Recht und Gerechtigkeit mögen nicht immer das Gleiche sein. Manchmal aber gibt es sie: Urteile, die in weiten Teilen der Bevölkerung für zufriedene Genugtuung sorgen.
Eines davon hat im Januar das Amtsgericht Düsseldorf gefällt und entschieden: Mieter dürfen auf der Toilette ihrer Wohnung im Stehen urinieren. Die Verrichtung der Notdurft in aufrechter Haltung gehöre „zum vertragsgemäßen Gebrauch einer Mietwohnung“ (Az.: 42 c 10583/14).
Früher ging es um Kinderlärm oder Haustiere. Da diese Themen jedoch mittlerweile gerichtlich geklärt sind, wenden sich Mieter spezielleren Angelegenheiten zu.
Im konkreten Fall wollte der Vermieter eines bekennenden Stehpinklers 1900 Euro der Kaution einbehalten, weil der Marmorboden der Toilette seinen Glanz verloren hatte. Als Ursache dafür hatte ein eigens eingeschalteter Gutachter Urinspritzer ausgemacht, die der Unbeugsame dort hinterlassen hatte. Der Richter hielt das für glaubwürdig. Dennoch schlug er sich auf die Seite des Mieters. Begründung: „Trotz der in diesem Zusammenhang zunehmenden Domestizierung des Mannes ist das Urinieren im Stehen noch weit verbreitet. Jemand, der diesen früher herrschenden Brauch noch ausübt, muss zwar regelmäßig mit bisweilen erheblichen Auseinandersetzungen mit – insbesondere weiblichen – Mitbewohnern, nicht aber mit einer Verätzung des Marmorbodens rechnen.“
Ein Anlass findet sich immer . . .
Die Männerwelt feixte. Für Fachleute sind Verfahren dieser Art indes nichts Ungewöhnliches. „Die Toleranz, Belästigungen durch die Nachbarn zu tolerieren, sinkt konstant“, beobachtet Christian Langgartner, Rechtsanwalt aus München. „Konflikte, bei denen es um die persönliche Lebensführung geht, gehören zu den modernen Klassikern des Miet- und Nachbarschaftsrechts“, sagt auch Inka-Marie Storm, Referentin für Miet-und Immobilienrecht beim Eigentümerverband Haus & Grund.
Die Gründe für diese Entwicklung: Viele Sachfragen – Kinderlärm, Haustierhaltung, Berechnung der Quadratmeterzahl – sind inzwischen geklärt und bieten kaum noch Raum für eine gerichtliche Auseinandersetzung. Wer seinen Vermieter oder Nachbarn vor Gericht bringen will, muss also kreativer werden. Zudem schließen immer mehr Menschen eine Rechtsschutzversicherung ab. Dadurch steigt die Bereitschaft zu klagen, während die Schamgrenze weiter sinkt.
Mehr als ein sanftes Plätschern
„Ein öffentliches Verfahren, in dem es um primäre Körperfunktionen geht, ist heute niemandem mehr peinlich“, sagt Anwalt Langgartner. Im Gegenteil. Fragen, die die Verrichtung der Notdurft betreffen, haben es streitlustigen Mietern derzeit besonders angetan. Das Landgericht Berlin etwa musste sich vor einiger Zeit mit der Frage beschäftigen, ob die Mieterin einer Altbauwohnung, die sich durch Urinstrahlgeräusche ihres Nachbars gestört fühlte, vom Vermieter eine schallschutztechnische Aufrüstung verlangen oder die Miete mindern könne.
Das Gericht verneinte beides. Immobilienbesitzer seien in der Regel nur verpflichtet, jenen Schallschutz zu gewährleisten, der zur Zeit der Errichtung des Gebäudes üblich war (BGH Az.: VIII ZR 85/09). Das gelte insbesondere, wenn es sich, wie im vorliegenden Fall, um eine nicht modernisierte Altbauwohnung aus den Fünfzigerjahren handle. Hier dürfe der Mieter nur den Standard erwarten, der in Bauwerken dieser Zeit üblich war.
Unabhängig davon hätte der Harnstrahl auf der Keramik lediglich Geräusche von 27 dB (A) verursacht und damit unterhalb des aktuell gültigen Grenzwerts von 30 dB (A) gelegen. Nur der Schall, der durch das direkte Auftreffen des Strahls auf das Wasser entstanden sei, habe den erlaubten Wert überschritten. Solche Belästigungen müsse der Mieter aber ertragen.
Erhebliche Belästigung
Weniger klar ist die Rechtsprechung bei einem anderen Dauerbrenner des Nachbarschaftsstreits. „Spätestens, seit in vielen Bundesländern Rauchverbote in öffentlichen Gebäuden und Gaststätten gelten, versucht so mancher Nichtraucher, auch im privaten Umfeld den Nikotinkonsum einschränken zu lassen“, beobachtet Expertin Storm. Einfach ist das nicht. Zigaretten sind in Deutschland nach wie vor ein erlaubtes und frei verkäufliches Genussmittel für Erwachsene. Rauchen in privaten Wohnungen kann also nicht ohne weiteres verboten werden.
Die jüngste Entscheidung zu diesem Thema lässt allerdings aufhorchen. Die Bewohner einer Wohnung im ersten Stock hatten ihre Nachbarn aus dem Erdgeschoss verklagt, weil diese mehrmals täglich auf der Terrasse rauchten. Der aufsteigende Tabakrauch störte die Mieter der Etagenwohnung. Zudem befürchteten sie Gesundheitsschäden durch das Passivrauchen und verlangten, den Nachbarn das Rauchen auf der Terrasse zumindest zeitweise zu untersagen.
Anders als die Vorinstanzen lehnte der Bundesgerichtshof (BGH) dieses Ansinnen nicht grundsätzlich ab. Bei „erheblichen Belästigungen“ sei es durchaus denkbar, Raucher auch auf dem eigenem Balkon zur Mäßigung zu zwingen. Ob eine solche schwerwiegende Belastung im konkreten Fall vorliegt, muss jedoch noch ermittelt werden – maßgeblich, so das Gericht, sei insofern das Geruchsempfinden eines objektiven Dritten. Auch die schiere Behauptung einer Gesundheitsgefährdung durch den aufsteigenden Tabakrauch genügte dem BGH nicht. Er verwies den Fall zurück ans Landgericht Potsdam. Dort geht der Streit nun weiter – mit offenem Ausgang.
Viel Rauch um nichts?
„Ein Beibehalten des Status quo ist ebenso denkbar wie die Anordnung rauchfreier Zeiten oder ein weiteres Verfahren vor dem BGH“, kommentiert Expertin Storm die Entscheidung. Sie hält es sogar für möglich, dass der Fall am Ende vor dem Bundesverfassungsgericht landet. „Gerade beim Thema Rauchen sind die Fronten oft sehr verhärtet und Kompromisse schwer zu finden“, so die Juristin.
An diesem Zustand wird wohl auch die Entscheidung aus Karlsruhe nichts ändern. „Das Urteil des BGH ist zwar sehr salomonisch. In der Praxis könnte es jedoch unschöne Nebenwirkungen haben“, fürchtet Ulrich Ropertz, Geschäftsführer des Deutschen Mieterbunds in Berlin. Der Grund: Ebenso, wie ruhebedürftige Mit-Mieter die Schallbelastung aus der Toilette des Nachbarn per Gutachten belegen müssen, trifft gesundheitsbewusste Menschen die Pflicht, das Ausmaß der Rauch-Belästigung nachzuweisen und zu dokumentieren. Aussagekräftige Messungen der Luftverunreinigung sind beim Rauchen im Freien jedoch nur schwer zu erhalten.
„Wer vor Gericht nicht mit leeren Händen dastehen will, muss daher entweder ein Tagebuch über die Rauchzeiten seiner Mitmenschen führen oder die Zigaretten zählen, die dieser täglich konsumiert“, sagt Ropertz. Dafür müssten sich Nachbarn schlimmstenfalls mit dem Feldstecher und einer Stoppuhr observieren. Für die Stimmung in der Hausgemeinschaft sei das der endgültige Todesstoß.
Zwei Juristen – drei Meinungen
Auch das Verhältnis zum Vermieter leidet in solchen Konstellationen – vor allem, wenn Mieter wegen rauchender Nachbarn weniger zahlen wollen. Die Rechtslage hier ist kompliziert. So entschied etwa das Landgericht Berlin vor einigen Jahren: Rauchen gehört zum vertragsgemäßen Gebrauch einer Wohnung. Nachbarn, die sich durch den blauen Dunst belästigt fühlen, haben kein Recht auf eine Mietminderung (Az.: 63 S 470/08). Eine andere Kammer des Gerichts befand hingegen: Rauchen auf dem Balkon ist zwar erlaubt. Wenn der Nachbar exzessiv qualmt, kann das aber sehr wohl als Mietmangel gelten, der zur Minderung berechtigt (Az.: 67 S 307/12). Ähnlich entschied das Landgericht Hamburg (Az.: 311 S 92/10) und billigte einem genervten Nichtraucher ein Minderungsrecht zu.
Ebenfalls offen ist die Frage, unter welchen Umständen Vermieter einen unbelehrbaren Kettenraucher aus der Wohnung werfen können, wenn dieser statt durchs Fenster lieber ins Treppenhaus lüftet. Über den Fall eines Düsseldorfer Rentners, dem aus diesem Grund im Alter von 75 Jahren gekündigt worden war, muss der BGH erst noch entscheiden.
Das Gericht hat den Termin – passend zum Thema – für Aschermittwoch angesetzt.