Weiße Wolken ziehen über einen hellblauen Himmel, eine gelbe U-Bahn legt sich vor dem Berliner Fernsehturm in die Kurve. Sehr bunt ist das Cover der Anthologie „Wir vergessen nicht, wir tanzen“, in der junge deutsche und israelische Autoren über das jeweils andere Land schreiben. Am Leseforum Israel in Halle 4 der Leipziger Buchmesse stehen viele solche bunten Bücher. Ihre Nachbarn sind die Bände mit den Schwarz-Weiß-Fotografien, die historischen Dokumentationen.
Israel war hochaktuelle, viel gelesene und lebhaft diskutierte Schwerpunktthema der diesjährigen Leipziger Buchmesse.
Der Historiker Dan Diner, der sein neues Buch vorstellt, kommt oft auf diese Nachbarschaft zurück. Wir leben mit dieser Doppelprojektion, sagt er, bei der auf der einen Seite dieser dokumentarische Schwarz-Weiß-Film läuft, mit den nicht vergehenden Schreckensbildern, und daneben der Farbfilm über die jungen Israelis in Berlin, das Strandleben in Tel Aviv.
Der Messeschwerpunkt „1965 bis 2015. Deutschland – Israel“ klingt nach Schwarz-Weiß-Film. Sein Anlass ist das 50. Jubiläum der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Deutschland und Israel. Und Dan Diner hat in seinem neuen Buch „Rituelle Distanz“ noch weiter zurückgegriffen. Wie ein Kulturanthropologe, der eine Zeremonie zwischen verfeindeten Völkern dem „close reading“ unterwirft, hat er die Verhandlungen zwischen Deutschland und Israel über das „Wiedergutmachungsabkommen“ im September 1952 untersucht. Sie fanden 13 Jahre vor dem Botschafteraustausch statt, wurden – mit dramatischen Szenen in Israel – zum Skandal, als sie bekannt wurden. Sie waren der Ausgangspunkt für alles Folgende, geboren aus der Not des jungen, in seiner ökonomischen Existenz bedrohten Staates Israel, für die notwendige Unterstützung sich ausgerechnet an das Land wenden zu müssen, das zum Gegenstand von Abscheu und Verachtung geworden war. Dan Diner braucht aber nicht lange, um von seinem historischen Gegenstand auf die aktuellen Farbfilme zu kommen. Er erzählt, wie sich bei den Verhandlungen 1952 in Luxemburg deutsche Juden gegenüberstanden, die Englisch sprachen, weil Deutsch als Verhandlungssprache verboten war, aber ihren schwäbischen Akzent erkannten und sich als Schüler desselben Stuttgarter Gymnasiums erkannten. Wie kommt es, fragt er, dass noch vor zehn, fünfzehn Jahren junge Israelis Erholung in Südostasien oder Lateinamerika suchten, möglichst weit weg nicht nur vom eigenen Land, sondern auch von den Schwarz-Weiß-Filmen über die Vergangenheit? Dass sie seit einigen Jahren aber nach Berlin reisen, nach Europa?
Seine Antwort: Zu Israel gehört, dass es ein herausgerissenes Stück Mitteleuropa ist, das Deutschland einschloss, einschließlich seiner Sprache, die bis zum Nationalsozialismus auch eine jüdische Sprache war. Die jungen Israelis reisen in einen Farbfilm, dessen aktuelle Attraktionen – die Kulturszene, die relativ günstigen Mieten – die Neuentdeckung der alten Linien zwischen Berlin und dem versprengten Mitteleuropa in Israel begünstigen.
Überall, wo in Leipzig Amos Oz mit seinem aktuellen Roman „Judas“ auftrat, ob bei der Verleihung des Preises an seine Übersetzerin Mirjam Pressler oder in der „Langen Nacht der deutsch-israelischen Literatur“, war diese Verbindung anwesend. Einer der Gewährsmänner für die von Oz’ Hauptfigur vorgenommene Neudeutung des Verräters Judas, der zu einer der Zentralfiguren des Antijudaismus und Antisemitismus avancierte, ist der aus Litauen stammende Gelehrte Joseph Klausner, Oz’ Großonkel. Sein Roman, der in den späten 1950er-Jahren in Jerusalem spielt, ist eine Reflexion über die Staatsgründung 1948, entwirft Innenansichten des jungen Israel. Er ist das literarische Gegenstück zur dramatischen, von Menachem Begin und Golda Meir bekämpften, von der Not erzwungenen Annäherung an Deutschland.
Avi Primor, der in Leipzig seine Autobiografie „Nichts ist jemals vollendet“ vorstellte, sang das Loblied auf die Unvermeidlichkeit, die in Israel 1952 die Kritiker Ben Gurions bekämpften: dass aus den Verhandlungen mit Deutschland Annäherung an Deutschland werden könnte. Die deutschen Investitionen in Israel, der Austausch von Technikern, Wissenschaftlern, Managern sei der Kern dieses Prozesses gewesen, die Aufnahme diplomatischer Beziehungen nur die Ratifizierung dieses im Kern sozialen, gesellschaftlichen Prozesses. Primor traf im Ariowitsch-Haus, das 1931 als Altenheim für die orthodoxen Juden Leipzigs eingeweiht und 2009 als jüdisches Kultur- und Begegnungszentrum neu eröffnet wurde, auf Gregor Gysi und Friedrich Schorlemmer und sprach mit ihnen über jenen Staat, für den der Themenschwerpunkt der Messe nicht zutraf: Die DDR hat nie diplomatische Beziehungen zu Israel aufgenommen. In Primors Autobiografie gehört sie zu den Feindesländern Israels.
Die DDR war aber ein Land, in dem viele Kommunisten in der politischen wie kulturellen Elite zugleich Juden waren. Gysi verwies auf eine rhetorische Operation, die zum einen die hemmungslose Kritik Israels als Hort des „Zionismus“ und Büttel des Imperialismus begünstigte, zugleich aber die Integration der Juden in das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus erlaubte. Sie bestand darin, die Begriffe „Juden“ und „Israel“ in der offiziellen Sprache so weit wie möglich auseinanderzurücken. Der Rückblick auf die Geschichte der Juden in der DDR unter den Bedingungen der Dauerkritik am Staat Israel war auf dieser Messe mehr als nur ein Nebenstrang. Der Historiker Hendrik Niether stellte sein Buch „Leipziger Juden und die DDR. Eine Existenzerfahrung im Kalten Krieg“ (Vandenhoeck & Ruprecht) vor, eine genaue Erkundung der Welt, in der zeitweilig der Philosoph Ernst Bloch und der Literaturwissenschaftler Hans Mayer lebten, ehe sie in die Bundesrepublik gingen.
Chaim Noll, 1954 als Hans Noll, Sohn des Schriftstellers Dieter Noll, in Ostberlin geboren, ging den jüdischen Wurzeln seiner Familie nach. 1983 reiste er nach Westberlin aus, lebt seit 1995 in Israel. Er las aus seinen Erinnerungen „Der Schmuggel über die Zeitgrenze“. André Herzberg, Ex-Sänger der Band Pankow, hat über seine jüdische Herkunft einen Familienroman („Alle Nähe fern“) geschrieben.
Fluchtpunkt aller dieser Reminiszenzen aber ist das aktuelle Israel, das Land im Farbfilm, in dem Schreckensmomente nicht weniger verlässlich auftauchen als in den historischen Dokumentationen. Ayman Sikseck, arabischer Israeli, der auf Hebräisch schreibt, kann vom Hass berichten, der seinesgleichen im Alltag entgegenschlägt. Amos Oz machte kein Hehl daraus, dass er selber häufig als „Verräter“ attackiert wird. Und dass zwei Tage nach dem Ende der Buchmesse in Israel ein neues Parlament gewählt wird, war in Leipzig überall zu spüren. Scharf attackierten Avi Primor und Carlo Strenger, Psychologe an der Universität in Tel Aviv, die israelische Regierung unter Benjamin Netanjahu. Das Schwerpunktthema der Messe, die mit einem Besucherrekord von 186000 Gästen endete, war nicht historisch, sondern aktuell.
Israel war hochaktuelle, viel gelesene und lebhaft diskutierte Schwerpunktthema der diesjährigen Leipziger Buchmesse.
Der Historiker Dan Diner, der sein neues Buch vorstellt, kommt oft auf diese Nachbarschaft zurück. Wir leben mit dieser Doppelprojektion, sagt er, bei der auf der einen Seite dieser dokumentarische Schwarz-Weiß-Film läuft, mit den nicht vergehenden Schreckensbildern, und daneben der Farbfilm über die jungen Israelis in Berlin, das Strandleben in Tel Aviv.
Der Messeschwerpunkt „1965 bis 2015. Deutschland – Israel“ klingt nach Schwarz-Weiß-Film. Sein Anlass ist das 50. Jubiläum der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Deutschland und Israel. Und Dan Diner hat in seinem neuen Buch „Rituelle Distanz“ noch weiter zurückgegriffen. Wie ein Kulturanthropologe, der eine Zeremonie zwischen verfeindeten Völkern dem „close reading“ unterwirft, hat er die Verhandlungen zwischen Deutschland und Israel über das „Wiedergutmachungsabkommen“ im September 1952 untersucht. Sie fanden 13 Jahre vor dem Botschafteraustausch statt, wurden – mit dramatischen Szenen in Israel – zum Skandal, als sie bekannt wurden. Sie waren der Ausgangspunkt für alles Folgende, geboren aus der Not des jungen, in seiner ökonomischen Existenz bedrohten Staates Israel, für die notwendige Unterstützung sich ausgerechnet an das Land wenden zu müssen, das zum Gegenstand von Abscheu und Verachtung geworden war. Dan Diner braucht aber nicht lange, um von seinem historischen Gegenstand auf die aktuellen Farbfilme zu kommen. Er erzählt, wie sich bei den Verhandlungen 1952 in Luxemburg deutsche Juden gegenüberstanden, die Englisch sprachen, weil Deutsch als Verhandlungssprache verboten war, aber ihren schwäbischen Akzent erkannten und sich als Schüler desselben Stuttgarter Gymnasiums erkannten. Wie kommt es, fragt er, dass noch vor zehn, fünfzehn Jahren junge Israelis Erholung in Südostasien oder Lateinamerika suchten, möglichst weit weg nicht nur vom eigenen Land, sondern auch von den Schwarz-Weiß-Filmen über die Vergangenheit? Dass sie seit einigen Jahren aber nach Berlin reisen, nach Europa?
Seine Antwort: Zu Israel gehört, dass es ein herausgerissenes Stück Mitteleuropa ist, das Deutschland einschloss, einschließlich seiner Sprache, die bis zum Nationalsozialismus auch eine jüdische Sprache war. Die jungen Israelis reisen in einen Farbfilm, dessen aktuelle Attraktionen – die Kulturszene, die relativ günstigen Mieten – die Neuentdeckung der alten Linien zwischen Berlin und dem versprengten Mitteleuropa in Israel begünstigen.
Überall, wo in Leipzig Amos Oz mit seinem aktuellen Roman „Judas“ auftrat, ob bei der Verleihung des Preises an seine Übersetzerin Mirjam Pressler oder in der „Langen Nacht der deutsch-israelischen Literatur“, war diese Verbindung anwesend. Einer der Gewährsmänner für die von Oz’ Hauptfigur vorgenommene Neudeutung des Verräters Judas, der zu einer der Zentralfiguren des Antijudaismus und Antisemitismus avancierte, ist der aus Litauen stammende Gelehrte Joseph Klausner, Oz’ Großonkel. Sein Roman, der in den späten 1950er-Jahren in Jerusalem spielt, ist eine Reflexion über die Staatsgründung 1948, entwirft Innenansichten des jungen Israel. Er ist das literarische Gegenstück zur dramatischen, von Menachem Begin und Golda Meir bekämpften, von der Not erzwungenen Annäherung an Deutschland.
Avi Primor, der in Leipzig seine Autobiografie „Nichts ist jemals vollendet“ vorstellte, sang das Loblied auf die Unvermeidlichkeit, die in Israel 1952 die Kritiker Ben Gurions bekämpften: dass aus den Verhandlungen mit Deutschland Annäherung an Deutschland werden könnte. Die deutschen Investitionen in Israel, der Austausch von Technikern, Wissenschaftlern, Managern sei der Kern dieses Prozesses gewesen, die Aufnahme diplomatischer Beziehungen nur die Ratifizierung dieses im Kern sozialen, gesellschaftlichen Prozesses. Primor traf im Ariowitsch-Haus, das 1931 als Altenheim für die orthodoxen Juden Leipzigs eingeweiht und 2009 als jüdisches Kultur- und Begegnungszentrum neu eröffnet wurde, auf Gregor Gysi und Friedrich Schorlemmer und sprach mit ihnen über jenen Staat, für den der Themenschwerpunkt der Messe nicht zutraf: Die DDR hat nie diplomatische Beziehungen zu Israel aufgenommen. In Primors Autobiografie gehört sie zu den Feindesländern Israels.
Die DDR war aber ein Land, in dem viele Kommunisten in der politischen wie kulturellen Elite zugleich Juden waren. Gysi verwies auf eine rhetorische Operation, die zum einen die hemmungslose Kritik Israels als Hort des „Zionismus“ und Büttel des Imperialismus begünstigte, zugleich aber die Integration der Juden in das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus erlaubte. Sie bestand darin, die Begriffe „Juden“ und „Israel“ in der offiziellen Sprache so weit wie möglich auseinanderzurücken. Der Rückblick auf die Geschichte der Juden in der DDR unter den Bedingungen der Dauerkritik am Staat Israel war auf dieser Messe mehr als nur ein Nebenstrang. Der Historiker Hendrik Niether stellte sein Buch „Leipziger Juden und die DDR. Eine Existenzerfahrung im Kalten Krieg“ (Vandenhoeck & Ruprecht) vor, eine genaue Erkundung der Welt, in der zeitweilig der Philosoph Ernst Bloch und der Literaturwissenschaftler Hans Mayer lebten, ehe sie in die Bundesrepublik gingen.
Chaim Noll, 1954 als Hans Noll, Sohn des Schriftstellers Dieter Noll, in Ostberlin geboren, ging den jüdischen Wurzeln seiner Familie nach. 1983 reiste er nach Westberlin aus, lebt seit 1995 in Israel. Er las aus seinen Erinnerungen „Der Schmuggel über die Zeitgrenze“. André Herzberg, Ex-Sänger der Band Pankow, hat über seine jüdische Herkunft einen Familienroman („Alle Nähe fern“) geschrieben.
Fluchtpunkt aller dieser Reminiszenzen aber ist das aktuelle Israel, das Land im Farbfilm, in dem Schreckensmomente nicht weniger verlässlich auftauchen als in den historischen Dokumentationen. Ayman Sikseck, arabischer Israeli, der auf Hebräisch schreibt, kann vom Hass berichten, der seinesgleichen im Alltag entgegenschlägt. Amos Oz machte kein Hehl daraus, dass er selber häufig als „Verräter“ attackiert wird. Und dass zwei Tage nach dem Ende der Buchmesse in Israel ein neues Parlament gewählt wird, war in Leipzig überall zu spüren. Scharf attackierten Avi Primor und Carlo Strenger, Psychologe an der Universität in Tel Aviv, die israelische Regierung unter Benjamin Netanjahu. Das Schwerpunktthema der Messe, die mit einem Besucherrekord von 186000 Gästen endete, war nicht historisch, sondern aktuell.