'Was ist mit Sex vor der Ehe?' Beim Begegnungsprojekt 'Likrat' gehen jüdische Jugendliche in die Klassenzimmer. Vor allem muslimische Schüler wissen oft wenig über die Religion, haben aber Klischees im Kopf. Ein Besuch in Mannheim
Serdar, 17 Jahre, türkische Wurzeln, knetet seine Hände, wischt über die Jeans, fasst sich an die Nase und fragt: 'Wie ist es, ein Jude zu sein?' Pavel, 22 Jahre, jüdisch, beugt sich nach vorn, lächelt und sagt: 'Ich bin immer der bunte Hund.' 11.45 Uhr, die Schulstunde der Klasse 10 b hat vor fünf Minuten begonnen.
Die Humboldt-Realschule in Mannheim: 24 Schüler, 13 Nationen, die Hälfte der Schüler betet zu Allah. Ein Junge knickt sein Käppi, ein anderer nestelt am geringelten Kabel, das zu seinem Kopfhörer führt. Mädchen wippen nervös mit den Füßen, eine Schülerin trägt Kopftuch. Der Finger von Serdar schnellt schon wieder nach oben. Er will wissen: 'Hast du auch muslimische Freunde?' Ein Jude im Unterricht, das gab es hier noch nie. An diesem Tag findet das Projekt 'Likrat' statt. Das ist hebräisch und heißt 'in Begegnung'.
Nach zehn Minuten fragt der Erste nach dem Holocaust. Den habe er ja nicht miterlebt und sei daher 'kein Experte', sagt Pavel und beendet die Debatte eher schnell. Sein Ziel ist es, seinen Altersgenossen zu zeigen: Jüdische Jugendliche sind kein Kuriosum, sondern normale Leute.
Das Verhältnis zwischen Muslimen und Juden in Deutschland sei angespannt, schreiben die Zeitungen. Ende August schlugen vier arabischstämmige Jugendliche in Berlin den Rabbiner Daniel Alter zusammen. Zwei Jahre zuvor flogen in Hannover Kieselsteine auf eine jüdische Tanzgruppe, die Täter, eine Gruppe arabischer Jugendlicher, skandierten antisemitische Parolen. Einer Studie zufolge stimmt jeder dritte muslimische Jugendliche der Aussage zu: 'Durch die israelische Politik werden mir die Juden immer unsympathischer.' Auf deutschen Schulhöfen gibt es ein neues Schimpfwort: 'Du Jude.' Und nicht zuletzt hat das Land gerade eine Beschneidungsdebatte hinter sich, über die Bundespräsident Joachim Gauck kürzlich sagte: 'Echte, aufgeklärte Sorge um Kindeswohl und körperliche Unversehrtheit' hätten sich mit 'antisemitischen Tönen gemischt, die auch mich erschreckt haben'.
Aber Serdar und seine Mitschüler sitzen hier in Mannheim, wo jeder dritte Bürger einen Migrationshintergrund hat, und fragen Pavel, den Juden, wie er so lebe. Was er esse. Und wie sein Urlaub in Israel war. Pavel, flott gekleidet mit blauem Kapuzenpulli und braunen Sneakers, moderiert den Fragenstrom, als mache er das jeden Tag. Seine Hände fliegen beim Erklären durch die Luft. In Karlsruhe studiert der 22-Jährige Wirtschaftsingenieurwesen. In den Zug nach Mannheim hat er sich für Likrat gesetzt - um mit Serdar und den anderen zu reden. Und um Wissen zu vermitteln: Denn über den jüdischen Glauben wissen Jugendliche - egal welcher Herkunft - oft so gut wie gar nichts.
Das Projekt stammt aus der Schweiz, 2006 brachte es der Zentralrat der Juden nach Deutschland, wo es seitdem von der Hochschule für jüdische Studien in Heidelberg vorangetrieben wird. Jüdische Jugendliche kommen in Schulen und erzählen von ihrem Alltag. Damit Pavel auf Serdar trifft, hat der Lehrer bei Likrat angerufen. 250-mal diskutierten die Mitglieder von Likrat, die Likratinos, schon mit Schülern aller Schularten - insgesamt mit 5000 Jugendlichen. Likrat macht keinen Religionsunterricht, Likrat will Dialog. Pavel interessiert, was Serdar und seine Klasse so denkt. Deswegen sitzt er jetzt da mit Jael, der anderen Likratina, und scannt die Schüler, die gehobenen Finger. Für viele ist es die erste Begegnung mit einem Juden.
Nach 15 Minuten fragt einer nach dem Nahostkonflikt. Das Existenzrecht Israels müsse das Existenzrecht Palästinas nicht ausschließen, meint Pavel. Man könne zu dem Thema gern diskutieren, wenn es 'differenziert geschieht'. Keine Nachfragen in der Klasse. Andere Themen bewegen die Gemüter. 'Käse und Salami nie zusammen zum Frühstück', sagt Pavel. 'Boa', ruft einer, 'das ist echt hart.' Pavel ist jetzt beim Essen angekommen, spricht von der Kaschrut, den Speisevorschriften. Pavel isst koscher, aber manchmal kauft er sich auch einen Chicken-Burger. Serdar wippt nervös mit dem linken Bein, dann sagt er: 'Halal.' Was bei den Juden 'koscher' ist, heißt bei den Muslimen 'halal', mit geringen Unterschieden. Wovon Pavel redet, hat also auch Serdar eine Ahnung.
'In Deutschland gibt es eine verzerrte Auffassung von Antisemitismus', sagt Juliane Wetzel vom Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin. 'Alle schauen auf die Muslime, dabei sind rechtsextreme Deutsche das Problem.' Eine Anfrage der Linke-Fraktion an die Bundesregierung ergab: 95 Prozent der Straf- und Gewalttaten mit antisemitischem Hintergrund kommen von rechts. 'Nur der Kontakt zwischen Juden und Muslimen in Deutschland könnte intensiver sein', sagt Wetzel.
Vor dem Unterricht hat Pavel noch gesagt: 'Muslime verstehen, wie es ist, ein bunter Hund zu sein.' Serdar aus Mannheim weiß, was es bedeutet, religiös zu leben und Gebote zu achten. 'Muslime reagieren positiver, wenn ich von meinem Leben erzähle', sagt Pavel. Vor drei Jahren saß er schon einmal hier, selbe Schule, selbe Stadt - und redete über Gummibärchen. 'Welche Gummibärchen sind ohne Gelatine?', wollten die muslimischen Schüler von ihm wissen. Welche sind koscher und damit halal? Er fühlte sich wohl. Nach 30 Minuten will ein Schüler wissen: 'Tragt ihr auch Kopftücher?'
'In einer Likrat-Begegnung sprechen ganz normale Menschen, die einfach nur jüdisch sind', sagt Susanne Benizri. Sie sitzt ganz hinten, hört zu, manchmal muss sie lachen. Bei Likrat ist sie für die Koordination zuständig, sie betreut die jüdischen Jugendlichen. 'Bisher waren wir nur in Süddeutschland und Nordrhein-Westfalen tätig', sagt Benizri. Allerdings ist die Ausweitung auf ganz Deutschland geplant. Und Likrat will künftig nicht nur in Schulen gehen, sondern auch in Betriebe und Sportvereine. Schon jetzt ist das Projekt in der Fachwelt registriert worden, es wird bald Preisträger des Wettbewerbs 'Ideen für die Bildungsrepublik' sein.
Hinter dem Stuhlkreis, auf den Schulbänken, liegen unberührt die Prüfungsbücher: Abschlussprüfung Realschule - in diesem Moment ist sie ganz weit weg. Serdar fragt: 'Kennt ihr Juden aus Mannheim?' Pavel nickt. 'Was ist mit Sex vor der Ehe?', will ein Mädchen wissen. Die Klasse ist neugierig, stellt Frage um Frage, Pavel redet sich den Mund fransig. Es gebe einen Moment, in dem alles ins Rutschen kommt, hat Benizri, die Koordinatorin, vor der Stunde gesagt. Vorurteile kommen in Bewegung, Stereotypen kippen, man rede über Gemeinsamkeiten. 'Wie fühlt ihr euch als Minderheit?', fragt schließlich Serdar. 'Von uns Türken gibt es ja genug.' Hinten im Raum holt Susanne Benizri tief Luft, als wollte sie etwas sagen. Dann schaltet sie sich ein: 'Ich fühle mich manchmal einsam, wie ein Alien.' Die Klasse schweigt. Serdar dreht sich um und sagt: 'Ich kann dich ja besuchen kommen.'
Serdar, 17 Jahre, türkische Wurzeln, knetet seine Hände, wischt über die Jeans, fasst sich an die Nase und fragt: 'Wie ist es, ein Jude zu sein?' Pavel, 22 Jahre, jüdisch, beugt sich nach vorn, lächelt und sagt: 'Ich bin immer der bunte Hund.' 11.45 Uhr, die Schulstunde der Klasse 10 b hat vor fünf Minuten begonnen.
Die Humboldt-Realschule in Mannheim: 24 Schüler, 13 Nationen, die Hälfte der Schüler betet zu Allah. Ein Junge knickt sein Käppi, ein anderer nestelt am geringelten Kabel, das zu seinem Kopfhörer führt. Mädchen wippen nervös mit den Füßen, eine Schülerin trägt Kopftuch. Der Finger von Serdar schnellt schon wieder nach oben. Er will wissen: 'Hast du auch muslimische Freunde?' Ein Jude im Unterricht, das gab es hier noch nie. An diesem Tag findet das Projekt 'Likrat' statt. Das ist hebräisch und heißt 'in Begegnung'.
Nach zehn Minuten fragt der Erste nach dem Holocaust. Den habe er ja nicht miterlebt und sei daher 'kein Experte', sagt Pavel und beendet die Debatte eher schnell. Sein Ziel ist es, seinen Altersgenossen zu zeigen: Jüdische Jugendliche sind kein Kuriosum, sondern normale Leute.
Das Verhältnis zwischen Muslimen und Juden in Deutschland sei angespannt, schreiben die Zeitungen. Ende August schlugen vier arabischstämmige Jugendliche in Berlin den Rabbiner Daniel Alter zusammen. Zwei Jahre zuvor flogen in Hannover Kieselsteine auf eine jüdische Tanzgruppe, die Täter, eine Gruppe arabischer Jugendlicher, skandierten antisemitische Parolen. Einer Studie zufolge stimmt jeder dritte muslimische Jugendliche der Aussage zu: 'Durch die israelische Politik werden mir die Juden immer unsympathischer.' Auf deutschen Schulhöfen gibt es ein neues Schimpfwort: 'Du Jude.' Und nicht zuletzt hat das Land gerade eine Beschneidungsdebatte hinter sich, über die Bundespräsident Joachim Gauck kürzlich sagte: 'Echte, aufgeklärte Sorge um Kindeswohl und körperliche Unversehrtheit' hätten sich mit 'antisemitischen Tönen gemischt, die auch mich erschreckt haben'.
Aber Serdar und seine Mitschüler sitzen hier in Mannheim, wo jeder dritte Bürger einen Migrationshintergrund hat, und fragen Pavel, den Juden, wie er so lebe. Was er esse. Und wie sein Urlaub in Israel war. Pavel, flott gekleidet mit blauem Kapuzenpulli und braunen Sneakers, moderiert den Fragenstrom, als mache er das jeden Tag. Seine Hände fliegen beim Erklären durch die Luft. In Karlsruhe studiert der 22-Jährige Wirtschaftsingenieurwesen. In den Zug nach Mannheim hat er sich für Likrat gesetzt - um mit Serdar und den anderen zu reden. Und um Wissen zu vermitteln: Denn über den jüdischen Glauben wissen Jugendliche - egal welcher Herkunft - oft so gut wie gar nichts.
Das Projekt stammt aus der Schweiz, 2006 brachte es der Zentralrat der Juden nach Deutschland, wo es seitdem von der Hochschule für jüdische Studien in Heidelberg vorangetrieben wird. Jüdische Jugendliche kommen in Schulen und erzählen von ihrem Alltag. Damit Pavel auf Serdar trifft, hat der Lehrer bei Likrat angerufen. 250-mal diskutierten die Mitglieder von Likrat, die Likratinos, schon mit Schülern aller Schularten - insgesamt mit 5000 Jugendlichen. Likrat macht keinen Religionsunterricht, Likrat will Dialog. Pavel interessiert, was Serdar und seine Klasse so denkt. Deswegen sitzt er jetzt da mit Jael, der anderen Likratina, und scannt die Schüler, die gehobenen Finger. Für viele ist es die erste Begegnung mit einem Juden.
Nach 15 Minuten fragt einer nach dem Nahostkonflikt. Das Existenzrecht Israels müsse das Existenzrecht Palästinas nicht ausschließen, meint Pavel. Man könne zu dem Thema gern diskutieren, wenn es 'differenziert geschieht'. Keine Nachfragen in der Klasse. Andere Themen bewegen die Gemüter. 'Käse und Salami nie zusammen zum Frühstück', sagt Pavel. 'Boa', ruft einer, 'das ist echt hart.' Pavel ist jetzt beim Essen angekommen, spricht von der Kaschrut, den Speisevorschriften. Pavel isst koscher, aber manchmal kauft er sich auch einen Chicken-Burger. Serdar wippt nervös mit dem linken Bein, dann sagt er: 'Halal.' Was bei den Juden 'koscher' ist, heißt bei den Muslimen 'halal', mit geringen Unterschieden. Wovon Pavel redet, hat also auch Serdar eine Ahnung.
'In Deutschland gibt es eine verzerrte Auffassung von Antisemitismus', sagt Juliane Wetzel vom Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin. 'Alle schauen auf die Muslime, dabei sind rechtsextreme Deutsche das Problem.' Eine Anfrage der Linke-Fraktion an die Bundesregierung ergab: 95 Prozent der Straf- und Gewalttaten mit antisemitischem Hintergrund kommen von rechts. 'Nur der Kontakt zwischen Juden und Muslimen in Deutschland könnte intensiver sein', sagt Wetzel.
Vor dem Unterricht hat Pavel noch gesagt: 'Muslime verstehen, wie es ist, ein bunter Hund zu sein.' Serdar aus Mannheim weiß, was es bedeutet, religiös zu leben und Gebote zu achten. 'Muslime reagieren positiver, wenn ich von meinem Leben erzähle', sagt Pavel. Vor drei Jahren saß er schon einmal hier, selbe Schule, selbe Stadt - und redete über Gummibärchen. 'Welche Gummibärchen sind ohne Gelatine?', wollten die muslimischen Schüler von ihm wissen. Welche sind koscher und damit halal? Er fühlte sich wohl. Nach 30 Minuten will ein Schüler wissen: 'Tragt ihr auch Kopftücher?'
'In einer Likrat-Begegnung sprechen ganz normale Menschen, die einfach nur jüdisch sind', sagt Susanne Benizri. Sie sitzt ganz hinten, hört zu, manchmal muss sie lachen. Bei Likrat ist sie für die Koordination zuständig, sie betreut die jüdischen Jugendlichen. 'Bisher waren wir nur in Süddeutschland und Nordrhein-Westfalen tätig', sagt Benizri. Allerdings ist die Ausweitung auf ganz Deutschland geplant. Und Likrat will künftig nicht nur in Schulen gehen, sondern auch in Betriebe und Sportvereine. Schon jetzt ist das Projekt in der Fachwelt registriert worden, es wird bald Preisträger des Wettbewerbs 'Ideen für die Bildungsrepublik' sein.
Hinter dem Stuhlkreis, auf den Schulbänken, liegen unberührt die Prüfungsbücher: Abschlussprüfung Realschule - in diesem Moment ist sie ganz weit weg. Serdar fragt: 'Kennt ihr Juden aus Mannheim?' Pavel nickt. 'Was ist mit Sex vor der Ehe?', will ein Mädchen wissen. Die Klasse ist neugierig, stellt Frage um Frage, Pavel redet sich den Mund fransig. Es gebe einen Moment, in dem alles ins Rutschen kommt, hat Benizri, die Koordinatorin, vor der Stunde gesagt. Vorurteile kommen in Bewegung, Stereotypen kippen, man rede über Gemeinsamkeiten. 'Wie fühlt ihr euch als Minderheit?', fragt schließlich Serdar. 'Von uns Türken gibt es ja genug.' Hinten im Raum holt Susanne Benizri tief Luft, als wollte sie etwas sagen. Dann schaltet sie sich ein: 'Ich fühle mich manchmal einsam, wie ein Alien.' Die Klasse schweigt. Serdar dreht sich um und sagt: 'Ich kann dich ja besuchen kommen.'