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Nach der Plage

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Diejenigen, die hier aufgewachsen sind, erzählen sich noch, wie das war, damals, als die Stechmücken nicht bekämpft wurden am Rhein: Abends traute sich keiner mehr hinaus oder unter den Gittern und Netzen hervor. Riesige Schwärme von Plagegeistern waren unterwegs, 50, 70 Stiche keine Seltenheit. Einschmieren half nicht. Dann, 1976, begann die Kabs mit der Arbeit, die „Kommunale Aktionsgemeinschaft zur Bekämpfung der Schnakenplage“, ein Verein. Seither hat die Kabs eine Art Heldenstatus in der Region. Knapp 100 Städte, Gemeinden, Landkreise und das Land Baden-Württemberg gehören ihr heute an und finanzieren sie. Was als kleinere Schnaken-Aktionen um Speyer, Mannheim und Karlsruhe herum begann, das zieht sich heute auf breiter Front 300 Kilometer den Rhein hinunter, vom Kaiserstuhl bis nach Bingen – „ein Gebiet von 6000 Quadratkilometern“, wirbt die Kabs für sich, „und eine Bevölkerung von rund 2,7 Millionen Menschen vor Stechmückenplagen geschützt“.

Der Stoff, auf den die Bekämpfer am Rhein seit Jahrzehnten setzen, heißt BTI, „Bacillus thuringiensis israelensis“, ein Bodenbakterium, das tödlich wirkt auf Mückenlarven. Mehrmals im Jahr wird BTI per Hand oder mit dem Helikopter ausgebracht, an die 90 Prozent der Mücken werden laut Kabs vernichtet. Die Substanz ist mittlerweile rund um den Globus ein Renner, etwa in den USA, in Schweden oder an der französischen Mittelmeer- und Atlantikküste. In Westafrika erproben das Universitätsklinikum Heidelberg und die Kabs das Mittel zur Bekämpfung von Malaria. Die Überträger, Mücken der Gattung Anopheles, haben teilweise Resistenzen gegen die gängigen Insektizide entwickelt. BTI gilt als biologische Alternative, die nur wenige Mückenarten gezielt tötet und ungiftig ist für Menschen und Wirbeltiere.

Doch so einfach ist es offenbar nicht. Auf der einen Seite scheint die Wissenschaft weitgehend einer Meinung zu sein, dass sich außer Mücken nichts so leicht mit BTI umbringen lässt – auch wenn eine argentinische Laborstudie von 2014 Hinweise liefert, dass südamerikanische Pfeiffrösche an hohen BTI-Dosen sterben und bei niedrigeren Konzentrationen in oxidativen Stress geraten oder Genschäden davontragen können. Auf der anderen Seite deuten neue Untersuchungen darauf hin, dass das Vernichten der Mücken der Natur langfristig zusetzt. Mehrere Studien zeigen, dass BTI nicht nur die Plagegeister der Gattung Aedes vernichtet, sondern auch einen Teil der nicht stechenden Zuckmücken. Die sind eine wichtige Nahrungsquelle für Vögel, Fledermäuse oder einige Libellenarten und Fische. So hat eine über drei Jahre angelegte Erhebung der University of Missouri 2014 in Minnesota nachgewiesen, dass BTI den Zuckmückenbestand am Ende um 60 bis 80 Prozent dezimiert hatte.



Am Rhein werden gegen die Mückenplage Insekitizide verwendet, deren Folgen für die Umwelt unklar sind.

In der südfranzösischen Camargue, einem einzigartigen Feuchtgebiet, das aus ökologischen Gründen über 40 Jahre von der Mückenbekämpfung ausgenommen blieb, wurde 2006 auf einem knappen Neuntel der Fläche erstmals BTI eingesetzt. Die Forscherin Brigitte Poulin vom Tour du Valat Research Center begleitete das Projekt fünf Jahre lang und stellte fest: Die Mehlschwalben in dem Gebiet mussten auf andere Beute wie fliegende Ameisen ausweichen, die ihrer Brut nicht sehr gut bekam – die Küken blieben in der Entwicklung deutlich hinter den Schwalbenjungen zurück, die in den unbehandelten Landstrichen aufwuchsen.

Auch in der Rheinebene bei Neustadt-Geinsheim hat das Institut für Umweltwissenschaften der Universität Landau im vergangenen Jahr den Einfluss von BTI auf Überschwemmungsflächen untersucht. Ergebnis: In den ersten sechs Wochen nach dem Ausbringen waren weniger Fledermäuse und Spinnen unterwegs. Außerdem wurden an einer behandelten Stelle „deutlich weniger“ junge Molche gefangen. Die Forscher verweisen darauf, dass die Aussagekraft ihrer Studie „durch die wenigen Flächen begrenzt“ sei. Doch warum sich die BTI-Effekte nicht ganz so klar ausprägen wie in der Camargue, dafür haben sie eine einleuchtende Erklärung: In Südfrankreich wurden zum ersten Mal überhaupt Mücken bekämpft, in der Pfalz dagegen blieb über lange Jahre behandeltes Gelände nur eine einzige Saison BTI-frei.

Die Königlich Schwedische Wissenschaftsakademie hat 2014 die weltweit verfügbaren Daten zur BTI-Forschungslage durchforstet und kommt zu dem Schluss: Zwar sei gut untersucht, welche Organismen beim BTI-Einsatz unabsichtlich mitgetötet werden, nämlich die Zuckmücken. Aber man wisse wenig darüber, wie sich das Gift auf die Nahrungsnetze auswirkt, auf das Fressen und Gefressenwerden – auf die Tierwelt, die auf Insekten angewiesen ist, und die Arten, die wiederum von den Insektenvertilgern leben.
Am Oberrhein ist das besonders problematisch, weil die Region zu den artenreichsten Naturlandschaften Deutschlands zählt. Das Gebiet wurde als einer von 30 „Hotspots der Artenvielfalt“ ausgewählt – 600 Quadratkilometer Auen und Feuchtgebiete gibt es hier. Und ausgerechnet dort wird auch BTI eingesetzt, denn gerade dort brüten die Mücken. Das läuft über Ausnahmegenehmigungen der Naturschutzbehörden, die immer wieder erteilt werden. Allerdings nicht ohne ein gewisses Unbehagen, wie mehrere Schriftwechsel belegen: In den zuständigen Amtsstuben sehnt man sich nach Daten, um den Einsatz von BTI endlich auf eine fundiertere Basis stellen zu können. Öffentlich äußern will sich keiner, nicht einmal die damit befassten Wissenschaftler. Das Thema ist politisch zu beladen. Wer will den Menschen schon beibringen müssen, dass sie künftig vielleicht wieder mit mehr Schnaken leben müssten, sollte sich BTI als Artenausdünner erweisen?

Doch es könnte auch ganz anders kommen. Womöglich reguliert sich die Natur von selbst, wenn die BTI-Last heruntergefahren wird und wieder mehr Insektenfresser die Schwärme dezimieren, sodass das Mückengift gar nicht flächendeckend eingesetzt werden muss. Wissenschaftler verweisen auf die Elbregion: Hier toleriere die Bevölkerung die Schnaken seit Jahrzehnten. All diese Fragen kann derzeit keiner beantworten, weil es an groß angelegten, belastbaren Untersuchungen fehlt. „Das Thema ist völlig unerschlossen“, bekräftigt ein Forscher.

Norbert Becker bestreitet das. Seit Jahren wischt der wissenschaftliche Direktor der Kabs alle Bedenken wegen BTI beiseite: Das Mittel schade der Natur nicht. Aufgrund der von Becker vorgelegten Daten genehmigen die Behörden den Einsatz des Mückengifts am Rhein. Dabei ist das, was die Kabs bislang präsentiert hat, alles andere als unumstritten. Eine Liste mit Forschungsarbeiten, die Becker dem Regierungspräsidium Freiburg in der ersten Märzwoche zugestellt hat, belegt nach Ansicht von Wissenschaftlern nicht, wie BTI im Nahrungsnetz wirkt. Größtenteils stammen die darin von der Kabs aufgelisteten Studien aus den 1990er-Jahren. Zudem handelt es sich in der Mehrzahl um Diplom- oder Doktorarbeiten und um unveröffentlichte Berichte, was, so ein weiterer Forscher, „sehr intransparent“ sei. Das Problem: Diese Untersuchungen wurden nie in einem Fachblatt gedruckt. Das erschwert es der Forschergemeinde, die Ergebnisse zu diskutieren. Außerdem haben die Arbeiten damit auch nicht die wissenschaftliche Qualitätskontrolle einer Fachzeitschrift durchlaufen, „Peer-Review“ genannt. Je renommierter die Fachzeitschrift, desto strenger die Qualitätskontrolle.

Becker sagt, er wolle eine „Gesamtschau zur Umweltverträglichkeit“ von BTI bis Ende des Sommers vorlegen. Zudem gebe es sehr wohl Fachzeitschrift-Publikationen bei der Kabs zum Nahrungsnetz, die teilweise allerdings erst noch erscheinen müssten. Das Material, das Becker nachreicht, sei altbekanntes Material, erschienen in wenig gelesenen Fachmagazinen und befasse sich „maximal mit dem Einfluss von Stechmücken auf eine Tiergruppe, nicht aber mit dem Nahrungsnetz“, so ein Forscher zu den Kabs-Studien.
Offenbar ist inzwischen auch offiziellen Stellen nicht mehr ganz wohl. Das für Umweltfragen zuständige Landwirtschaftsministerium in Stuttgart verspricht, das Regierungspräsidium Freiburg werde aufgrund der von Becker für Sommer angekündigten Kabs-Studie entscheiden, „ob und gegebenenfalls welche Änderungen an der bisherigen Genehmigungspraxis erforderlich sind“. Das von Minister Alexander Bonde (Grüne) geführte Haus legt sogar noch nach: Sollte die neue Kabs-Studie „nicht alle Problemstellungen ausreichend“ klären, oder sollten „aufgrund neuer Erkenntnisse weitergehende Prüfungen erforderlich werden“, dann müsse die Kabs nachbessern und nachweisen, dass durch BTI keine erhebliche Beeinträchtigung eintritt.

Die Nervosität hat ihren Grund: Sind Naturschutzareale nämlich als Natura-2000-Gebiete ausgewiesen, sitzt den Ländern die EU im Nacken. Die Areale werden Brüssel gemeldet und es muss dann sichergestellt sein, dass etwa der Bestand an bestimmten seltenen Arten nicht abnimmt. In Mainz freilich reagiert man gewohnt routiniert auf Anfragen zum Thema BTI: „Denkbare Beeinträchtigungen für natürliche Lebensgemeinschaften“ würden untersucht, „um die Anwendungen zu optimieren“.

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