Jedes Jahr am zweiten Donnerstag im November ruft Südkorea den Ausnahmezustand aus: An diesem Tag machen alle Primaner des Landes gleichzeitig Suneung, die nationale Universitäts-Aufnahmeprüfung. Dieses Jahr waren es etwas mehr als 640000 etwa 18-Jährige. In den Schulen, in denen die Examen stattfinden, sperrt die Polizei die Straßen, damit niemand gestört wird. Jedes Jahr bringt sie einige Prüflinge mit Blaulicht hin, die im Verkehr stecken geblieben sind oder sich sonst verspäteten. Viele Taxifahrer bieten den Absolventen Fahrten umsonst an, um ihnen zu helfen. Ein Flugverbot gilt für die Zeit, in der das Hören und Verstehen englischer Vokabeln geprüft wird.
Akzeptierte Studenten für die renommierte Tokyo Universität.
Wenn irgendeine Berufsgruppe gerade streikt, was in Südkorea nicht selten vorkommt, dann unterbricht sie ihren Arbeitsausstand extra für diesen Tag. Die Medien machen die Aufnahmeprüfung zum Thema des Tages, Geschäfte verkaufen Glücksbringer: Kleine Gabeln zum Beispiel, ein Besteck, das für koreanisches Essen nicht benutzt wird. Die Gabel soll den Schülern eher bildlich dabei helfen, die richtige Antwort herauszupicken.
Geprüft wird Koreanisch und koreanische Literatur, Geografie und Geschichte, Englisch, Mathematik und Naturwissenschaften. Noch am Donnerstagabend wurden die richtigen Antworten veröffentlicht. Auf ihre Resultate müssen die Schüler und ihre Familien allerdings noch bis zum 3.Dezember warten. Die Punktzahl entscheidet mit, an welche Uni man kommt.
Bildung hat in der koreanischen Gesellschaft einen enorm hohen Stellenwert. Einerseits ist das Tradition in einer Kultur, die den Buchdruck bereits lange vor Gutenberg erfunden und sich schon im 15. Jahrhundert eine eigene – und wie Experten sagen, die weltweit logischste – Schrift geschaffen hat. Andererseits ist mit der Entscheidung, ob und wo man hier studiert, das Leben weitgehend vorgezeichnet. Viele Großkonzerne stellen nur Absolventen von Top-Universitäten ein.
Koreanische Familien machen die Ausbildung ihrer Kinder deshalb zur obersten oder sogar einzigen Priorität. Dazu schicken sie schon Kleinkinder in die Hagwon, kommerzielle Paukschulen, die den Kindern gezielt Examensstoff einhämmern. Von den 70000 solcher Abendschulen bietet die Hälfte Vorbereitungskurse für den Mittelschuleintritt an.
Viele Kinder gehen vier bis fünf Abende pro Woche in den Hagwon, oft bis spät in die Nacht. In der U-Bahn nicken sie dann über ihrem Schulranzen ein. Derweil managen die Mütter ihre Stundenpläne, damit nur keine Minute verloren geht. Der Erziehungsminister legte vor einigen Jahren fest, die Hagwon müssten spätestens um 22 Uhr schließen. Doch die Regionalverwaltungen halten sich nicht an diese Regel: Wo kämen wir denn hin, wenn die Polizei lernwillige Jugendliche am Studieren hindern würden, heißt es.
Auch in Japan besuchen die meisten Kinder abends Paukschulen, die hier „Juku” heißen. Viele bereits seit dem Kindergarten. Die Kleinsten üben monatelang die immer gleichen Multiplikationsreihen. Erklärt wird im Juku nicht, nur geübt. Dafür zahlen Eltern von Primarschülern mehrere Hundert Euro pro Monat, jene von Mittelschülern oft tausend. Nach Schätzung der Japan Times setzt Japans Nachhilfe-Industrie jährlich 10 Billionen Yen um, 70 Milliarden Euro. Die Juku-Industrie profitiere vom Versagen der öffentlichen Schulen, so das Blatt.
Am Tag der Universitäts-Aufnahmeprüfung mache er gar nicht auf, sagt Kim Dae Soo, der Wirt eines auf Seetang-Gerichte spezialisierten Restaurants im koreanischen Fernsehen. „Da kommt doch eh keiner.“ In Südkorea gibt es nämlich diese Weisheit: Seetang ist schlüpfrig, wer das am Prüfungstag isst, dem glitscht das Wissen davon. Isst der Südkoreaner hingegen die Süßigkeit Taffy oder Mochi-Reiskuchen, dann bleibt kleben, was man gelernt hat. Manche Mütter kleben deshalb Taffy ans Schultor. Wo viel Stress ist, da herrscht offenbar auch besonders viel Aberglauben: „Vor Suneung darf man sich die Haare nicht waschen”, lacht Schüler Ye Jun Nyoung. „Man könnte das Gelernte ja wegspülen.”