Die Zahl der Kirchengemeinden, die Flüchtlingen Asyl in Kirchenräumen gewähren, steigt rapide. Es bahnt sich ein Konflikt an, wie es ihn so in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gegeben hat: christliche Kirchen gegen christliche Parteien, katholische und evangelische Kirche gegen die zwei deutschen Parteien, die das „C“ im Namen führen. Es ist dies kein Konflikt zwischen den Hierarchen und Funktionären von Kirche und Staat, wie einst bei der Abtreibung. Es ist ein Konflikt der christlichen Basis, an deren Spitze sich nolens volens die Bischöfe gestellt haben, mit dem Staat und seinen Ausländerbehörden.
In einem Pfarrhaus in Tübingen wurde der kurdischen Familie Güler bereits im Jahr 2000 Kirchenasyl gewährt. Bis heute ist die Abschiebungspolitik des Staates stark umstritten.
Konflikt schwelt seit Langem, jetzt lodert er auf. Bundesinnenminister Thomas de Maizière, selbst evangelischer Christ, hat jüngst den katholischen Bischöfen in ungewöhnlich harscher und harter Form erklärt, dass er als Verfassungsminister das Kirchenasyl „prinzipiell und fundamental“ ablehne. Dem neuen Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche, dem Münchner Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, hat er bei dessen Antrittsbesuch im Ministerium Ähnliches bedeutet. Kurz: Die Kirchen mögen dem Staat doch bitte nicht ins Handwerk pfuschen.
Das Staatshandwerk, um das es geht, ist die Abschiebung von Flüchtlingen aus Deutschland. Das zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist bei der Prüfung der Einzelfälle offensichtlich überfordert; womöglich ist diese Überforderung, so argwöhnen manche Kirchenvertreter, auch politisch gewollt: Die Abschiebemaschinerie, zumal bei den sogenannten Dublin-III-Abschiebefällen, läuft wie geschmiert, um Härtefälle kümmert sich das Bundesamt kaum. Als Dublin-III-Fälle gelten die Flüchtlinge, die bei ihrer Flucht nach Deutschland schon ein anderes EU-Land betreten hatten – Bulgarien, Ungarn oder Italien beispielsweise. Eigentlich sollten dem Gesetz nach auch hier „Härtefälle“ berücksichtigt werden. In der Praxis ist das nicht so. „Die Durchführung der gesetzlich vorgesehenen humanitären Einzelfallprüfung durch das Bundesamt ist nicht erkennbar“, sagt Stephan Theo Reichel, der im Auftrag der evangelisch-lutherischen Landeskirche seit 1. Oktober 2014 die Kirchenasyle in Bayern hauptamtlich koordiniert. „Vorgelegte Gutachten und Eingaben werden ignoriert, mit allen Mitteln werden Abschiebungen juristisch durchgesetzt.“ Er klagt über Abschiebungen „ohne Prüfung und Rücksichtnahme“ – „nach Bulgarien und Ungarn ins Gefängnis oder nach Italien auf die Straße“.
Das wollen immer mehr Kirchengemeinden verhindern: Sie wollen den Flüchtlingen geben, was der Staat des Grundgesetzes ihnen verweigert – Schutz und Hilfe in bedrohlicher Situation. „Die Hilfe für Flüchtlinge ist als Anliegen tief in vielen unserer Gemeinden verwurzelt. Und das ist auch gut so“, sagte Heinrich Bedford-Strohm der Süddeutschen Zeitung. Und: „Das Kirchenasyl bedroht weder das Recht noch taugt es zu einer Grundsatzdebatte.“ Der Münchner Kardinal Reinhard Marx, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, sagte der SZ, dass er den Kirchengemeinden dankbar sei, „die sich um die Not von Flüchtlingen kümmern“. Die Gemeinden gingen in aller Regel sehr sorgfältig mit dem Kirchenasyl um. Und die Praxis der zurückliegenden Jahrzehnte zeige, „dass während eines solchen Kirchenasyls fast immer eine bessere und rechtsstaatlich einwandfreie Lösung gefunden werden kann“.
Verlässliche bundesweite Fallzahlen gibt es nicht. Der ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft „Asyl in der Kirche“ wurden 200 Kirchenasyle im Jahr 2014 gemeldet; die tatsächlichen Zahlen werden mindestens doppelt so hoch geschätzt. In Bayern gibt es offizielle Zahlen: 169 Kirchenasyle waren es 2014 (mit 275 Menschen, die dort vorübergehend Schutz fanden) – fünfmal so viel wie im Vorjahr. An die fünfzig Kirchenasyle laufen derzeit, Anfang Februar, in katholischen und evangelischen Pfarreien in Bayern.
Stephan Reichel, der Asylkoordinator der evangelischen Kirche, weiß: Überall, noch im letzten Dorf, gibt es Helfervereine und Helferkreise – „geführt von der Frau des Bürgermeisters“. Die CSU mag erwartet haben, dass mit der dezentralen Unterbringung von Flüchtlingen in Bayern, also mit ihrer Verteilung übers ganze Land, ein Aufstand gegen diese Unterbringung beginnt. Begonnen hat stattdessen, so der Kirchenmann Reichel, „ein Aufstand der Empathie“. Die anfängliche Skepsis in vielen Gemeinden gegen die Flüchtlingsunterbringung habe sich oft in kolossale Hilfsbereitschaft verwandelt. Und wenn dann Leute abgeschoben werden sollen, deren Schicksal man nun im Dorf kennt, seien auch schon „ganz konservative Leute zum Tier geworden“, die „ihre“ Flüchtlinge mit allen Mitteln verteidigen. Zu den Mitteln gehört, erzählt Reichel, zuerst die Frage an die Ausländerbehörde: „Weiß das der Seehofer?“ Dazu zählt aber vor allem das Kirchenasyl: die Gewährung von Schutz in kirchlichen Räumen, als „ultima ratio“, als „letztes Mittel“. Die Kirchengemeinden wollen dieses Mittel nicht als kalkulierten Bruch des Rechts betrachten – sondern als dringlichen Appell an die Behörden, als eine lebendige Petition im Sinn des Artikels 17 Grundgesetz.
Die Kirchenasyl-Bewegung ist die lebendigste Basisbewegung, die es derzeit in den beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland gibt. Seit 31 Jahren gibt es ein Kirchenasyl in Deutschland, vor 21 Jahren wurde die Bundesarbeitsgemeinschaft „Asyl in der Kirche“ von evangelischen und katholischen Christen gegründet.
In kaum einer anderen Frage sind Kirchengemeinden so engagiert, in keiner anderen Frage funktioniert Ökumene, die Zusammenarbeit zwischen evangelischen und katholischen Pfarreien so gut. Kirchenasyl ist für sie die Übersetzung des Evangeliums in die Gegenwart. Da steht im Matthäus-Evangelium das Jesus-Wort: „Ich war fremd, und ihr habt mich beherbergt. Ich war verfolgt, und ihr habt mir Schutz gewährt“. Und: „Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“. Darauf antworten die Regierungspolitiker gern mit Sätzen, die sich an den Apostel Paulus halten, bei dem steht: „Jedermann sei untertan der Obrigkeit“. Intern galt aber bisher zumeist eine stille Übereinkunft, das Kirchenasyl zu achten und nicht mit Polizeigewalt zu brechen.
Das beste Argument der Kirchengemeinden sind nicht Bibelzitate, sondern Erfolgsraten: Fast alle Flüchtlinge, die ins Kirchenasyl genommen werden, kommen sodann ins ordentliche Asylverfahren – und fast neunzig Prozent dürfen letztendlich in Deutschland bleiben. Koordinator Reichel berät die Pfarreien und rät, sich auf wirkliche Härtefälle zu beschränken. Was ist ein Härtefall? Dieser zum Beispiel: Der Flüchtling aus Syrien ist von Splitterverletzungen übersät; neben ihm war eine Granate explodiert. Auf seiner Flucht kam er nach Bulgarien als erstes EU-Land. Er blieb dort ohne jegliche ärztliche Hilfe, schlug sich weiter nach Deutschland durch. Dort angekommen soll er sogleich wieder abgeschoben werden – nach Bulgarien, weil nach den Dublin-III-Regeln das erste EU-Land, das der Flüchtlinge betritt, für das Asylverfahren zuständig ist. Oder: Eine evangelikal-konservative Kirchengemeinde gewährte einem verletzten Peschmerga-Offizier Kirchenasyl und schützte ihn vor der Abschiebung ins Lager nach Bulgarien. Eine andere Kirchengemeinde bewahrte einen schwulen jungen Mann aus Tansania vor der Rückschiebung ins Gefängnis – wo ihn wegen seiner Homosexualität 14 Jahre Haft erwartet hätten. „Ich falle ab vom Glauben an unseren Rechtsstaat“, schreibt da die Leiterin eines katholischen Frauenbunds im Allgäu angesichts solcher Fälle an den Kirchenasyl-Koordinator.
Die kirchliche Basis kocht – einer neuen Entscheidung des Bundesamts wegen: Es will künftig Flüchtlinge im Kirchenasyl als „untergetaucht“ behandeln. Das hätte zur Folge, dass die Behörden viel mehr Zeit haben, sie in die EU-Ersteinreiseländer abzuschieben – nicht nur sechs Monate wie bisher, sondern 18 Monate. So lange müssten Kirchengemeinden künftig Flüchtlinge im Kirchenasyl beherbergen. Hinter den Kulissen laufen Verhandlungen, um das abzuwenden. Das Ziel: Härtefälle sollen, auf Hinweise aus den Kirchen hin, beim Bundesamt für Flüchtlinge sorgfältig geprüft werden, um Kirchenasyle künftig möglichst zu vermeiden. Wenn diese Verhandlungen zu keinem Ergebnis führen, helfen womöglich die Gerichte: Es gibt bereits zwei Entscheidungen der Verwaltungsgerichte, die es ablehnen, Flüchtlinge im Kirchenasyl als untergetaucht zu betrachten.
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Der Zorn Gottes
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