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Europa ist kein Traumschloss mehr

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Die EU durchlebte 2012 die schlimmste Krise ihrer Geschichte. Nun regiert in Brüssel die beinharte Realität - endlich

Es war schick in diesem Jahr, sehr grundsätzlich und schwerblütig über die Europäische Union und ihre Strukturen nachzudenken. Angetreten waren alle Reißbrettstrategen, die Europa schon seit Jahren nach Plan und Idee konstruieren und lange Debatten über die Finalität führen können - als ob Europa eines Tages fertig gebaut sein würde wie ein Schloss oder vielleicht doch nur ein Reihenhaus. Soziologen wie Ulrich Beck und Philosophen wie Jürgen Habermas gründelten in tiefen Wassern, andere Euro- Theoretiker verfassten Denkschriften, hielten Grundsatzreden oder traten auf Veranstaltungen auf mit dem Titel 'Europa wohin?' oder 'Europas Schicksal'.





Das Wichtigste könnte ihnen entgangen sein. Europa tickt schon längst nach neuen Regeln. Man kann sogar behaupten, die EU hat 2012 die größte Strukturreform seit ihrer Gründung erlebt - ganz im Stillen. Weil die Krise jeden wachen Moment beansprucht, wird erst mit etwas Abstand klar, wie sehr sich die europäische Mechanik verschoben hat. Drei große Trends lassen sich erkennen.

Erstens sind Europas Nationalstaaten zurückgekehrt. Dies ist die Krise der nationalen Exekutiven und sogar der nationalen Parlamente. Der Grund: Die Probleme sind national, sie sind von Regierungen und Parlamenten verursacht oder liegen zumindest in ihrem Verantwortungsbereich - Schulden, Budgets, die Wirtschaftspolitik. Die europäischen Institutionen können da wenig zur Lösung beitragen. Der Trend zur politischen Gestaltung nach der Gemeinschaftsmethode ist gebrochen. Übersetzung: Das Heil Europas liegt plötzlich nicht mehr in Brüssel.

Zweitens hat das ökonomische Ungleichgewicht in der Union auch die politische Balance zwischen den Staaten zerstört. Plötzlich führt Deutschland dieses Europa unangefochten an, was man gut oder schlecht finden kann. Sicher ist jedenfalls, dass die Achsen-Variante mit Frankreich nicht mehr funktioniert. Diese Achse ist gebrochen, spätestens seitdem in Paris Nicolas Sarkozy mit seinem Versuch gescheitert ist, französische Probleme mit deutschen Methoden zu lösen.

Drittens hat sich für alle sichtbar das Europa der vielen Geschwindigkeiten durchgesetzt: Es gibt die Staaten mit oder ohne den Euro; unter den Euro-Staaten gibt es die Staaten mit einer gesunden Volkswirtschaft und die Krisenstaaten; schließlich gibt es sogar Staaten, die durch die neuen politischen Fliehkräfte aus der Union hinausgetragen werden - Großbritannien etwa.

Bei alldem handelt es sich nicht um abstrakte Vorgänge. Am stärksten spüren das natürlich die Griechen, die sich in ihrer Abhängigkeit von der gemeinsamen Währung und den Märkten aller Freiheiten beraubt haben. Durch die Bindung an den Euro ist Griechenland zu Reformen gezwungen, die es ohne den Transparenzzwang der Gemeinschaft vielleicht hätte umgehen können. So schmerzhaft ist dieser Prozess, dass die Griechen 2012 gleich zweimal das Parlament wählen mussten, ohne dass dadurch das Reformgeschäft einfach geworden wäre. Spanien, Italien, Portugal, Irland, Belgien - überall gerieten die politischen Systeme unter Druck. In Spanien gingen nicht nur die krisengebeutelten Hauptstädter auf die Straße. Nein, die Staatsschulden und das Selbstbedienungssystem der Banken nagten am Zusammenhalt des Staates insgesamt, die Kräfte der Segregation standen auf. Und in Italien bedurfte es sogar der magischen Suggestionskräfte eines Wirtschaftsprofessors im Regierungsamt, um dem Land wenigstens ein bisschen Arbeitsmarktreform abzupressen. Vielleicht wäre auch Frankreichs Bling-Bling-Präsident Nicolas Sarkozy nicht im Mai 2012 abgewählt worden, hätte er seinen Landsleuten nur verschwiegen, dass sie mit höheren Steuern und weniger Sozialleistungen rechnen müssten. 'Die Angst ist zurück', teilte Sarkozy den Franzosen mit, die sich daraufhin entschieden, den Überbringer der schlechten Nachricht doch lieber zu köpfen. Erst unter seinem Nachfolger François Hollande wurde deutlich, wie hoch der Preis für den Stillstand ist. Er wird berechnet in Wachstum, Arbeitslosenquoten und Lohnstückkosten, und umgerechnet wird er in politisches Gewicht und Einfluss in Europa.

Dies ist die eigentliche Lektion des zweiten Krisenjahres auf dem Kontinent: Alle politische Gleichmacherei nutzt nichts, solange nicht auch die Wettbewerbsfähigkeit zwischen Europas Zentrum und der Peripherie besser ins Lot gebracht wird. Mit Geldgeschenken allein wird sich das Problem nicht lösen lassen. Europas Staaten haben nicht nur zu hohe Schulden, sie betreiben auch eine sehr unterschiedliche Haushaltspolitik und haben ein nicht gerade stimmiges Bild von ihrer Leistungskraft in der Welt.

Krisengewinnler ist natürlich zunächst Deutschland, dessen politisches Gewicht in Europa inzwischen alle erdrückt. Das ist gefährlich, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel sehen konnte, als sie im Oktober durch Polizeikordons hindurch in die Athener Innenstadt fuhr. Auch politisch trägt der Koloss in der Mitte nicht zum Frieden bei, aber Deutschland hat sich entschlossen, diese Spannung auszuhalten und seine ordnungspolitischen Vorstellungen dem Rest Europas - nun ja: nahezubringen. Nachdem zu Jahresbeginn der Fiskalpakt dran war mit seiner obligatorischen Schuldenbremse deutscher Bauart, geht es nun an die nächsten Bausteine: Zum Fiskalpakt würde logischerweise eine gemeinsame Fiskalpolitik mit Eingriffsrechten in die nationalen Haushalte gehören. Einer muss ja Alarm schreien, wenn ein Euro-Land über seine Verhältnisse lebt.

Zur Haushaltspolitik gehört eine Finanzmarktpolitik - deswegen wird nun an der europäischen Bankenaufsicht gearbeitet, die im Juli beschlossen wurde. Ein gewaltiges Unterfangen, das natürlich sofort Konflikte auslöste: Wer die Aufsicht schnell will, wie etwa Spanien, der erhofft sich auch eine schnelle Vergemeinschaftung der Risiken. Wer gründlich und ohne Hast an der Aufsicht arbeitet, wie Deutschland, der lehnt jede Verantwortung für die Sünden der Vergangenheit ab. Die dritte Säule der neuen europäischen Ordnung würde nach Berliner Vorstellung aus einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik gebaut. Was nutzt alle Haushaltsdisziplin, wenn ein Land mit seiner Steuer- oder Arbeitsmarktpolitik Bocksprünge vollführt oder glaubt, man könne die Nation mit noch mehr Autobahnen oder Eigentumswohnungen glücklich machen. Angela Merkel sähe ihr Werk gekrönt, wenn all dies ordentlich demokratisch verpackt würde, wenn ein neu strukturiertes Europäisches Parlament über das neue Wirtschafts-Europa wachte. Wächst da wirklich etwas Neues heran? Nun steckt Europa in der größten Krise seit seiner Gründung. Wäre 2012 die Währung zerbrochen, dann wäre auch der politische Zusammenhalt in der EU zerstört. Die volkswirtschaftliche Katastrophe hätte Europa nicht überlebt. 2012 wird als Scharnierjahr der Krise in die Geschichte eingehen, das Jahr, in dem die Politik die Gestaltungshoheit über das Existenzproblem Euro zurückeroberte.

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