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In der Superkamera

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Technisch gesehen könnte heute wahrscheinlich jeder Mensch sein Leben in voller Länge als Film festhalten und ins Netz stellen. Wer das anschauen soll, ist eine andere Frage und gehört zu den verwirrenden Dingen, die mit Handykamera und Internet aufgetaucht sind. Die fürchterliche Unordnung im Netz hört nicht auf. Oder die Unsicherheit, was auf den Bildern in Wirklichkeit zu sehen ist. Oder die vielen Katzen. Auf der anderen Seite ist das Web heute etwas, das früher in SciFi-Fantasien vorkam: Eine Superkamera, die weltweit alles sieht.



Mittlerweile kann man fast sein ganzes Leben als Video festhalten. Jetzt gibt es online einen Ort für dieses Material.

Der Hamburger Dokumentarfilmer und Produzent Stephan Lamby ist jemand, der sich in seinen Arbeiten typischerweise der Aufregung entzieht, die das Netz gerne erzeugt. Zu seinen Vorlieben zählen das lange Gespräch, die Decodierung von Macht mit dem Mittel des Porträts, Wirtschaftsanalyse. Bemerkenswerterweise hat Lamby in dieser Woche ein Projekt gestartet, das die Mittel des Web für den Dokumentarfilm in voller Konsequenz ausreizt. Die Online-Plattform Dbate.de zeigt Filme, die aus Videoblogs und Skype-Interviews entstanden sind. Der Impuls kam bei dem Film My Tsunami, den Lambys Firma Ecomedia 2011 kurz nach dem Seebeben in Japan herstellte: Augenzeugen berichteten via Web und zeigten Handyfilme. Lamby spricht von einem „Tauschgeschäft“: Videoblogger überlassen ihr Material, das Dbate professionell bearbeitet, und können die Filme gelegentlich selbst weiter nutzen. Finanziell profitieren sie nur in Ausnahmefällen – etwa beim Weiterverkauf an Sender.

So erhält man zum Beispiel, gefilmt von den Studentinnen Angelina Sambur und Ilona Leto, Videos aus der ostukrainischen Stadt Donezk, die immer noch beschossen wird. Oder man schaut deutschen Männern bei dem zu, was sie in Brasilien während der Fußball-WM treiben. Glückliche Männer sind immer erbaulich, relevant ist aber vor allem das kommunikative Prinzip von Dbate. Die Plattform setzt grundlegende Veränderungen im Dokugeschäft um, die mit der Digitalisierung möglich werden. Am eminentesten ist noch nicht einmal, dass sich die Rolle des Filmemachers verschiebt – in Richtung eines Prüfers, Verwalters und Monteurs von fremdem Material, das über soziale Netzwerke aufgespürt wird. Nein, das entscheidende Experimentierfeld betrifft die Frage, wie sehr der Dokumentarfilm noch auf die Ausstrahlung über einen Rundfunksender angewiesen sind. Wenn man die globale Filmwirtschaft ansieht, ist die Antwort einfach: Online ist längst eine Verbreitungsform mit eigenen Vermarktungswegen wie Netflix oder Watchever.

Bei Lamby soll daraus ein Geschäftsmodell für Bewegtbildjournalismus werden, das seiner Firma auf Dauer neue Erlöse bringt: Durch Weitervermarktung an TV-Sender – vereinbart sind für 2015 Videotagebücher beim WDR, darunter Beiträge krebskranker Menschen, die ihre eigene Therapie filmen – und durch Werbeeinnahmen. Dafür muss Publikum her, Community, Quote. So gibt es bei Dbate auch die webaffinen Formen Unterhaltung und Kontroverse – etwa mit einem Interview der YouTube-Kanalarbeiterin Joyce Ilg oder einem Streitgespräch zwischen dem Kriegsfotografen Christoph Bangert und Cicero-Ressortchef Alexander Kissler über die Frage, ob man Terrorvideos zeigen soll oder nicht.

Die eigene Ethik umreißt Dbate mit dem Slogan „No Pets! No Porn!“. Trotzdem extrem niedlich: FDP-Präsidiumsmitglied Wolfgang Kubicki und Interviewer Lamby witzeln, wer von beiden tiefer gesunken ist, dass sie jetzt über Skype miteinander reden.

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