Quantcast
Channel: jetzt.de - SZ
Viewing all articles
Browse latest Browse all 3345

Abschied vom Willkommensland

$
0
0

In Märsta sitzen sie wieder auf ihren Koffern. Die Flüchtlinge, die hier im Aufnahmezentrum ankommen, bleiben nur kurz. Sobald sie registriert sind, Namen, Foto und Fingerabdruck abgegeben haben, fahren sie in ein größeres Flüchtlingsheim. Sie füllen jeden Tag einen Bus, manchmal zwei, machen Platz für die nächsten Neuankömmlinge.



Wohnungsnot ist das Hauptproblem der Flüchtlinge: Oft teilen sich mehrere Flüchtlinge gleichzeitig einen kleinen Raum.

Märsta liegt nahe dem Flughafen Arlanda, 40Kilometer vor Stockholm. Eine Durchlaufstation. Im Warteraum klettern Kinder über Bänke und über große blaue Plastiktaschen. Die stehen überall herum, wie vollgepackte Ikea-Tüten. Sie enthalten das Nötigste für die ersten Tage: Blümchen-Bettwäsche, Handtücher, Zahnbürste, Shampoo. Willkommen in Schweden.

Kein EU-Land nimmt mehr Flüchtlinge pro Einwohner auf. 81300 Menschen haben vergangenes Jahr Asyl in Schweden beantragt, die meisten kamen aus Eritrea und Syrien. Sie erhalten in der Regel unbegrenztes Aufenthaltsrecht. Dieses Jahr erwartet Schweden bis zu 105000 Hilfesuchende – eine riesige Zahl angesichts der 9,7 Millionen Menschen, die hier leben.

Für die Schweden gehört diese Offenheit zu ihrem Selbstverständnis. Egal, wie sehr das System unter dem Zustrom ächzt, niemand stellt sie grundsätzlich infrage. Niemand, außer den Schwedendemokraten, einer Partei mit rechtsextremen Wurzeln. Sie fordern, die Einwanderung um 90Prozent zu senken.

Alle anderen Parteien möchten jede Verbindung zu den Rechtspopulisten unbedingt vermeiden. Auch deswegen wagen sie sich nun nur zögerlich an das Thema Einwanderung. Sie haben aber kaum eine Wahl: Unterschwellig wird längst die Frage gestellt, wie lange das Land seine großzügige Flüchtlingspolitik noch durchhält. Die Unterkünfte werden knapp, die Behörden sind überfordert, die Zugewanderten oft frustriert. Seit Jahren tut sich Schweden schwer, sie nicht nur aufzunehmen, sondern auch zu integrieren.

Nicholas Aylott ist einer der wenigen, die das Schweigen darüber schon lange kritisieren. „Persönlich möchte ich nicht, dass die Schweden Einwanderung in demselben scharfen Ton diskutieren, wie es dänische oder britische Parteien tun“, sagt der britische Politikwissenschaftler von der Stockholmer Södertörn Uni. „Aber es beunruhigt mich, dass es nicht etwas mehr Freiheit gibt, über dieses Thema zu sprechen.“ Die Schwedendemokraten haben sich diese Freiheit genommen und erhielten 13 Prozent bei den Wahlen im Herbst.

Von alldem weiß Oumar Mahamadou noch nichts, als er in Märsta dem Bus hinterhersieht. Der Warteraum im Ankunftszentrum ist nun leer. Nur der 25-Jährige sitzt noch auf einer Bank, still und todmüde. Er ist eben erst angekommen, erzählt er, mit dem Bus aus Spanien. Eigentlich aber aus Gambia. Wie es ihm jetzt geht? „Ich mag Schweden“, antwortet er nur. Dann erzählt er von seiner fünfjährigen Tochter, seinen Eltern und den beiden Brüdern, die er zurückgelassen hat. In Schweden möchte er arbeiten, um ihnen zu helfen. Er ist längst nicht am Ende seiner Reise.

„Manche Länder versuchen die Flüchtlinge zu verscheuchen. Schweden tut das nicht“, sagt Mikael Ribbenvik, stellvertretender Leiter der Einwanderungsbehörde. Sein größtes Problem ist, Betten für die Flüchtlinge zu finden, solange sie auf eine Entscheidung warten. 30000 leben in Wohnungen, für 20000 mussten Betten in früheren Kliniken, Jugendherbergen oder ungenutzten Ferienunterkünften gefunden werden. Wer Asyl erhält, für den beginnt eine zweijährige Integrationsphase.

Das Arbeitsamt stellt Stundenpläne für die Flüchtlinge zusammen, mit Sprachkursen, Weiterbildung, Praktika, und bezahlt sie für die Teilnahme. Nach zwei Jahren sollen sie einen richtigen Job finden, was etwa jedem Vierten gelingt. Mahmoud Nozhatzade arbeitet beim Amt in Stockholm-Spånga und wünscht sich in diesen Tagen vor allem einen Hinterausgang. Denn vor seinem Büro warten oft Kursteilnehmer, die seine Hilfe brauchen. Früher, als Nozhatzade noch 30 statt heute gleichzeitig 85 von ihnen betreut hat, konnte er sie selbst regelmäßig anrufen und sich nach ihren Fortschritten erkundigen. Heute ist er froh über jede Minute, in der sein Telefon nicht klingelt. Es sei frustrierend, wenn besser qualifizierte Flüchtlinge als Putzhilfe arbeiten müssen, weil Sachbearbeitern wie ihm die Zeit fehle, ihnen einen Praktikumsplatz zu suchen.

Seine Schützlinge haben oft genug Probleme damit, eine Wohnung zu finden. Sobald sie Asyl erhalten haben, sollen sie aus den Unterkünften der Einwanderungsbehörde in eine Gemeinde ziehen, die Arbeitskräfte braucht. Tausende hängen aber in den Unterkünften seiner Behörde fest, können ihre Integrationskurse nicht beginnen. Nozhatzade erzählt von Kursteilnehmern, die schon auf Parkbänken oder in Obdachlosenheimen geschlafen haben.

Das Tabu, kritisch über Einwanderung zu sprechen, weicht langsam auf. Die Christdemokraten, die es bei der letzten Wahl knapp über die vier Prozenthürde geschafft haben, wagten sich bereits im Dezember vor. Sie wollen Flüchtlingen erst nach einer dreijährigen Probezeit permanentes Aufenthaltsrecht gewähren, ihre Sozialhilfe kürzen und sie mit Steueranreizen zum Arbeiten bringen. Die Liberalen ziehen jetzt nach. Sie schlagen unter anderem vor, dass die Staatsbürgerschaft nur erhält, wer gut genug Schwedisch spricht. Nur wer sich selbst versorgen kann, darf für immer bleiben. Sie treffen damit den Nerv vieler Wähler. In einer Januarumfrage gab jeder Fünfte an, dass Einwanderung für ihn das wichtigste politische Thema sei – eine für Schweden völlig neue Situation.

Von ihr profitieren vor allem die Schwedendemokraten. Markus Wiechel ist ihr Integrationsbeauftragter. In der Parlaments-Kantine grüßt er niemanden, setzt sich an einen Tisch am Rand. Eine große Gruppe Schweden stehe hinter seiner Partei, sagt er. Doch viele trauten sich nicht, das offen zu zeigen. „Weil eine Menge Menschen einen als Rassisten betrachten, wenn man gegen die Masseneinwanderung ist, die wir heute haben.“ Er erinnert sich an den Wahlkampf vor fünf Jahren, als es die Rechtspopulisten zum ersten Mal ins Parlament schafften. Damals hätten die Leute sie auf der Straße noch beschimpft. Heute zeigten sie ihnen im Vorbeigehen den hochgehaltenen Daumen.

Kippt die Stimmung in Schweden? In der Woche nach Weihnachten brannte es in drei Moscheen im Land. Die schwedische Antirassismus-Stiftung Expo zählte im vergangenen Jahr mindestens zwölf Anschläge auf Moscheen. Im Sommer 2013 kam es zu schweren Jugendunruhen im Stockholmer Vorort Husby, wo viele Menschen mit Migrationshintergrund leben. Autos brannten, es gab Straßenkämpfe mit der Polizei. Weltweit rieb man sich damals verwundert die Augen über das sonst so friedliche Schweden.

Abullahi Abdisalam Yusuf haben die Krawalle damals nicht überrascht. „Wenn man sich die ganze Zeit über krank fühlt und niemand hilft, jahrelang nicht, dann muss man irgendwann laut werden“, versucht er die Frustration der Jugendlichen zu erklären. Husby ist ein Stadtteil mit trostlosen Wohnburgen und hoher Jugendarbeitslosigkeit. Yusuf, der selbst 1992 aus Somalia nach Schweden kam, springt manchmal als Integrationshelfer ein.

Jetzt sitzt er in einem Café in Husby und zeichnet Kreise auf ein Papier, Stichworte wie „Schule“, „Wohnung“, „Jobs“. Großfamilien mit bis zu 15 Personen lebten hier in Dreizimmerwohnungen. „Am Abend ist der Platz hier voller junger Leute, die Drogen verkaufen“, sagt Yusuf. Seit Jahren würden die Probleme immer größer. Yusuf malt zwei letzte Kreise auf sein Blatt. Er tippt in den einen, dann in den anderen. „Die und wir“, sagt er.



Viewing all articles
Browse latest Browse all 3345