Papst Franziskus macht sich Sorgen um Europa.
Der Papst war für vier Stunden nach Straßburg gekommen, um zuerst das Europaparlament mit seinen 751 Abgeordneten aus den EU-Staaten zu besuchen und dann den Europarat, in dem 47 Staaten des Kontinents vertreten sind. Zuletzt hatte vor mehr als 25 Jahren Papst Johannes Paul II. im Oktober 1988 die europäischen Institutionen besucht; damals war Europa noch zwischen Ost und West geteilt.
Franziskus beklagte in beiden Reden, dass Europa krank, müde und pessimistisch geworden sei. Man gewinne den Eindruck „der Alterung, die Impression eines Europas, das Großmutter und nicht mehr fruchtbar und lebendig ist“, sagte er vor dem EU-Parlament; die großen Ideale hätten ihre Anziehungskraft verloren „zugunsten von bürokratischen Verwaltungsapparaten“. Im Europarat redete er vom „Bild eines verletzten Europas“, das Krisen „nicht mehr mit der früheren Lebenskraft und Energie zu bewältigen“ vermöge.
Eindringlich wandte er sich gegen die zunehmende „Selbstverliebtheit“ der Europäer. Eine der meistverbreiteten Krankheiten sei die Einsamkeit. „Das wird speziell sichtbar bei den alten Menschen, die oft ihrem Schicksal überlassen sind, wie auch bei den Jugendlichen, die keine Bezugspunkte und keine Zukunftschancen haben“, sagte der aus Argentinien stammende Papst. Aber auch bei den vielen Armen in Europa und „im verlorenen Blick der Migranten, die hierhergekommen sind, auf der Suche nach einer besseren Zukunft“, sei die Einsamkeit unübersehbar.
Dabei sei der Mensch von seiner Natur her ein Beziehungswesen. Heute aber bestehe die Gefahr, dass er „zu einem bloßen Räderwerk in einem Mechanismus herabgewürdigt“ werde, „der ihn nach dem Maß eines zu gebrauchenden Konsumgutes behandelt“. Wenn dann das Leben „nicht mehr zweckdienlich“ sei, werde es „ohne viel Bedenken ausgesondert“. Dies treffe Kranke im Endstadium, verlassene Alte ohne Pflege oder „Kinder, die vor der Geburt getötet werden“. Zu den wichtigsten Faktoren, die diesen Egoismus in Europa fördern, zählt der Papst auch die „dramatischen“ Konsequenzen der Wirtschaftskrise. „Welche Würde soll jemals einer finden, der keine Nahrung oder das Allernotwendigste zum Leben hat und – schlimmer noch – dem die Arbeit fehlt, die ihm Würde verleiht?“, fragte der Papst.
Aus der Sicht des Papstes trägt die politische Klasse an diesen Entwicklungen eine Mitschuld. Ihre Debatten würden von technischen und wirtschaftlichen Fragen beherrscht, „auf Kosten einer authentischen anthropologischen Orientierung“. Zunehmend werde die Kraft der Demokratie durch die Überbewertung des freien Marktes geschwächt. „Die Wirklichkeit der Demokratien am Leben zu erhalten, ist eine Herausforderung dieses geschichtlichen Moments“, sagte Franziskus. Er appellierte an die europäischen Staaten, eine gemeinsame und solidarische Flüchtlingspolitik zu verfolgen. „Man kann nicht hinnehmen, dass das Mittelmeer zu einem großen Friedhof wird“, sagte er. „Die Kähne, die täglich an den Küsten Europas landen, sind gefüllt mit Männern und Frauen, die Annahme und Hilfe benötigen.“
Im Europarat ging der Papst auch auf die Spannungen in Osteuropa ein. Ohne den Ukraine-Konflikt zu erwähnen, äußerte er sein Bedauern darüber, dass der Friede in Europa „leider“ noch oft verletzt werde. „Wie viel Schmerz und wie viele Tote gibt es noch auf diesem Kontinent, der den Frieden herbeisehnt und doch leicht den Versuchungen von einst verfällt!“, sagte er. Konflikte dürften nicht beschönigt werden, man müsse sich ihnen stellen.
Gegen Mittag war der Papst von nahezu allen Abgeordneten des Parlaments mit einer Ovation verabschiedet worden, sogar von Abgeordneten der Linken. „Sie geben Orientierung in Zeiten der Orientierungslosigkeit“, sagte Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD). Im Vorfeld hatte es auch Kritik von einigen Abgeordneten am geplanten Auftritt des Papstes gegeben: Dieser vertrage sich nicht mit der Trennung von Staat und Kirche, argumentierten sie.
Auf dem Rückflug aus Straßburg äußerte sich der Papst auch zur Bekämpfung des islamistischen Terrors. Er schließe Gespräche mit der Organisation „Islamischer Staat“ nicht von vornherein völlig aus, wenn dadurch größeres Leid vermieden werden kann. „Ich gehe immer davon aus, dass man nie aufgeben soll. Vielleicht kann man in der Tat keinen Dialog führen, aber dennoch darf man nie die Tür zum Gespräch verschließen.“ Allerdings sollten einzelne Staaten nicht ohne „internationalen Konsens“ gegen Terroristen vorgehen. Sonst drohe „eine Art Anarchie auf hohem Niveau“.