Perfekt programmierte Kristallkugel: Der beste politische Blogger der USA hat ein Buch geschrieben.
Die Ergebnisse der amerikanischen Präsidentenwahl im November sind lange ausgezählt und gewonnen hat eindeutig: Nate Silver - der 'Wundernerd' (so die Zeitschrift The Atlantic), der in jedem der fünfzig US-Bundesstaaten den Wahlsieger korrekt vorhergesagt hatte. Die Wirklichkeit hatte seine längst als 'Best Political Blog' ausgezeichneten Analysen eindrucksvoll bestätigt. Es war ein Sieg der Statistik über die steile These.
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Nate Silver ist eine personifizierte Wahrsagerkugel. Die Strategie seiner Prognosen erklärt er jetzt in einem Buch.
Schon vor ein paar Jahren hatte der in Berkeley lehrende Psychologe Philip Tetlock 82361 politische Vorhersagen von 284 politischen Experten untersucht und dabei einen klaren Zusammenhang festgestellt: Je häufiger ein Experte in den Medien auftrat, desto öfter lag er falsch. Überhaupt waren die untersuchten Profis 'nur unwesentlich besser als mit Dartpfeilen werfende Schimpansen'.
Nate Silver, der schon beim ersten Obama-Sieg bei 49 von 50 Staaten richtig gelegen hatte, arbeitet mit einer komplizierten Formel und hatte seine Methode in dem inzwischen zur New York Times gehörenden Blog 'FiveThirtyEight' erklärt. Hier nur so viel: Er führt keine eigenen Umfragen durch, sondern gewichtet die zur Verfügung stehenden Quellen. Wie alt ist die Umfrage? Wie viele Leute wurden befragt? Wie richtig lag dieses Institut in der Vergangenheit? Da zum Beispiel Online-Umfragen jüngere Leute erreichen, tendieren sie nach links und müssen nach rechts korrigiert werden.
Der Durchschnitt der so gewichteten Informationen bildet einen 'Schnappschuss' der aktuellen Lage: So ginge die Wahl wahrscheinlich heute aus. Bei der Hochrechnung berücksichtigt Silver dann noch Trends und historische Erfahrungen und simuliert auf dieser Basis 10000 mal den Wahlprozess. Voilà: Gewinnt einer 7364 Mal, liegen seine Siegchancen bei 73,64 Prozent.
Bahnbrechend ist das grundsätzlich nicht. In anderen Bereichen, etwa der Wissenschaft, haben sich ähnliche Meta-Analysen längst etabliert. Und auch auf dem Feld der Politik ist Silver längst nicht mehr allein: Auch Votamatic.org und das Princeton Election Consortium haben dieses Jahr ähnlich gute Voraussagen gemacht. Was die Sache dagegen wirklich interessant macht, ist der Kulturwandel, der stattfindet, wenn eine Diskussion plötzlich von Mathematikern beherrscht wird.
In dieser Hinsicht ist Silver Wiederholungstäter. Die Revolution, die er in den vergangenen Jahren in die Politik getragen hat, hatte er längst woanders geprobt - unter anderem im Baseball. In seinem Bestseller 'Moneyball, The Art of Winning an Unfair Game' (2003) hat der Journalist Michael Lewis diese Revolution beschrieben - den Einzug der Nerds in die Kommandozentralen des Sports.
Hauptfigur in Lewis" später verfilmter Geschichte ist Billy Beane, der Manager der Oakland Athletics. Oakland war im Verhältnis zu anderen Teams bitterarm. Während die New York Yankees 125 Millionen Dollar für Spieler in der Tasche hatten, stand Oakland kaum ein Drittel davon zur Verfügung. Die Lage war also im Grunde aussichtslos: Die größten Talente würden auch dieses Jahr wieder zu den reichsten Teams gehen, den Ärmeren blieb eine Zukunft auf der Verliererstraße.
Wer so denkt, hatte seine Rechnung ohne die Nerds gemacht. Statistisch begabte Fans hatten Baseball seit den Siebzigerjahren zunehmend genau analysiert. Dabei war ihnen aufgefallen, dass die angeblichen Experten relativ oft falsch lagen: Die Clubs investierten große Summen in Talente, die sich in der Liga nie durchsetzten und übersahen gleichzeitig äußerst vielversprechende Spieler - etwa weil sie zu dick waren oder den Ball komisch warfen. Auch die alten Spielerscouts nutzten Statistiken, aber am Ende entschied ihr Bauchgefühl: Diesen Jungen kann ich mir auf einem Poster vorstellen.
Die Nerds dagegen sahen nur Zahlen. Dabei handelten sie im Grunde wie eine Private-Equity-Gesellschaft, die gezielt nach unterbewerteten Unternehmen sucht, um in sie zu investieren. Gegen den Widerstand der alten Garde kaufte Billy Beane auf Empfehlungen der Nerds für wenig Geld eine 'Gurkentruppe' mit bislang übersehenen Stärken zusammen. Der Erfolg gab ihm recht: als drittärmstes Team der Liga zogen die Oakland A"s souverän in die Playoffs ein.
Inzwischen hat fast jede Profi-Mannschaft ihre Nerds - die Wissenslücke wurde geschlossen. Silver, der eine Zeitlang einer der führenden Köpfe dieser Bewegung gewesen war, zog daraufhin weiter. Seine Zwischenstation vor der Politik hieß Online-Poker, dessen Boom um 2004 viele neue Spieler anzog: Noch so eine Nische, in welcher der bessere Statistiker häufiger gewann.
In seinem nun erschienenen Buch 'The Signal and the Noise: Why Most Predictions Fail - But Some Don"t' weitet Silver diese Strategie schließlich auf die ganze Welt aus. Schließlich gibt es fast überall Prognosen, die er ausführlich bewerten kann: Im Finanzmarkt, in Bezug auf das Wetter, zu Erdbeben, Epidemien, dem Klima, Sportergebnissen. Schachcomputer antizipieren die Züge ihrer Gegner, Geheimdienste verhindern die Terroranschläge von übermorgen, Google weiß schon nach drei Buchstaben, wonach man eigentlich sucht.
Dabei liegen manchmal die meisten Vorhersagen falsch - wie zum Beispiel die AAA-Ratings vor der Finanzkrise. Oder eine Vorhersage liegt richtig, wird aber ignoriert -wie die dringende Aufforderung der Meteorologen vor dem Hurrikan Katrina, New Orleans zu evakuieren. Dann wieder sind genaue Vorhersagen gar nicht möglich - wie etwa bei Erdbeben, für die bis heute kein funktionierendes Frühwarnsystem existiert. Jedenfalls ist es in den meisten Fällen äußerst schwer, im ohrenbetäubenden Rauschen der Information das Signal wahrzunehmen, das sehr leise von der Wahrheit kündet.
Und genau darum war Silvers Buch selbst schwer vorherzusehen. Wider Erwarten geht es nicht darum, groß aufzutrumpfen: der Prognose-Popstar mit der perfekt programmierten Kristallkugel predigt eine neue Science-Gewissheit in der Politik. Stattdessen liest man eine spannende und äußerst detailreiche Ethik - ein Plädoyer für die zurückhaltende, ständig mit eigenen Fehlern rechnende Analyse von immer zu viel Information von überallher. 'The Signal and the Noise' ist also ein Buch über das richtige zeitgenössische Denken: in fundierten und wohlkalkulierten - Ungewissheiten. Selten hatte dieses Zeugnis so viel Appeal: 'Wahrscheinlichkeitsrechnung: Nachsitzen'.
Nate Silver: The Signal and the Noise: Why So Many Predictions Fail - but Some Don"t. Penguin Press, New York 2012. 544 Seiten, 16,95 Euro.
Die Ergebnisse der amerikanischen Präsidentenwahl im November sind lange ausgezählt und gewonnen hat eindeutig: Nate Silver - der 'Wundernerd' (so die Zeitschrift The Atlantic), der in jedem der fünfzig US-Bundesstaaten den Wahlsieger korrekt vorhergesagt hatte. Die Wirklichkeit hatte seine längst als 'Best Political Blog' ausgezeichneten Analysen eindrucksvoll bestätigt. Es war ein Sieg der Statistik über die steile These.
![](http://jetzt.sueddeutsche.de/upl/images/user/je/jetzt-redaktion/text/regular/949338.jpg)
Nate Silver ist eine personifizierte Wahrsagerkugel. Die Strategie seiner Prognosen erklärt er jetzt in einem Buch.
Schon vor ein paar Jahren hatte der in Berkeley lehrende Psychologe Philip Tetlock 82361 politische Vorhersagen von 284 politischen Experten untersucht und dabei einen klaren Zusammenhang festgestellt: Je häufiger ein Experte in den Medien auftrat, desto öfter lag er falsch. Überhaupt waren die untersuchten Profis 'nur unwesentlich besser als mit Dartpfeilen werfende Schimpansen'.
Nate Silver, der schon beim ersten Obama-Sieg bei 49 von 50 Staaten richtig gelegen hatte, arbeitet mit einer komplizierten Formel und hatte seine Methode in dem inzwischen zur New York Times gehörenden Blog 'FiveThirtyEight' erklärt. Hier nur so viel: Er führt keine eigenen Umfragen durch, sondern gewichtet die zur Verfügung stehenden Quellen. Wie alt ist die Umfrage? Wie viele Leute wurden befragt? Wie richtig lag dieses Institut in der Vergangenheit? Da zum Beispiel Online-Umfragen jüngere Leute erreichen, tendieren sie nach links und müssen nach rechts korrigiert werden.
Der Durchschnitt der so gewichteten Informationen bildet einen 'Schnappschuss' der aktuellen Lage: So ginge die Wahl wahrscheinlich heute aus. Bei der Hochrechnung berücksichtigt Silver dann noch Trends und historische Erfahrungen und simuliert auf dieser Basis 10000 mal den Wahlprozess. Voilà: Gewinnt einer 7364 Mal, liegen seine Siegchancen bei 73,64 Prozent.
Bahnbrechend ist das grundsätzlich nicht. In anderen Bereichen, etwa der Wissenschaft, haben sich ähnliche Meta-Analysen längst etabliert. Und auch auf dem Feld der Politik ist Silver längst nicht mehr allein: Auch Votamatic.org und das Princeton Election Consortium haben dieses Jahr ähnlich gute Voraussagen gemacht. Was die Sache dagegen wirklich interessant macht, ist der Kulturwandel, der stattfindet, wenn eine Diskussion plötzlich von Mathematikern beherrscht wird.
In dieser Hinsicht ist Silver Wiederholungstäter. Die Revolution, die er in den vergangenen Jahren in die Politik getragen hat, hatte er längst woanders geprobt - unter anderem im Baseball. In seinem Bestseller 'Moneyball, The Art of Winning an Unfair Game' (2003) hat der Journalist Michael Lewis diese Revolution beschrieben - den Einzug der Nerds in die Kommandozentralen des Sports.
Hauptfigur in Lewis" später verfilmter Geschichte ist Billy Beane, der Manager der Oakland Athletics. Oakland war im Verhältnis zu anderen Teams bitterarm. Während die New York Yankees 125 Millionen Dollar für Spieler in der Tasche hatten, stand Oakland kaum ein Drittel davon zur Verfügung. Die Lage war also im Grunde aussichtslos: Die größten Talente würden auch dieses Jahr wieder zu den reichsten Teams gehen, den Ärmeren blieb eine Zukunft auf der Verliererstraße.
Wer so denkt, hatte seine Rechnung ohne die Nerds gemacht. Statistisch begabte Fans hatten Baseball seit den Siebzigerjahren zunehmend genau analysiert. Dabei war ihnen aufgefallen, dass die angeblichen Experten relativ oft falsch lagen: Die Clubs investierten große Summen in Talente, die sich in der Liga nie durchsetzten und übersahen gleichzeitig äußerst vielversprechende Spieler - etwa weil sie zu dick waren oder den Ball komisch warfen. Auch die alten Spielerscouts nutzten Statistiken, aber am Ende entschied ihr Bauchgefühl: Diesen Jungen kann ich mir auf einem Poster vorstellen.
Die Nerds dagegen sahen nur Zahlen. Dabei handelten sie im Grunde wie eine Private-Equity-Gesellschaft, die gezielt nach unterbewerteten Unternehmen sucht, um in sie zu investieren. Gegen den Widerstand der alten Garde kaufte Billy Beane auf Empfehlungen der Nerds für wenig Geld eine 'Gurkentruppe' mit bislang übersehenen Stärken zusammen. Der Erfolg gab ihm recht: als drittärmstes Team der Liga zogen die Oakland A"s souverän in die Playoffs ein.
Inzwischen hat fast jede Profi-Mannschaft ihre Nerds - die Wissenslücke wurde geschlossen. Silver, der eine Zeitlang einer der führenden Köpfe dieser Bewegung gewesen war, zog daraufhin weiter. Seine Zwischenstation vor der Politik hieß Online-Poker, dessen Boom um 2004 viele neue Spieler anzog: Noch so eine Nische, in welcher der bessere Statistiker häufiger gewann.
In seinem nun erschienenen Buch 'The Signal and the Noise: Why Most Predictions Fail - But Some Don"t' weitet Silver diese Strategie schließlich auf die ganze Welt aus. Schließlich gibt es fast überall Prognosen, die er ausführlich bewerten kann: Im Finanzmarkt, in Bezug auf das Wetter, zu Erdbeben, Epidemien, dem Klima, Sportergebnissen. Schachcomputer antizipieren die Züge ihrer Gegner, Geheimdienste verhindern die Terroranschläge von übermorgen, Google weiß schon nach drei Buchstaben, wonach man eigentlich sucht.
Dabei liegen manchmal die meisten Vorhersagen falsch - wie zum Beispiel die AAA-Ratings vor der Finanzkrise. Oder eine Vorhersage liegt richtig, wird aber ignoriert -wie die dringende Aufforderung der Meteorologen vor dem Hurrikan Katrina, New Orleans zu evakuieren. Dann wieder sind genaue Vorhersagen gar nicht möglich - wie etwa bei Erdbeben, für die bis heute kein funktionierendes Frühwarnsystem existiert. Jedenfalls ist es in den meisten Fällen äußerst schwer, im ohrenbetäubenden Rauschen der Information das Signal wahrzunehmen, das sehr leise von der Wahrheit kündet.
Und genau darum war Silvers Buch selbst schwer vorherzusehen. Wider Erwarten geht es nicht darum, groß aufzutrumpfen: der Prognose-Popstar mit der perfekt programmierten Kristallkugel predigt eine neue Science-Gewissheit in der Politik. Stattdessen liest man eine spannende und äußerst detailreiche Ethik - ein Plädoyer für die zurückhaltende, ständig mit eigenen Fehlern rechnende Analyse von immer zu viel Information von überallher. 'The Signal and the Noise' ist also ein Buch über das richtige zeitgenössische Denken: in fundierten und wohlkalkulierten - Ungewissheiten. Selten hatte dieses Zeugnis so viel Appeal: 'Wahrscheinlichkeitsrechnung: Nachsitzen'.
Nate Silver: The Signal and the Noise: Why So Many Predictions Fail - but Some Don"t. Penguin Press, New York 2012. 544 Seiten, 16,95 Euro.