Andreas Huckele alias Jürgen Dehmers bekommt in München den Geschwister-Scholl-Preis für seine herausragende Schilderung der Ereignisse an der Odenwaldschule.
Am Ende kam er doch, der direkte Bezug: 'Die Geschwister Scholl haben durch das, was sie getan haben, ihr Leben verloren. Ich habe durch das, was ich getan habe, mein Leben gewonnen.' Der Mann, der das sagt, heißt Andreas Huckele, bisher bekannt unter seinem Pseudonym Jürgen Dehmers, unter dem 2011 auch sein Buch 'Wie laut soll ich denn noch schreien?' erschienen ist. Dafür, dass er den Mut aufbrachte, die sexuelle Gewalt an Deutschlands Vorzeige-Reformschule, der Odenwaldschule, während der Ägide des pädophilen Schulleiters Gerold Becker mit nachgerade Kohlhaas"scher Ausdauer publik zu machen, wurde er in der Großen Aula der Ludwig-Maximilians-Universität in München mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet. Mit der Ehrung konnte er endlich den Tarnnamen ablegen und damit - für ihn eine große Erleichterung - seine Doppelexistenz beenden.
Autor Andreas Huckele
Huckele ist selbst Lehrer geworden. Und Langstreckenläufer. SZ-Redakteur Tanjev Schultz, der ihn publizistisch lange Zeit begleitet hat, sprach Huckele in seiner Laudatio direkt an: 'Laufen ist Ihr Ding. Weglaufen nicht.' Da dieser nun nach 13 Jahren endlich gehört wird - ein erster Artikel über die Missstände an der Odenwaldschule in der Frankfurter Rundschau 1999 versandete folgenlos -, tritt der blonde, mit 43 Jahren jugendlich-alerte Mann sehr aufrecht auf, selbstbewusst und, ja doch, auch forsch. Das Vorwärts, die Attacke gehören zu seiner Überlebensstrategie wie das ständige Misstrauen, die Skepsis und die Unfähigkeit, sich 'ungetrübt zu freuen'. Und nun, da vor dem einst sprachlosen, durch permanente sexuelle Übergriffe gedemütigten Opfer die Menschen in der Uni aufstehen, um ihm als nun Bepreisten und in Lobreden Gepriesenen zu applaudieren, erfüllt sich sein Wunsch, dass sich doch an diesem Abend alle mit ihm ungetrübt freuen möchten.
Denn die Wahl des heurigen Scholl-Preisträgers hat so manchen irritiert, ist Huckele doch in der langen Reihe der bisher Erwählten der erste und einzige, dessen couragiertes Engagement sich nicht gegen ein politisches System richtet. Das 'System Gerold Becker' ist, wenn man so will, ein Politikon als skandalöser Auswuchs einer missverstandenen gesellschaftlichen Libertinage, in der - so lautete auch Beckers Credo für 'seine' Schule - alles erlaubt ist. Wenn das Skandalöse aber, etwa die Tatsache, dass jedes fünfte Kind missbraucht wird, nicht öffentlich skandalisiert wird, weil es unangenehm ist hinzuhören und hinzusehen, dann krankt die Gesellschaft an sich. 'Unsere Gesellschaft ist brüchig', sagte Schultz.
Auch heute. Und nicht nur vor 30, 40 Jahren. In den 70er und 80er Jahren schlug längst nicht nur im 'System Becker' die Grenze von der sexuellen Befreiung hin zur sexuellen Gewalt um. Die Nivellierung der Hierarchie zwischen Lehrern und Schutzbefohlenen entgleiste in gewalttätigen Übergriffen. Das wurde lange Jahre ausgeblendet und ignoriert, zumal sich nicht nur Bundespräsident Richard von Weizsäcker gern mit dem Reformpädagogen Hartmut von Hentig in der Odenwaldschule zeigte und damit indirekt die dortigen Schändlichkeiten sanktionierte.
Der Fisch stinkt vom Kopf her. Münchens Oberbürgermeister Christian Ude stellte sie, die rhetorische Frage, ob Kritik an heutigen Missständen ein Akt der Zivilcourage sein könne, da einem hier doch nichts drohe. Dass Huckeles Buch von 20Verlagen abgelehnt wurde, bevor es von Rowohlt gedruckt wurde, wertete er als Versagen der Zivilgesellschaft, wie er sie eigentlich für unmöglich gehalten hatte. Er sieht darin ein Pendant zum Staatsversagen in der Verfolgung der NSU. Und, so Ude: 'Das Buch beschreibt auch Vorkommnisse in unserer Stadt.' Nein, der Preis sei nicht überflüssig: 'Gerade in diesem Jahr stehen wir vor dem Versagen in der Aufklärung einer Mordserie und einer Zivilgesellschaft, die Zeitungsartikel und ein Buch ignorierten', sagte Ude, 'und die wegschauten, um die Reformpädagogik und ihre vermeintlich guten Zwecke zu schonen'.
Ude erinnerte an seine Rede anlässlich der postumen Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises an die in Putins Russland ermordete Anna Politkovskaja. An seine Formulierung, dass ein moderner Staat schuldig würde durch sein Versagen. Nun, angesichts der NSU wie auch angesichts der Missbrauchsfälle in München müsse man sich an die eigene Nase fassen. 'Russische Verhältnisse', so dachte sicher mancher der geladenen Gäste, herrschten auch in der Judikative im Fall Gustl Mollath.
Wegschauen, vertuschen, und das, was das Vorstellungsvermögen erst einmal überschreitet, nicht glauben: Andreas Huckele macht Mut, nicht nur die Spitze des Eisbergs, wie im aktuellen BBC-Missbrauchsskandal, sehen zu wollen, sondern den ganzen Eisberg. Für die Odenwald-Schule fordert er: 'Der Laden muss geschlossen werden.' Und, ganz im Sinne des Gründervaters der Reform-Pädagogik, John Dewey, für die Kinder eine Welt, die ihnen eine unversehrte Zukunft ermöglicht.
Am Ende kam er doch, der direkte Bezug: 'Die Geschwister Scholl haben durch das, was sie getan haben, ihr Leben verloren. Ich habe durch das, was ich getan habe, mein Leben gewonnen.' Der Mann, der das sagt, heißt Andreas Huckele, bisher bekannt unter seinem Pseudonym Jürgen Dehmers, unter dem 2011 auch sein Buch 'Wie laut soll ich denn noch schreien?' erschienen ist. Dafür, dass er den Mut aufbrachte, die sexuelle Gewalt an Deutschlands Vorzeige-Reformschule, der Odenwaldschule, während der Ägide des pädophilen Schulleiters Gerold Becker mit nachgerade Kohlhaas"scher Ausdauer publik zu machen, wurde er in der Großen Aula der Ludwig-Maximilians-Universität in München mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet. Mit der Ehrung konnte er endlich den Tarnnamen ablegen und damit - für ihn eine große Erleichterung - seine Doppelexistenz beenden.
Autor Andreas Huckele
Huckele ist selbst Lehrer geworden. Und Langstreckenläufer. SZ-Redakteur Tanjev Schultz, der ihn publizistisch lange Zeit begleitet hat, sprach Huckele in seiner Laudatio direkt an: 'Laufen ist Ihr Ding. Weglaufen nicht.' Da dieser nun nach 13 Jahren endlich gehört wird - ein erster Artikel über die Missstände an der Odenwaldschule in der Frankfurter Rundschau 1999 versandete folgenlos -, tritt der blonde, mit 43 Jahren jugendlich-alerte Mann sehr aufrecht auf, selbstbewusst und, ja doch, auch forsch. Das Vorwärts, die Attacke gehören zu seiner Überlebensstrategie wie das ständige Misstrauen, die Skepsis und die Unfähigkeit, sich 'ungetrübt zu freuen'. Und nun, da vor dem einst sprachlosen, durch permanente sexuelle Übergriffe gedemütigten Opfer die Menschen in der Uni aufstehen, um ihm als nun Bepreisten und in Lobreden Gepriesenen zu applaudieren, erfüllt sich sein Wunsch, dass sich doch an diesem Abend alle mit ihm ungetrübt freuen möchten.
Denn die Wahl des heurigen Scholl-Preisträgers hat so manchen irritiert, ist Huckele doch in der langen Reihe der bisher Erwählten der erste und einzige, dessen couragiertes Engagement sich nicht gegen ein politisches System richtet. Das 'System Gerold Becker' ist, wenn man so will, ein Politikon als skandalöser Auswuchs einer missverstandenen gesellschaftlichen Libertinage, in der - so lautete auch Beckers Credo für 'seine' Schule - alles erlaubt ist. Wenn das Skandalöse aber, etwa die Tatsache, dass jedes fünfte Kind missbraucht wird, nicht öffentlich skandalisiert wird, weil es unangenehm ist hinzuhören und hinzusehen, dann krankt die Gesellschaft an sich. 'Unsere Gesellschaft ist brüchig', sagte Schultz.
Auch heute. Und nicht nur vor 30, 40 Jahren. In den 70er und 80er Jahren schlug längst nicht nur im 'System Becker' die Grenze von der sexuellen Befreiung hin zur sexuellen Gewalt um. Die Nivellierung der Hierarchie zwischen Lehrern und Schutzbefohlenen entgleiste in gewalttätigen Übergriffen. Das wurde lange Jahre ausgeblendet und ignoriert, zumal sich nicht nur Bundespräsident Richard von Weizsäcker gern mit dem Reformpädagogen Hartmut von Hentig in der Odenwaldschule zeigte und damit indirekt die dortigen Schändlichkeiten sanktionierte.
Der Fisch stinkt vom Kopf her. Münchens Oberbürgermeister Christian Ude stellte sie, die rhetorische Frage, ob Kritik an heutigen Missständen ein Akt der Zivilcourage sein könne, da einem hier doch nichts drohe. Dass Huckeles Buch von 20Verlagen abgelehnt wurde, bevor es von Rowohlt gedruckt wurde, wertete er als Versagen der Zivilgesellschaft, wie er sie eigentlich für unmöglich gehalten hatte. Er sieht darin ein Pendant zum Staatsversagen in der Verfolgung der NSU. Und, so Ude: 'Das Buch beschreibt auch Vorkommnisse in unserer Stadt.' Nein, der Preis sei nicht überflüssig: 'Gerade in diesem Jahr stehen wir vor dem Versagen in der Aufklärung einer Mordserie und einer Zivilgesellschaft, die Zeitungsartikel und ein Buch ignorierten', sagte Ude, 'und die wegschauten, um die Reformpädagogik und ihre vermeintlich guten Zwecke zu schonen'.
Ude erinnerte an seine Rede anlässlich der postumen Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises an die in Putins Russland ermordete Anna Politkovskaja. An seine Formulierung, dass ein moderner Staat schuldig würde durch sein Versagen. Nun, angesichts der NSU wie auch angesichts der Missbrauchsfälle in München müsse man sich an die eigene Nase fassen. 'Russische Verhältnisse', so dachte sicher mancher der geladenen Gäste, herrschten auch in der Judikative im Fall Gustl Mollath.
Wegschauen, vertuschen, und das, was das Vorstellungsvermögen erst einmal überschreitet, nicht glauben: Andreas Huckele macht Mut, nicht nur die Spitze des Eisbergs, wie im aktuellen BBC-Missbrauchsskandal, sehen zu wollen, sondern den ganzen Eisberg. Für die Odenwald-Schule fordert er: 'Der Laden muss geschlossen werden.' Und, ganz im Sinne des Gründervaters der Reform-Pädagogik, John Dewey, für die Kinder eine Welt, die ihnen eine unversehrte Zukunft ermöglicht.