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Im Land der Getroffenen

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Die Wiederwahl hat Barack Obama politisch gestärkt. Aber reicht das, um schärfere Waffengesetze durchzusetzen?


Nachdem er die Opfer erwähnt hatte, 'wunderschöne kleine Kinder zwischen fünf und zehn Jahren', hielt der Präsident inne. Sekundenlang blickte er zu Boden, nestelte an seinem Manuskript. Vielleicht wird dieses Bild des gerührten Barack Obama länger in Erinnerung bleiben als das der weinenden Eltern in Newtown, und vielleicht haben die meisten Amerikaner auch erst richtig begriffen, was dort passiert ist, nachdem sie die Tränen ihres sonst so kühlen Staatschefs gesehen haben.



Als Obama im Weißen Haus vor die Presse trat, hatte er Tränen in den Augen.

Nun rätselt das Land, ob aus dem - im Wortsinne - jüngsten Massenmord mehr folgt als nur Tränen, Gebete und Flaggen auf Halbmast. Obama hat, durchaus auch ärgerlich, gesagt, das Land habe solche Taten zu oft erlebt, und die Politik müsse jetzt reagieren. Aber eine solch vage Ankündigung kann auch bedeuten, dass am Ende nichts passiert, und weil zum Beispiel der New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg das weiß, verlangte er vom Präsidenten umgehend mehr Entschiedenheit.

Der leitende Gerichtsmediziner im US-Staat Connecticut, Wayne Carver, hat am Wochenende beschrieben, was er gesehen hat: Jedes der Kinder im Alter von sechs und sieben Jahren war von zwei bis elf Kugeln getroffen worden, alle stammten aus einem Bushmaster-Gewehr, die kommerzielle Version des militärischen M-16-Gewehrs. Die hohe Geschwindigkeit der Kugeln und die Beschaffenheit der Munition ist darauf ausgelegt, möglichst schwere innere Verletzungen zu verursachen. 'Die Energie der Kugeln', erklärte Carver, 'bleibt im Körper', wo sie das Gewebe zerfetzt. 'Sein kleiner Körper konnte so viele Kugeln nicht ertragen', sagte ein Rabbiner über eines der Opfer. Auch größere Körper können das nicht.

Weil die Tat alles übertrifft, woran sich selbst die Amerikaner gewöhnt haben, hoffen die Befürworter schärferer Waffengesetze - diesmal wirklich - auf Konsequenzen. 'Dies ist nicht die Zeit, eine Waffendebatte zu beginnen, sondern sie zu beenden', schrieb der Boston Globe. Die Initiative müsste vom Präsidenten kommen, dem Kongress fehlt es seit Jahren an Einigkeit und Mut für mehr 'gun control', das letzte bedeutende Bundesgesetz stammt von 1994, es beinhaltete ein Verbot besonders tödlicher Waffen, lief aber nach zehn Jahren aus. Es kommt also auf den Präsidenten an, der mehr Kontrolle befürwortet, sich aber meist schüchtern bis unwillig zeigte, dafür zu kämpfen. Für einen Vorstoß Obamas spricht, dass er gerade wiedergewählt wurde und nie mehr eine Wahl bestreiten muss; er könnte also ein Risiko eingehen. Außerdem ist die gefürchtete Waffenlobby, die 'National Rifle Association', geschwächt. Nach Obamas Wiederwahl tönte sie zwar, ihn an jeder Front zu bekämpfen, allerdings hat sie an Einfluss verloren: Im Wahlkampf spendete sie Millionen an Kandidaten, die scheiterten.

Aber es ist schon kein gutes Zeichen, dass alle Republikaner - sie haben die Mehrheit im Abgeordnetenhaus - seit Freitag schweigen. Als Terroristen im Herbst in Libyen den US-Botschafter ermordeten, machten die Republikaner Obama persönlich dafür verantwortlich. Wenn nun in einer US-Schule 20 Kinder sterben, scheinen sie weder den Präsidenten noch sich in der Pflicht zu sehen. Widerstand gegen neue Gesetze dürften aber auch einige Parteifreunde Obamas leisten, weil sie Geld von der Waffenlobby bekommen oder aber den Zorn ihrer Wähler fürchten. Harry Reid aus Nevada etwa bekennt sich zur NRA - er ist der Führer der demokratischen Mehrheitsführer im US-Senat.

Bis zum Massenmord am Freitag jedenfalls deutete der Trend nicht auf mehr Kontrolle. Fragt man die Amerikaner, ob Gesetze den Zugang zu Feuerwaffen erschweren sollen, so sind sie heute in der Mehrheit dagegen. Nach der Langzeiterhebung von Gallup waren vor zwei Jahrzehnten fast 80 Prozent der Befragten für mehr Kontrolle, heute nur noch 44 Prozent.

Schon jetzt besitzen die Bürger der Vereinigten Staaten fast 300 Millionen Handfeuerwaffen, das ist pro Kopf und absolut die größte Zahl weltweit. Die Anzahl jener, die mit solchen Waffen ermordet werden, geht allerdings zurück, innerhalb der vergangenen 20 Jahre von etwa 17000 auf 9900 pro Jahr. Zwei Drittel der jährlich 30000 Todesopfer sind Selbstmörder.

Diese Zahlen spielen der Waffenlobby und jenen Politikern in die Hände, die sich freie Waffen für freie Bürger wünschen. Eben erst haben Gesetzgeber und Gerichte in mehreren Staaten die Vorschriften eher gelockert als verschärft, in Michigan etwa beschloss das Parlament, Waffen in den Schulen zu erlauben.

Waffenbesitz ist aus der Sicht vieler Amerikaner ein unveräußerliches, gottgegebenes Grundrecht, auch weil es eine grundsätzliche Aussage trifft über das Verhältnis zwischen Bürger und Staat. Als Teil der Bill of Rights in die Verfassung aufgenommen und 1791 in Kraft getreten, ist der 'Zweite Verfassungszusatz' allerdings missverständlich und bis heute selbst unter den höchsten Richtern des Landes umstritten. Er lautet: 'Da eine gut organisierte Miliz für die Sicherheit eines freien Staates notwendig ist, darf das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht beeinträchtigt werden.'

Der Supreme Court hat in seinem historischen Urteil 'D.C.v.Heller' 2008 entschieden, die Formel als Individualrecht auszulegen, auf das sich jeder Bürger berufen kann, der sich selbst verteidigen möchte. Vier der neun obersten Richter aber waren anderer Meinung. Aus ihrer Sicht bezieht sich der strittige Satz auf den Begriff 'Miliz': Demnach gewährt er bloß den einzelnen US-Staaten das Recht, eigene Streitkräfte (wie die Nationalgarde) zu unterhalten, ein Ausdruck des revolutionär geprägten Misstrauens gegen die Bundesregierung und den einstigen Kolonialherren.

Die Waffenanhänger freilich sehen ihr Recht durch keinen Amoklauf infrage gestellt. Selbst im 21. Jahrhundert, da weder die US-Armee noch die britische Marine das Volk unterjochen möchten, zählen sie die 'vier Schachteln' auf, mit denen die Freiheit verteidigt wird: Die 'soap box', ein Podest für politische Reden, die 'ballot box', die Wahlurne, die 'jury box' bei Gericht und schließlich die 'bullet' oder 'ammo box' für die Munition. Aus ihrer Sicht scheitert der Staat immer an seinen Verboten (wie dem Verkauf von Alkohol während der Prohibition), weshalb sich Verbrecher selbst nach einem umfassenden Verbot bewaffnen könnten, während die Bürger ohne Möglichkeit der Gegenwehr blieben.

Doch selbst der Supreme Court hat es weder der Bundesregierung noch den Staaten verboten, den Zugang zu Schusswaffen zu regeln oder zu beschränken. Inzwischen sprechen Experten und Politiker vor allem über vier Ansätze zur Eindämmung der Gewalt: Erstens sollen Waffenkäufer mehr über sich offenbaren als bisher. Das Justizministerium arbeitet längst an solchen Plänen, hat sie im Wahlkampf aber wieder weggelegt. Zweitens könnte das Gesetz von 1994 wieder aufleben, es würde den Verkauf und Gebrauch bestimmter, besonders tödlicher Waffen ganz untersagen, einschließlich besonders großer Magazine, die äußerst viele Schüsse in kurzer Zeit ermöglichen. Drittens könnten die Wartefristen steigen, sie sollen einen Käufer dazu zwingen, sich zwischen Kaufentscheidung und dem Erhalt der Waffe 'abzukühlen'. Viertens müsste der Staat psychisch belastete oder kranke Menschen schneller ausmachen und behandeln.

Doch all dies hätte die Kinder in Newtown wohl selbst dann nicht gerettet, wenn es längst Gesetz wäre: Die Mutter des Täters hortete ihr Arsenal schon seit Jahren. Was immer Washington entscheidet - es sind nun mal so viele Waffen im Umlauf, wie das Land Bürger hat. Obama dürfte zwar den moralischen Druck spüren, etwas zu tun, aber er wird auch haushalten müssen mit seinem politischen Kapital. Er braucht es, um sich mit den Republikanern auf Haushaltsgesetze und eine Einwanderungsreform zu einigen. Am Sonntag reiste er erst mal nach Newtown, um die Familien zu trösten. Oft trauern Politiker nach Amokläufen. Selten handeln sie.

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