Der Name der mutmaßlichen Täter lautet Kouachi. Saïd Kouachi und Chérif Kouachi; Söhne algerischer Einwanderer. Der ältere der Brüder wird am 7. September 1980 geboren, der Jüngere am 29. November 1982. Beide auf dem rechten Seine-Ufer im 10. Pariser Arrondissement, dem Arrondissement de l’Entrepôt. Geboren in derselben Stadt, in der sie gut 30 Jahre später zwölf Menschen töten werden.
Saïd Kouachi und Chérif Kouachi, die am vergangenen Mittwoch die Satirezeitschrift Charlie Hebdo überfallen und zwölf Menschen getötet haben sollen.
Saïd und Chérif Kouachi verlieren früh ihre Eltern. Einen Teil ihrer Kindheit verbringen sie im westfranzösischen Rennes in einem Heim, bis sie in eine Pflegefamilie kommen. Der neue Vater ist Franzose, zum Islam übergetreten. Sie wachsen auf in einem Einwanderer-Viertel, wie so viele ohne große Hoffnung, einen guten Platz im Leben zu finden. 2008 steht der jüngere Bruder mit drei anderen vor Gericht. Bei dem Prozess geht es um den Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung mit dem Ziel, Terrorakte zu verüben. Auch Saïd Kouachi, der ältere, war festgenommen worden, kommt jedoch gleich wieder frei. Seinem Bruder drohen aber bis zu zehn Jahre Haft als Mitglied eines islamistischen Rings: der „ Buttes-Chaumont“, benannt nach dem Park in dem sich seine Mitglieder trafen.
Der Anwalt Vincent Ollivier, der Saïd Kouachi vertritt, sagte nach dem Prozess der Presse: „Das sind einfach junge Männer von 22 Jahren, die sich ein Ticket nach Syrien gekauft haben, inklusive Rückflug.“ Heute, direkt nach dem Attentat, sagt Ollivier: „Ich frage mich, ob wir nicht einfach Zeitbomben geschaffen haben, indem wir damals alle eingesperrt haben.“ Die Probleme, sagt Ollivier, begannen mit Farid Benyettou, den viele als „Guru“ bezeichnen, und der sich selbst zum „Emir“ ernannte.
Die vier jungen Männer vor Gericht, die sich von der Schule, von der Straße und vom Sportplatz her kennen und gelegentlich Jobs als Pizzaboten haben, sind wie viele andere Altersgenossen unter den Einfluss eines radikalen Islamisten geraten, unter den Einfluss von Farid Benyettou, auch er in Paris geboren, als Kind algerischer Eltern.
2003 lernen die Kouachis Benyettou in der Moschee Adda’wa im Viertel Stalingrad kennen, nicht weit vom Schnellstraßenring Périphérique, der die Stadt umschließt. Benyettou ist damals schon dabei, zu so etwas wie einer kleinen Berühmtheit zu werden. Seit seinem 16. Lebensjahr wohnt er mit dem polizeibekannten Salafisten Youssef Zemmouri zusammen, seinem Schwager. Von Ende 2000 an trägt Benyettou das arabische Kopftuch, die Kufiya. Dazu eine überdimensionierte Brille und lange, helle Locken. Der Polizei fällt er erstmals während Demonstrationen gegen das Kopftuchverbot auf. Er organisiert dort öffentliche Gebete. Ein Ermittler beschreibt, wie Benyettou sich einer Gruppe arabisch-traditionell gekleideter Jugendlicher gegenübersetzt und sie zum Gebet anleitet, „mit einer unglaublichen Inbrunst.“
Diese unglaubliche Inbrunst kann man den Brüdern Kouachi damals noch nicht attestieren. Noch während seines Prozesses 2008 bezeichnet sich Saïd Kouachi als „Gelegenheitsmuslim“. Er kifft und hat eine Freundin.
Benyettou ist es, der Kouachi mit Lektüre und Videos versorgt, die sein Phlegma in Aggression verwandeln. Der selbsternannte Emir schart junge Männer um sich, unterrichtet sie in dem, was er unter Islam versteht. Dazu gehört der Hass auf die USA, und auch dies: Dass für den Glauben mit der Waffe gekämpft werden muss. Das Netzwerk des „Buttes-Chaumont“ radikalisiert zwischen 2003 und 2006 Muslime, um sie als Krieger zu rekrutieren für den irakischen Arm der al-Qaida. Dutzende ließen sich dafür gewinnen, mindestens drei starben im Einsatz. Einer von ihnen als Selbstmordattentäter.
Es dauerte kein Jahr, sagen die vier Angeklagten vor Gericht, bis auch sie bereit waren, in den Krieg zu ziehen. Zur Ausbildung gehört nicht nur die weltanschauliche Unterweisung, sondern auch Fitnesstraining im Viertel, Laufen im Stadion und im Park von Buttes-Chaumont, bei jedem Wetter. Einer aus der Zelle gibt ihnen den ersten Unterricht im Gebrauch von Kalaschnikows. Auf dem Bahnsteig einer Metro-Station, zwischendurch, beim Warten auf den nächsten Zug.
Den Familien der jungen Männer fällt auf, dass sie nicht mehr rauchen und dealen. Dass sie in ihren Zimmern durch islamistische Websites surfen, bemerken sie nicht. Nach und nach brechen junge Männer aus der Gruppe über Syrien an die Front im Irak auf. In Syrien werden sie von Salafisten geschult. Ihren Angehörigen sagen sie, sie wollten ihr Koran- und Arabisch-Wissen vertiefen. Wer kneifen will, wird als Feigling niedergemacht.
Für Chérif Kouachi soll es im Januar 2005 in den Kampf gehen, doch die französischen Polizisten haben die Spur aufgenommen. Ehe er das Flugzeug nach Damaskus besteigen kann, wird er verhaftet. Als er in Sportklamotten und Basketballschuhen vor Gericht steht, sagt er, wie auch die anderen: Ihn hätten die Fernsehbilder von den amerikanischen Foltermethoden im Gefängnis von Abu Ghraib motiviert. Es sei ihm um Rache gegangen, schreibt die französische Libération. Er bekommt nicht zehn, sondern drei Jahre Haft, 18 Monate davon auf Bewährung.
Der Verteidiger von Chérif Kouachi lässt damals mitteilen, sein Mandant sei dankbar für die Haft, ihm Falle ein Stein vom Herzen. Und Thamer Bouchnak, der mit Kouachi zusammen hatte ausreisen sollen, sagt, er habe nur „ein Abenteuer mit seinem Freund Chérif“ erleben wollen. Thamer Bouchnaks Verteidiger beschreibt seinen Mandanten als einen Mann, der eigentlich Fußballspieler werden wollte und sich bei früheren Besuchen in Syrien sehr verloren gefühlt habe, da er schließlich kein Arabisch spreche. Chérif Kouachi, sagt die Verteidigung, sei damals ein „ahnungsloses Kind“ gewesen, „das nicht wusste, was es mit seinem Leben anfangen sollte, und das von einem Tag auf den anderen Leute traf, die ihm das Gefühl gaben, wichtig zu sein“.
Die Spur der Männer verliert sich nach 2008. Kouachi arbeitet an der Fischtheke in einem Supermarkt und macht Krafttraining. Erst im Jahr 2010 taucht sein Name erneut im Zusammenhang mit islamistischen Bestrebungen auf.
Die französische Anti-Terrorpolizei verdächtigte ihn, mit früheren Komplizen aus dem Umfeld von „Buttes-Chaumont“ einen Gesinnungsgenossen aus dem Gefängnis befreien zu wollen. Dabei handelte es sich um Ait Ali Belkacem, ein ehemaliges Mitglied der algerischen Gruppierung GIA, der wegen des Anschlags auf einen Pariser Regionalzug im Oktober 1995 zu lebenslanger Haft verurteilt worden war. Wieder wird gegen Chérif Kouachi ermittelt, von Mai bis Oktober 2010 sitzt er erneut im Gefängnis. Doch die Beweise reichen nicht für eine Anklage, die Ermittlungen werden 2013 endgültig eingestellt.
Sein älterer Bruder Saïd Kouachi, 34, spielt in diesen Ermittlungen nur eine kleine Rolle. Er taucht am 12. März 2010 in einer polizeilichen Überwachungsaktion auf. Aber wegen fehlender Hinweise kommen die Ermittler nicht weiter. Zeugen, die ihn nun nach den Morden in Paris auf Fahndungsfotos wiedererkannt haben, sagen, dass er zuletzt in Reims lebte und arbeitslos war. Er habe im Schatten seines Bruders gestanden.
Inzwischen gilt als sicher, dass die Brüder den Kontakt zu „Buttes-Chaumont“ nicht abreißen ließen. Eine Gruppe mit der auch einer der meistgesuchten Dschihadisten der Welt Kontakt hatte: Salim Benghalem. Sein Name taucht am 24. September auf einer Schwarzen Liste der USA auf. Der Franzose Salim Benghalem ist 34 Jahre alt, soll sich seit 2012 in Syrien aufhalten und ist laut amerikanischer Quellen Mitglied des Islamischen Staates und verantwortlich für zahlreiche Hinrichtungen.
Und eine weitere Figur gehörte nach Informationen des Magazins Le Point wohl auch zum Umgang von Chérif Kouachi: Djamel Beghal, der als Terrorist 2005 zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde wegen eines geplanten Anschlags auf die Pariser US-Botschaft. Eine zweite Verurteilung datiert von 2013 – wieder wegen eines versuchten Terroraktes. Die Verbindungen reichen möglicherweise sogar noch weiter: Zum Netzwerk von Buttes-Chaumont gehörte auch der tunesischstämmige Franzose Boubaker al-Hakim, darauf wies nun der französische Islam-Experte Jean-Pierre Filiu hin. Al Hakim kämpfe jetzt für den IS in Syrien. Für Filiu ist es deshalb nicht anders vorstellbar, als dass der IS den Anschlag auf Charlie Hebdo in Auftrag gegeben hat.
Ob Chérif Kouachi und möglicherweise auch sein Bruder nach dem Prozess „Buttes-Chaumont“ als Dschihadisten die Praxis des Tötens und Überwindens aller Skrupel in Syrien gelernt haben, ist bisher Spekulation. Dass aber Chérif wie die Dschihadisten zu denken gelernt hatte, dafür hat er nun den Beweis geliefert.
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Geschichte einer Radikalisierung
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