Manchmal sprechen die Leute Mohammed Iqbel Ben Rejeb auf der Straße an, wenn er zu seiner Arbeit in einem Telefonladen auf der Avenue Bourguiba geht. Er ist in Tunesien bekannt, seitdem er das Schicksal seiner Familie ins Fernsehen getragen hat – ein Schicksal, das Tausende Familien teilen in dem Land mit seinen knapp elf Millionen Einwohnern. Sein Bruder Hamza, damals 23 Jahre alt und Informatikstudent, war mit Freunden nach Syrien gegangen, um sich der Al-Nusra-Front anzuschließen. Ben Rejeb hielt ein Foto von ihm in die Kamera, flehte den Bruder an, wieder nach Hause zu kommen. „Er hat nichts gesagt, er ist morgens mit einem Freund aufgebrochen, sie wollten an der Universität Papiere abholen“, erinnert sich Ben Rejeb an den Tag im März 2013, an dem Hamza verschwand.
Das nächste Lebenszeichen, das er von ihm bekam, war eine SMS aus Syrien. Ben Rejeb fand sich nach seinem TV-Auftritt auf den Titelseiten der Zeitungen. Er hatte eine Mauer des Schweigens gebrochen, über das Thema wollte hier lange kaum jemand reden, obwohl immer mehr junge Männer in den Krieg zogen. Etwa 3000 Tunesier sollen nach unabhängigen Schätzungen derzeit in Syrien und im Irak kämpfen, die meisten von ihnen für die Terrormiliz Islamischer Staat. Intern nennen die Behörden noch höhere Zahlen, von 4000 bis 5000 ist die Rede. Mehr als 9000 Tunesier haben sie nach eigenen Angaben aufgehalten. Hunderte sind schon ums Leben gekommen – und etwa 500 sollen wieder in ihre Heimat zurückgekehrt sein.
Oft der einzige Kontakt der Angehörigen zu rekrutierten IS-Kämpfern: SMS.
Tunesier stellen vermutlich die größte Gruppe ausländischer Kämpfer in Syrien und im Irak, wobei nicht klar ist, ob die Zahlen aus Libyen und anderen Ländern stimmen. „Es gibt in Tunesien kaum eine Familie, die nicht irgendwie davon betroffen ist“, sagt Ben Rejeb. Er hat eine Vereinigung gegründet, die diese Familien unterstützt, die versucht, deren Söhne zur Rückkehr zu bewegen, die ankämpft gegen mögliche Ursachen für den Exodus in den Krieg. Seit der Revolution vor mehr als dreieinhalb Jahren können die Menschen in Tunesien ihre Meinung weitgehend ungehindert kundtun. Viele sind dennoch frustriert, haben das Gefühl, dass sich nichts geändert hat, dass es ihnen wirtschaftlich sogar eher schlechter geht als unter dem gestürzten Diktator Zine el-Abidine Ben Ali. Es ist nicht schwierig, auf den Straßen von Tunis Jugendliche zu finden, die Sympathie für die Kopfabschneider des Islamischen Staates äußern – sei es aus Überzeugung oder um gezielt zu provozieren.
Doch warnt Ben Rejeb vor dem Schluss, dass vor allem sozial benachteiligte junge Männer in den Krieg ziehen, die keine Arbeit finden. „Sie kommen aus allen Schichten, viele von ihnen sind gut ausgebildet“, sagt er – und er kennt zahlreiche Fälle. Sein Bruder sei religiös gewesen, aber nicht extremistisch, behauptet er, auch wenn Hamza sich nach der Rückkehr, zehn Tage nach seinem Verschwinden, im Fernsehen als überzeugten Islamisten darstellte. „Das Problem sind die Imame, die Scheichs, die Indoktrinierung. Sie waschen den Jungen das Gehirn“, klagt Ben Rejeb, oft ohne dass es Eltern oder Freunde bemerken. „Die meisten sind zwischen 18 und 27 Jahren alt“, sagt er – und geistig noch nicht gefestigt. Auffällig viele Naturwissenschaftler seien unter ihnen. „Die Prediger erzählen denen dann etwas vom Dschihad in Syrien“, fährt er fort. „Und der Dschihad ist Pflicht für alle Muslime – aber in Syrien gibt es keinen Dschihad!“, ruft er. Der Mufti von Tunis habe das klargestellt. Ben Rejeb weigert sich daher, von Dschihadisten zu sprechen – er redet nur von Kämpfern.
Tatsächlich hat eine Reihe von Faktoren es Islamisten lange leicht gemacht, in Tunesien zu rekrutieren. Religiöser Extremismus ist nicht neu hier, er wurde nur unter der Diktatur wirksam von Polizei und Geheimdiensten unterdrückt. Seif Allah Ben Hassine etwa, bekannt unter dem Namen Abu Iyadh, kämpfte schon mit den Mudschaheddin gegen die Sowjets in Afghanistan. Später stieg er in die Führung von al-Qaida auf. Er warb zwei Landsleute an, die 2001 ein Selbstmordattentat auf Ahmed Schah Massud verübten, den Anführer der Nordallianz. 2003 geriet er in Tunesien in Haft, die Türkei hatte ihn abgeschoben. Wie Tausende andere Islamisten und politische Gefangene kam er nach der Revolution frei. Er gründete die inzwischen als terroristisch verbotene Ansar al-Schariah, die bis zu 40000 Anhänger haben soll. Zugleich wurden Anti-Terror-Einheiten der Polizei aufgelöst, waren sie doch Teil des Unterdrückungsapparates von Ben Ali.
Unbehelligt bekannten einflussreiche Imame wie Mokhtar al-Jebali oder der unter der Regierung der islamistischen Ennahda als Religionsminister amtierende Noureddine el-Khademi offen ihre Unterstützung für die Kämpfer in Syrien. In Hunderten Moscheen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen, werben salafistische Prediger bis heute Kämpfer an. Professionelle Rekrutierungszellen stellen Verbindungen zu den Milizen her, sie sollen zwischen 3000 und 10000 Dollar für jede Anwerbung erhalten, Geld, das oft aus dem Ausland kommt. Die IS-Milizionäre brauchen ausgebildete Leute, um ihren Parastaat am Laufen zu halten. Die finden sie unter den Tunesiern eher als unter anderen Nationalitäten. Zudem war der Landweg über Libyen lange eine billige und problemlose Route, um außer Landes und weiter nach Syrien zu gelangen – Tunesier brauchen kein Visum, sie werden nicht einmal elektronisch registriert. Die tunesischen Behörden haben die Überwachung der Grenze deswegen verstärkt.
Ben Rejeb wirft ihnen dennoch vor, zu wenig zu tun, gerade was die Rückkehrer angeht. „Sie sind an der Waffe ausgebildet, manche haben Menschen getötet“, warnt er. „Sie sind wie eine Bombe.“ Sie würden von der Polizei befragt und überwacht, manche auch verurteilt und eingesperrt. Aber niemand kümmere sich darum, sie wieder in die Gesellschaft zu integrieren, das Gedankengut in ihrem Kopf zu entschärfen. Irgendwann, fürchtet Ben Rejeb, „werden sie explodieren wie ein Vulkan“.
Das nächste Lebenszeichen, das er von ihm bekam, war eine SMS aus Syrien. Ben Rejeb fand sich nach seinem TV-Auftritt auf den Titelseiten der Zeitungen. Er hatte eine Mauer des Schweigens gebrochen, über das Thema wollte hier lange kaum jemand reden, obwohl immer mehr junge Männer in den Krieg zogen. Etwa 3000 Tunesier sollen nach unabhängigen Schätzungen derzeit in Syrien und im Irak kämpfen, die meisten von ihnen für die Terrormiliz Islamischer Staat. Intern nennen die Behörden noch höhere Zahlen, von 4000 bis 5000 ist die Rede. Mehr als 9000 Tunesier haben sie nach eigenen Angaben aufgehalten. Hunderte sind schon ums Leben gekommen – und etwa 500 sollen wieder in ihre Heimat zurückgekehrt sein.
Oft der einzige Kontakt der Angehörigen zu rekrutierten IS-Kämpfern: SMS.
Tunesier stellen vermutlich die größte Gruppe ausländischer Kämpfer in Syrien und im Irak, wobei nicht klar ist, ob die Zahlen aus Libyen und anderen Ländern stimmen. „Es gibt in Tunesien kaum eine Familie, die nicht irgendwie davon betroffen ist“, sagt Ben Rejeb. Er hat eine Vereinigung gegründet, die diese Familien unterstützt, die versucht, deren Söhne zur Rückkehr zu bewegen, die ankämpft gegen mögliche Ursachen für den Exodus in den Krieg. Seit der Revolution vor mehr als dreieinhalb Jahren können die Menschen in Tunesien ihre Meinung weitgehend ungehindert kundtun. Viele sind dennoch frustriert, haben das Gefühl, dass sich nichts geändert hat, dass es ihnen wirtschaftlich sogar eher schlechter geht als unter dem gestürzten Diktator Zine el-Abidine Ben Ali. Es ist nicht schwierig, auf den Straßen von Tunis Jugendliche zu finden, die Sympathie für die Kopfabschneider des Islamischen Staates äußern – sei es aus Überzeugung oder um gezielt zu provozieren.
Doch warnt Ben Rejeb vor dem Schluss, dass vor allem sozial benachteiligte junge Männer in den Krieg ziehen, die keine Arbeit finden. „Sie kommen aus allen Schichten, viele von ihnen sind gut ausgebildet“, sagt er – und er kennt zahlreiche Fälle. Sein Bruder sei religiös gewesen, aber nicht extremistisch, behauptet er, auch wenn Hamza sich nach der Rückkehr, zehn Tage nach seinem Verschwinden, im Fernsehen als überzeugten Islamisten darstellte. „Das Problem sind die Imame, die Scheichs, die Indoktrinierung. Sie waschen den Jungen das Gehirn“, klagt Ben Rejeb, oft ohne dass es Eltern oder Freunde bemerken. „Die meisten sind zwischen 18 und 27 Jahren alt“, sagt er – und geistig noch nicht gefestigt. Auffällig viele Naturwissenschaftler seien unter ihnen. „Die Prediger erzählen denen dann etwas vom Dschihad in Syrien“, fährt er fort. „Und der Dschihad ist Pflicht für alle Muslime – aber in Syrien gibt es keinen Dschihad!“, ruft er. Der Mufti von Tunis habe das klargestellt. Ben Rejeb weigert sich daher, von Dschihadisten zu sprechen – er redet nur von Kämpfern.
Tatsächlich hat eine Reihe von Faktoren es Islamisten lange leicht gemacht, in Tunesien zu rekrutieren. Religiöser Extremismus ist nicht neu hier, er wurde nur unter der Diktatur wirksam von Polizei und Geheimdiensten unterdrückt. Seif Allah Ben Hassine etwa, bekannt unter dem Namen Abu Iyadh, kämpfte schon mit den Mudschaheddin gegen die Sowjets in Afghanistan. Später stieg er in die Führung von al-Qaida auf. Er warb zwei Landsleute an, die 2001 ein Selbstmordattentat auf Ahmed Schah Massud verübten, den Anführer der Nordallianz. 2003 geriet er in Tunesien in Haft, die Türkei hatte ihn abgeschoben. Wie Tausende andere Islamisten und politische Gefangene kam er nach der Revolution frei. Er gründete die inzwischen als terroristisch verbotene Ansar al-Schariah, die bis zu 40000 Anhänger haben soll. Zugleich wurden Anti-Terror-Einheiten der Polizei aufgelöst, waren sie doch Teil des Unterdrückungsapparates von Ben Ali.
Unbehelligt bekannten einflussreiche Imame wie Mokhtar al-Jebali oder der unter der Regierung der islamistischen Ennahda als Religionsminister amtierende Noureddine el-Khademi offen ihre Unterstützung für die Kämpfer in Syrien. In Hunderten Moscheen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen, werben salafistische Prediger bis heute Kämpfer an. Professionelle Rekrutierungszellen stellen Verbindungen zu den Milizen her, sie sollen zwischen 3000 und 10000 Dollar für jede Anwerbung erhalten, Geld, das oft aus dem Ausland kommt. Die IS-Milizionäre brauchen ausgebildete Leute, um ihren Parastaat am Laufen zu halten. Die finden sie unter den Tunesiern eher als unter anderen Nationalitäten. Zudem war der Landweg über Libyen lange eine billige und problemlose Route, um außer Landes und weiter nach Syrien zu gelangen – Tunesier brauchen kein Visum, sie werden nicht einmal elektronisch registriert. Die tunesischen Behörden haben die Überwachung der Grenze deswegen verstärkt.
Ben Rejeb wirft ihnen dennoch vor, zu wenig zu tun, gerade was die Rückkehrer angeht. „Sie sind an der Waffe ausgebildet, manche haben Menschen getötet“, warnt er. „Sie sind wie eine Bombe.“ Sie würden von der Polizei befragt und überwacht, manche auch verurteilt und eingesperrt. Aber niemand kümmere sich darum, sie wieder in die Gesellschaft zu integrieren, das Gedankengut in ihrem Kopf zu entschärfen. Irgendwann, fürchtet Ben Rejeb, „werden sie explodieren wie ein Vulkan“.