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Grasgeflüster

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„Lust for Life" heißt einer der bekanntesten Songs von Iggy Pop. Wer also wäre prädestinierter, Walt Whitmans „Kinder Adams" seine Stimme zu geben als der (einst bis zur Selbstzerstörung) lebenshungrige Godfather of Punk? Der sechszehnteilige Gedichtzyklus aus Whitmans überbordendem Lebenswerk „Leaves of Grass" feierte auf unerhörte Weise den Menschen: seine Kraft, Schönheit, Körperlichkeit. Was im Amerika des 19. Jahrhunderts sogleich zum Verbot des gesamten Werkes führte. Iggy Pop, seit Jahrzehnten ein Ausbund an Muskeln und Sehnen, spricht nun die Originalpartien im Hörstück „Kinder Adams/Children of Adam" von Kai Grehn. Eine Idealbesetzung.



In einer neuen Hörbuchfassung wurden Walt Whitmans "Kinder Adams" eingelesen.

Seit vor fünf Jahren Jürgen Brôcan die erste vollständige deutsche Übersetzung der „Grasblätter" vorlegte, ist die Gründungsurkunde der amerikanischen Poesie auch hierzulande wieder verstärkt ins Blickfeld geraten. Die Produktion von Kai Grehn kann als Ausdruck dieses neuerwachten Interesses gesehen werden. Auch wenn der Berliner Autor und Hörspielmacher (Deutscher Hörbuchpreis 2012 für Charles Baudelaires „Die künstlichen Paradiese") bereits 2005 den Zyklus für den Fotoband „Children of Adam" von Paul Cava ins Deutsche übertrug.

Nun könnte man Grehns Fassung an Brôcans bzw. älteren Übersetzungen messen. Ist es etwa geschickt das Gedicht „O Hymen! OHymenee!" mit „O Hochzeit! OHochzeitslied" zu übersetzen, anstatt, wie Brôcan, mit „O Hymen! OHeirat!", was die sexuelle Konnotation, mit der Whitman spielte, direkt zum Ausdruck bringt? An dieser Stelle aber ist es interessanter, sich mit der Hörspielfassung selbst zu beschäftigen. Grehn holte zehn wunderbare Schauspieler von Martin Wuttke über Josef Ostendorf und Jule Böwe bis Marianne Sägebrecht vor das Mikro und ließ jeden von ihnen ein Gedicht einsprechen – jedoch nicht das großartige „ ISing the Body Electric". Wegen dessen Länge?

Grehn ordnete die Gedichte neu an. Er mag dafür Gründe gehabt haben, ein interpretatorischer Zugewinn ist jedoch nicht erkennbar. Zwischen die Gedichte schiebt er stets das Original ein, gesprochen von Iggy Pop mit ruhiger, aber kraftvoll-energetischer Stimme. Dagegen hat Kai Grehn die deutschen Sprecher größtenteils angehalten, ihre Partien zu flüstern und zu hauchen. Er setzt auf zurückhaltende Erotik anstatt auf impulsive Sexualität, was dem Zyklus einen anderen, nämlich melancholisch-zweifelnden Charakter verleiht. Nur wenige Male wird die Stimme erhoben. So darf Martin Wuttke freudig „Aufs neue steigt zum Garten die Welt empor" deklamieren, und Marianne Sägebrecht trägt sowieso mit ihrer eigenen Sprachmagie vor.

„Ohne die Oper hätte ich die Grasblätter nicht schreiben können", hat Whitman gesagt. Seine Gedichte sind wahrhaft Musik. Für die Musik im Hörspiel sorgen „alva noto" und „Tarwater", zu hören ist statt großer Oper unterkühltes Computer- und Gitarrengefrickel. Doch gerade indem Grehn sprachlich wie musikalisch auf Reduktion und Zurücknahme setzt, bekommt seine Hörspielfassung paradoxerweise, was sie richtigerweise zu vermeiden versucht: Pathos. Denn bedeutungsschweres Pathos verträgt Whitman nicht. Wie es geht, zeigt Iggy Pop, dessen komplette Lesung ohne Unterbrechung auf einer zweiten CD beigefügt ist. Man mag sie sich immer wieder anhören.

Walt Whitman: Kinder Adams/Children of Adam. Mit Iggy Pop, Martin Wuttke, Marianne Sägebrecht u.a. 2 CDs, 110 Minuten. Hörbuch Hamburg 2014, 14,99 Euro. 

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