüft die junge Sängerin Niki Randa über einem hypnotischen, breit dahin fließenden Sound-Strom, wie zeitgenössischer Gospel klingen könnte. Das alles ist toll und wird zur Popularität dieses Albums beitragen.

Das Motiv auf der zweiten Drehscheibe im einarmigen Banditen wird es den meisten Hörern sehr viel schwerer machen. Denn „You’re Dead“ ist ein Jazz-Album. Die Verbindung von Jazz und Pop ist eine alte und nicht immer glückliche.

Der Jazz spielt dabei – gerade wenn er mit elektronischer Musik fusioniert wird – oft nur eine Nebenrolle. Er soll für eine gewisse Lässigkeit sorgen. Flying Lotus, der mit Jazz aufgewachsen ist, die Pianistin Alice Coltrane war seine Großtante, geht einen anderen Weg. Der Jazz macht „You’re Dead“ nicht geschmeidig, sondern nervös. Ellison orientiert sich an der kollektiven Improvisation des Fusion-Jazz und an den Outer-Space-Sounds von Sun Ra. Wie ernst er es meint, zeigt sich daran, dass er mit dem Altmeister des elektrischen Pianos, mit Herbie Hancock, kollaboriert. Die ersten fünf Minuten des Albums sind eine sehr hohe Hürde: ein vielstimmiger Chor endlos mäandernder Bläser-, E-Gitarren-, und Sechs-Saiten-Bass-Improvisationen, darunter dystopische Synthesizer-Sounds und sehr kompliziertes Drum-Geklöppel. Aber auch eine hoch dosierte Aufwach-Spritze für den komatösen Riesen Jazz.

Das dritte und interessanteste Element von „You’re Dead“ ist jedoch die Tatsache, dass auf diesem Album eine neue Definition von Psychedelic – von Pop, der mit veränderten Bewusstseinszuständen spielt – versucht wird. Ellison machte bislang aus seiner Faszination für psychedelische Drogen nie einen Hehl, auf seinem letzten Album war sogar eine Hymne auf das Halluzinogen DMT.

„You’re Dead“ ist nun ein Konzeptalbum rund um den Tod geworden – genauer: den Übergang auf den unbekannten Kontinent des Todes. Das jedoch ist die psychedelische Urszene. Immer wieder wurde die Ich-Auflösung im Trip schließlich mit einer Reise ins Jenseits verglichen. Das Album-Cover, das eine Gestalt mit einem hell erleuchteten Lichthaupt zeigt, die von bizarren Wesen umgeben ist, zitiert die Visionen des DMT-Rausches, der in den vergangenen Jahren – im Zuge des schamanistischen Ayahuasca-Rituals – unter spirituell interessierten Hipstern ziemlich populär wurde. Die verstörende Frage – was erlebt man im Augenblick des Todes – informiert aber nicht nur das Artwork und die Texte des Albums, sondern vor allem den Sound: der ist dunkel und grell, unheimlich und schön zugleich, vor allem aber: verrückt.

Und um beim Bild des einarmigen Banditen zu bleiben: Die Kombination dieser drei Elemente, Hip-Hop, Jazz und Psychedelic, wird mit Sicherheit nicht dazu führen, dass Massen von Münzen aus dem Automaten prasseln. „You’re Dead“ wird sehr viele Hörer ratlos zurücklassen. Es ruft jedoch eine Kategorie in Erinnerung, die im Pop leicht in Vergessenheit gerät: Individualität. Alle Elemente verweisen auf die Person Steven Ellison. Der Hip-Hop auf sein Leben in der Black Community, Jazz auf seine Herkunft, und seine Besessenheit vom Tod, das betont er in Interviews immer wieder, hat damit zu tun, dass er ungewöhnlich oft mit dem Verlust geliebter Menschen konfrontiert wurde.

Das eigentlich Grandiose an diesem Album aber ist, dass diese drei Elemente eben nicht unverwandt nebeneinanderstehen, sondern vielfältig aufeinander verweisen. Dass sie ein Ganzes ergeben, das keinen Zweifel zulässt: So klingt das Jetzt.

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