Atemseminar, Rückenschule, Entspannungskurs: In der Therapiegesellschaft lernen wir immer mehr über unseren Körper - nur leider verlernen wir dabei das Leben
Theoretisch ist es ganz einfach. Praktisch auch. Babys bekommen es bereits hin, Jugendliche, Erwachsene und Greise haben sogar eine gewisse Routine darin entwickelt. Hier eine kurze Gebrauchsanweisung: Man hält Mund oder Nase oder beides offen, hebt den Brustkorb ein wenig, das Zwerchfell senkt sich - Luft strömt in die Lungen und weitet sie. Nach ein paar Augenblicken strömt die Luft auch schon wieder raus, das Zwerchfell hebt und der Brustkorb senkt sich. Dieses feine Zusammenspiel funktioniert ganz automatisch, meistens unbewusst. Und sogar im Schlaf klappt das, auch wenn manche Leute dabei schreckliche Laute von sich geben. Es nennt sich: Atmen.
Obwohl wir es täglich, stündlich, ja sogar in jeder Minute etliche Male tun und gar nicht anders können, gibt es Atemseminare, Atemkurse, Atemschulen und diverse selbst ernannte Meister, die verschiedene Atemtechniken anbieten. Im Haus Werdenfels bei Regensburg finden Kurse statt, in denen unter Anleitung einer Diplom-Atempädagogin der 'Atem als Partner erfahren' wird, 'denn bewusster atmen, heißt bewusster leben'. Man kann sich 'frei atmen', beim Atmen zu sich selbst finden - und wenn das nicht gelingt, wenigstens ein paar Verspannungen wegatmen, allerdings nur, wenn man gezielt auf die schmerzenden Regionen hin atmet. Dabei gibt es im Hirnstamm ein Atemzentrum, das die Chose eigentlich von der Zentrale aus im Griff haben sollte und dafür sorgt, dass man sich neben dem ganzen Alltagsunsinn nicht auch noch um den Gasaustausch in seinen Luftwegen kümmern muss.
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Oder doch? Wie sonst ist es zu erklären, dass Kurse und Seminarangebote boomen, in denen lauter Selbstverständlichkeiten angeboten werden? Entspannungskurse, Rückenschule und eben Atemübungen sind die Klassiker, aber auch Stille finden, konzentriertes Schauen und kontemplatives In-sich-Lauschen sind ausgebucht, als ob niemand für sich allein mal die Klappe halten und einen Moment bei sich sein könnte. Manche selbst ernannten Lebensberater bieten sogar den Wochenendkurs 'Bewusst sein' an - mit den Modulen Selbstwahrnehmung und 'Reinigung des eigenen Systems'. Bei dieser Putzaktion für das eigene Ego ist man mit 266 Euro von Freitagnachmittag bis Sonntag dabei.
Für außergewöhnliche Lebensphasen gibt es natürlich auch spezielle Angebote: Nach der Geburtsvorbereitung (Schwerpunkt: Atemübungen), folgt die Rückbildungsgymnastik und schließlich der Stillkurs. Fehlt nur noch, dass demnächst der Volkshochschulkurs 'Verdauen lernen' angeboten wird oder das Blockseminar: 'Stoffwechseln für Fortgeschrittene'. So ein rechtschaffener Körper muss sich doch auf den Arm genommen vorkommen, wenn ihm beigebracht werden soll, was er eigentlich von alleine kann.
Aber das ist es ja gerade. Die Menschen trauen ihrem Körper nicht mehr über den Weg und ihm deshalb erst recht nichts mehr zu. Während jeder Einzeller sein inneres Gleichgewicht halten kann, drohen die Menschen ständig die Balance zu verlieren. Hilflos leben sie vor sich hin, immer auf der Suche nach Anleitung für die richtige Haltung und die rechte Belastung all
ihrer Problemzonen. Viele Menschen können ja nicht mal nur so viel essen, wie sie brauchen. Erst wenn sie dann irgendwann völlig aus dem Leim gegangen sind, übertreiben sie es wieder in die andere Richtung und essen eine Weile gar nichts mehr. Unter Anleitung wird gefastet, wobei den Anbietern von Fastenkuren natürlich auch der spirituelle Aspekt und die Körperwahrnehmung (Atemübungen!) wichtig sind.
Weil so viele Menschen das Gefühl für sich verloren haben und kaum noch auf sich und ihren Körper achten, gibt es - genau: Achtsamkeitsübungen. Man muss eine dieser andächtigen Exerzitien erlebt haben, beispielsweise wenn die Teilnehmer aufgefordert werden, ihre eigenen Atemzüge zu zählen. Einen Moment lang herrscht innige Ruhe und nach einer halben Minute stellen alle erstaunt fest, dass sie plötzlich viel langsamer und viel tiefer geatmet haben und sich viel besser dabei gefühlt haben. Allein wäre offenbar niemand darauf gekommen, ein paar Mal ruhig durchzuatmen.
Oder wie unachtsam sie dasitzen! Die meisten Menschen hocken - egal ob im Büro, zu Hause oder eben als Teilnehmer einschlägiger Kurse - total verkrampft da, auch wenn sie von nichts und niemandem unter Druck gesetzt werden und auch kein Stresstest droht. Erst wenn sie aufgefordert werden, einmal auf die Anspannung ihrer Muskeln in Armen und Beinen zu achten, spüren sie, dass deren Tonus viel zu hoch ist. Sie merken dann, dass der Kopf zwischen den Schultern eingezogen ist, die Atmung flach und der Bauch eingeklemmt. Bei ängstlichen Menschen haben sich mit der Zeit sogar die Halsmuskeln verkürzt, weil sie ständig den Kopf einziehen. Kein Wunder, dass auch das Herz in diesen verstockten Körpern schneller schlägt, als es eigentlich müsste. Erst wenn sie sich ihrer verspannten Lage bewusst werden, lockert und entkrampft sich der Körper endlich und der Puls beruhigt sich wieder.
Die meisten Menschen haben verlernt - oder vielleicht nie gelernt - was ihr Körper braucht, fühlen sich aber unendlich bedürftig. Sie verhalten sich wie ein kleines Kind, das schreit und heult, aber partout nicht sagen kann, ob es weint, weil es hungrig ist, übermüdet, gereizt oder einfach nur bockig. Ungeschickte Eltern fragen dann ständig: 'Was hast du denn nur, was ist denn los?' Weise Eltern nehmen ihr Kind einfach in den Arm, trösten es und meistens ist es dann gut. Aber Erwachsene? Wer nimmt die schon in den Arm?
Und so entwickeln sie bei Belastungen schnell psychosomatische Beschwerden, sei es nun Hautausschlag oder vegetative Dystonie. 40 bis 50 Prozent der Patienten, die einen niedergelassenen Arzt aufsuchen, klagen über derartige Beschwerden ohne Befund. Nicht nur beim Hausarzt, auch beim Neurologen, Gastroenterologen und Kardiologen sammeln sich solche Patienten. Ihr Herz rast und stolpert, ihnen ist schwindelig, der Kopf schmerzt, die Verdauung spielt verrückt, sie sind vollkommen erschöpft und überall tut es weh.
Natürlich gibt es in manchen Jobs ekelhafte Chefs, Mobbing und Arbeitsrhythmen, die krank machen können. Auch ist manche Beziehung so kaputt, dass sie schnurstracks in den körperlichen wie psychischen Ruin führt. Kann man sich in derartigen Stress-Situationen nichts Gutes tun, beginnt der Teufelskreis: Man somatisiert vor sich hin, lässt sich krankschreiben, rennt von Arzt zu Arzt, doch keiner der Doctores weiß so recht etwas mit dem Leidenden anzufangen, weswegen Diagnosen wie Reizdarm, funktionelle Herzrhythmusstörung, labile Hypotonie, Fibromyalgie und andere obskure Schmerzsyndrome Karriere machen. Wie kürzlich erst wieder ist dann zuverlässig der rituelle Aufschrei zu hören und zu lesen: Die stressbedingten Krankheiten nehmen zu! Unmenschliche Arbeitsbedingungen machen uns krank.
Aber das stimmt eben nur zum Teil. Es gibt ja auch die Anderen, die Erfolgreichen und Entspannten, die im Beruf stark gefordert sind, einen Haufen Kinder haben und nebenbei noch isländische Liebeslyrik übersetzen. Sie stehen genauso unter Druck, werden genauso wenig geschont, aber sie haben das Gefühl, den Stress unter Kontrolle zu haben - und außerdem zu wissen, was ihnen guttut und was sie in Zeiten starker Belastung brauchen, um sich behaglich zu fühlen.
Wer an Stresssymptomen leidet, ist übrigens beileibe kein Simulant. Beschwerden haben diese Menschen ja durchaus, es lässt sich eben nur keine körperliche Ursache dafür finden. Wenn die Ärzte dann die Verlegenheitsdiagnose einer essenziellen, idiopathischen, funktionellen oder somatoformen Störung stellen, klingt das zwar beeindruckend - heißt aber auch nur, dass die Mediziner nicht wissen, woher das Leiden kommt. Im Mittel dauert es in Deutschland fast sechs Jahre, bis ein verständnisvoller Arzt entdeckt, dass hier nicht der Darm defekt ist, die Knochen brüchig werden oder das Herz kränkelt, sondern die Seele knirscht.
Dabei wäre es so leicht, vielen dieser Leiden vorzubeugen, die aus dem chronischen Gefühl der Überforderung und Überlastung entstehen. Aber da der Mensch das einzige Lebewesen ist, das sich freiwillig den Schlaf entzieht, den Tag-Nacht-Rhythmus missachtet und das nicht erkennt, wann es Ruhe oder Bewegung, Gesellschaft oder eine Auszeit braucht, ist Abhilfe oft schwierig. Die Fähigkeit zur Selbstregulation haben die meisten Menschen ja verloren. Und wenn sie verschreckt, verängstigt, verkrampft und unverstanden in Beruf oder Beziehung vor sich hin leben, scheint Erste Hilfe auch sehr fern zu sein.
Wie sollen sie denn erkennen, was ihnen fehlt und was sie brauchen? Ein Beispiel ist der typische Bildschirmsklave, der spätabends noch immer im Büro sitzt, weil doch in einer Woche das Projekt präsentiert werden muss. Mit seinen Kräften ist er am Ende, aber mit der Arbeit noch längst nicht fertig. Die Turmuhr schlägt halb elf. Er ist bedürftig - und bestellt sich eine Pizza. Nichts gegen Pizza, aber hier hat nur der erste Teil der Selbstwahrnehmung funktioniert, nämlich das Signal 'Ich brauche'. Teil zwei aber hat nicht geklappt. Was braucht ein Mensch in diesem Moment, zu dieser Stunde? Der eine tatsächlich eine Pizza, der nächste vielleicht einen Gesprächspartner, der dritte einen Spaziergang um den Block und der vierte schlicht eine Mütze Schlaf. Herausfinden, was man braucht und nicht nur, dass man etwas braucht: Das würde schon viel Not lindern.
Aber weil so viele Menschen sich nicht gut genug kennen und ihren Körper erst recht nicht, vertrauen sie nicht sich, sondern stattdessen medizinischen und paramedizinischen Heilern, bei denen sie dann atmen lernen, entspannen lernen, verzichten lernen. Und sie müssen sich dann tatsächlich in obskuren Kursen sagen lassen, dass der 'Atem Lebenskraft ist', weil er 'ganzheitlich wirkt', was sie spätestens dann spüren sollten, wenn sie sich 'zum Geheimnis ihrer persönlichen Atemqualität durchatmen'. Geht"s noch?
Weil sich so viele Menschen nicht richtig trauen, trauen sie auch ihren Kindern immer weniger zu - und verbergen ihre Zweifel hinter einem übersteigerten Sicherheitsbedürfnis. Eine traurige Folge davon: Der Radius, in dem Kinder sich von ihrem Elternhaus zum Spielen entfernen dürfen, hat sich in den letzten Jahrzehnten um fast 50 Prozent verringert. Dabei entsteht kindliches Selbstvertrauen auch dadurch, dass ihnen von ihren Eltern etwas zugetraut wird. Doch sobald die Kinder dann in ihrer zunehmend eingeengten und durchgeplanten Welt aufbegehren, unruhig oder anderweitig auffällig werden, vertrauen die Eltern nicht darauf, dass sie ihr Kind schon schaukeln werden. Sie gehen dann vielmehr zu dem Kinderarzt mit Schwerpunkt Schlafstörungen, in die Schreiambulanz der Klinik oder suchen gleich den ADHS-Experten auf. Wenn einem das Gefühl für sich selbst weitgehend abhandengekommen ist, wie soll man es dann für seine Kinder haben?
Überraschenderweise kommt die Diagnose ADHS bei Kindern türkischer Migranten viel seltener vor als bei den Kindern deutscher Eltern, was sicher nicht daran liegt, dass sie mit Mehmet und Ayse Atemseminare besucht haben. Die Toleranz für wildes Toben, für Unruhe und das alltägliche Kinder-Chaos scheint in diesen Familien größer zu sein, wie auch das Gefühl dafür, was alles in den weit gespannten Rahmen einer kindlichen Entwicklung fällt und schon in Ordnung ist, so wie es ist.
Dieses Mit-sich-im-Reinen-Sein scheint eine der schwersten Übungen für den modernen Menschen darzustellen. Und so wird es so bald wohl auch kein Ende nehmen mit der Burn-out-Welle, mit Chronic-Fatigue-Syndromen und Unverträglichkeiten aller Art. Der häufigste Satz, der zu Beginn all dieser Entspannungskurse und Achtsamkeitsübungen zu hören ist, lautet schließlich: Ich habe mich schon so lange nicht mehr gespürt.
Theoretisch ist es ganz einfach. Praktisch auch. Babys bekommen es bereits hin, Jugendliche, Erwachsene und Greise haben sogar eine gewisse Routine darin entwickelt. Hier eine kurze Gebrauchsanweisung: Man hält Mund oder Nase oder beides offen, hebt den Brustkorb ein wenig, das Zwerchfell senkt sich - Luft strömt in die Lungen und weitet sie. Nach ein paar Augenblicken strömt die Luft auch schon wieder raus, das Zwerchfell hebt und der Brustkorb senkt sich. Dieses feine Zusammenspiel funktioniert ganz automatisch, meistens unbewusst. Und sogar im Schlaf klappt das, auch wenn manche Leute dabei schreckliche Laute von sich geben. Es nennt sich: Atmen.
Obwohl wir es täglich, stündlich, ja sogar in jeder Minute etliche Male tun und gar nicht anders können, gibt es Atemseminare, Atemkurse, Atemschulen und diverse selbst ernannte Meister, die verschiedene Atemtechniken anbieten. Im Haus Werdenfels bei Regensburg finden Kurse statt, in denen unter Anleitung einer Diplom-Atempädagogin der 'Atem als Partner erfahren' wird, 'denn bewusster atmen, heißt bewusster leben'. Man kann sich 'frei atmen', beim Atmen zu sich selbst finden - und wenn das nicht gelingt, wenigstens ein paar Verspannungen wegatmen, allerdings nur, wenn man gezielt auf die schmerzenden Regionen hin atmet. Dabei gibt es im Hirnstamm ein Atemzentrum, das die Chose eigentlich von der Zentrale aus im Griff haben sollte und dafür sorgt, dass man sich neben dem ganzen Alltagsunsinn nicht auch noch um den Gasaustausch in seinen Luftwegen kümmern muss.

Oder doch? Wie sonst ist es zu erklären, dass Kurse und Seminarangebote boomen, in denen lauter Selbstverständlichkeiten angeboten werden? Entspannungskurse, Rückenschule und eben Atemübungen sind die Klassiker, aber auch Stille finden, konzentriertes Schauen und kontemplatives In-sich-Lauschen sind ausgebucht, als ob niemand für sich allein mal die Klappe halten und einen Moment bei sich sein könnte. Manche selbst ernannten Lebensberater bieten sogar den Wochenendkurs 'Bewusst sein' an - mit den Modulen Selbstwahrnehmung und 'Reinigung des eigenen Systems'. Bei dieser Putzaktion für das eigene Ego ist man mit 266 Euro von Freitagnachmittag bis Sonntag dabei.
Für außergewöhnliche Lebensphasen gibt es natürlich auch spezielle Angebote: Nach der Geburtsvorbereitung (Schwerpunkt: Atemübungen), folgt die Rückbildungsgymnastik und schließlich der Stillkurs. Fehlt nur noch, dass demnächst der Volkshochschulkurs 'Verdauen lernen' angeboten wird oder das Blockseminar: 'Stoffwechseln für Fortgeschrittene'. So ein rechtschaffener Körper muss sich doch auf den Arm genommen vorkommen, wenn ihm beigebracht werden soll, was er eigentlich von alleine kann.
Aber das ist es ja gerade. Die Menschen trauen ihrem Körper nicht mehr über den Weg und ihm deshalb erst recht nichts mehr zu. Während jeder Einzeller sein inneres Gleichgewicht halten kann, drohen die Menschen ständig die Balance zu verlieren. Hilflos leben sie vor sich hin, immer auf der Suche nach Anleitung für die richtige Haltung und die rechte Belastung all
ihrer Problemzonen. Viele Menschen können ja nicht mal nur so viel essen, wie sie brauchen. Erst wenn sie dann irgendwann völlig aus dem Leim gegangen sind, übertreiben sie es wieder in die andere Richtung und essen eine Weile gar nichts mehr. Unter Anleitung wird gefastet, wobei den Anbietern von Fastenkuren natürlich auch der spirituelle Aspekt und die Körperwahrnehmung (Atemübungen!) wichtig sind.
Weil so viele Menschen das Gefühl für sich verloren haben und kaum noch auf sich und ihren Körper achten, gibt es - genau: Achtsamkeitsübungen. Man muss eine dieser andächtigen Exerzitien erlebt haben, beispielsweise wenn die Teilnehmer aufgefordert werden, ihre eigenen Atemzüge zu zählen. Einen Moment lang herrscht innige Ruhe und nach einer halben Minute stellen alle erstaunt fest, dass sie plötzlich viel langsamer und viel tiefer geatmet haben und sich viel besser dabei gefühlt haben. Allein wäre offenbar niemand darauf gekommen, ein paar Mal ruhig durchzuatmen.
Oder wie unachtsam sie dasitzen! Die meisten Menschen hocken - egal ob im Büro, zu Hause oder eben als Teilnehmer einschlägiger Kurse - total verkrampft da, auch wenn sie von nichts und niemandem unter Druck gesetzt werden und auch kein Stresstest droht. Erst wenn sie aufgefordert werden, einmal auf die Anspannung ihrer Muskeln in Armen und Beinen zu achten, spüren sie, dass deren Tonus viel zu hoch ist. Sie merken dann, dass der Kopf zwischen den Schultern eingezogen ist, die Atmung flach und der Bauch eingeklemmt. Bei ängstlichen Menschen haben sich mit der Zeit sogar die Halsmuskeln verkürzt, weil sie ständig den Kopf einziehen. Kein Wunder, dass auch das Herz in diesen verstockten Körpern schneller schlägt, als es eigentlich müsste. Erst wenn sie sich ihrer verspannten Lage bewusst werden, lockert und entkrampft sich der Körper endlich und der Puls beruhigt sich wieder.
Die meisten Menschen haben verlernt - oder vielleicht nie gelernt - was ihr Körper braucht, fühlen sich aber unendlich bedürftig. Sie verhalten sich wie ein kleines Kind, das schreit und heult, aber partout nicht sagen kann, ob es weint, weil es hungrig ist, übermüdet, gereizt oder einfach nur bockig. Ungeschickte Eltern fragen dann ständig: 'Was hast du denn nur, was ist denn los?' Weise Eltern nehmen ihr Kind einfach in den Arm, trösten es und meistens ist es dann gut. Aber Erwachsene? Wer nimmt die schon in den Arm?
Und so entwickeln sie bei Belastungen schnell psychosomatische Beschwerden, sei es nun Hautausschlag oder vegetative Dystonie. 40 bis 50 Prozent der Patienten, die einen niedergelassenen Arzt aufsuchen, klagen über derartige Beschwerden ohne Befund. Nicht nur beim Hausarzt, auch beim Neurologen, Gastroenterologen und Kardiologen sammeln sich solche Patienten. Ihr Herz rast und stolpert, ihnen ist schwindelig, der Kopf schmerzt, die Verdauung spielt verrückt, sie sind vollkommen erschöpft und überall tut es weh.
Natürlich gibt es in manchen Jobs ekelhafte Chefs, Mobbing und Arbeitsrhythmen, die krank machen können. Auch ist manche Beziehung so kaputt, dass sie schnurstracks in den körperlichen wie psychischen Ruin führt. Kann man sich in derartigen Stress-Situationen nichts Gutes tun, beginnt der Teufelskreis: Man somatisiert vor sich hin, lässt sich krankschreiben, rennt von Arzt zu Arzt, doch keiner der Doctores weiß so recht etwas mit dem Leidenden anzufangen, weswegen Diagnosen wie Reizdarm, funktionelle Herzrhythmusstörung, labile Hypotonie, Fibromyalgie und andere obskure Schmerzsyndrome Karriere machen. Wie kürzlich erst wieder ist dann zuverlässig der rituelle Aufschrei zu hören und zu lesen: Die stressbedingten Krankheiten nehmen zu! Unmenschliche Arbeitsbedingungen machen uns krank.
Aber das stimmt eben nur zum Teil. Es gibt ja auch die Anderen, die Erfolgreichen und Entspannten, die im Beruf stark gefordert sind, einen Haufen Kinder haben und nebenbei noch isländische Liebeslyrik übersetzen. Sie stehen genauso unter Druck, werden genauso wenig geschont, aber sie haben das Gefühl, den Stress unter Kontrolle zu haben - und außerdem zu wissen, was ihnen guttut und was sie in Zeiten starker Belastung brauchen, um sich behaglich zu fühlen.
Wer an Stresssymptomen leidet, ist übrigens beileibe kein Simulant. Beschwerden haben diese Menschen ja durchaus, es lässt sich eben nur keine körperliche Ursache dafür finden. Wenn die Ärzte dann die Verlegenheitsdiagnose einer essenziellen, idiopathischen, funktionellen oder somatoformen Störung stellen, klingt das zwar beeindruckend - heißt aber auch nur, dass die Mediziner nicht wissen, woher das Leiden kommt. Im Mittel dauert es in Deutschland fast sechs Jahre, bis ein verständnisvoller Arzt entdeckt, dass hier nicht der Darm defekt ist, die Knochen brüchig werden oder das Herz kränkelt, sondern die Seele knirscht.
Dabei wäre es so leicht, vielen dieser Leiden vorzubeugen, die aus dem chronischen Gefühl der Überforderung und Überlastung entstehen. Aber da der Mensch das einzige Lebewesen ist, das sich freiwillig den Schlaf entzieht, den Tag-Nacht-Rhythmus missachtet und das nicht erkennt, wann es Ruhe oder Bewegung, Gesellschaft oder eine Auszeit braucht, ist Abhilfe oft schwierig. Die Fähigkeit zur Selbstregulation haben die meisten Menschen ja verloren. Und wenn sie verschreckt, verängstigt, verkrampft und unverstanden in Beruf oder Beziehung vor sich hin leben, scheint Erste Hilfe auch sehr fern zu sein.
Wie sollen sie denn erkennen, was ihnen fehlt und was sie brauchen? Ein Beispiel ist der typische Bildschirmsklave, der spätabends noch immer im Büro sitzt, weil doch in einer Woche das Projekt präsentiert werden muss. Mit seinen Kräften ist er am Ende, aber mit der Arbeit noch längst nicht fertig. Die Turmuhr schlägt halb elf. Er ist bedürftig - und bestellt sich eine Pizza. Nichts gegen Pizza, aber hier hat nur der erste Teil der Selbstwahrnehmung funktioniert, nämlich das Signal 'Ich brauche'. Teil zwei aber hat nicht geklappt. Was braucht ein Mensch in diesem Moment, zu dieser Stunde? Der eine tatsächlich eine Pizza, der nächste vielleicht einen Gesprächspartner, der dritte einen Spaziergang um den Block und der vierte schlicht eine Mütze Schlaf. Herausfinden, was man braucht und nicht nur, dass man etwas braucht: Das würde schon viel Not lindern.
Aber weil so viele Menschen sich nicht gut genug kennen und ihren Körper erst recht nicht, vertrauen sie nicht sich, sondern stattdessen medizinischen und paramedizinischen Heilern, bei denen sie dann atmen lernen, entspannen lernen, verzichten lernen. Und sie müssen sich dann tatsächlich in obskuren Kursen sagen lassen, dass der 'Atem Lebenskraft ist', weil er 'ganzheitlich wirkt', was sie spätestens dann spüren sollten, wenn sie sich 'zum Geheimnis ihrer persönlichen Atemqualität durchatmen'. Geht"s noch?
Weil sich so viele Menschen nicht richtig trauen, trauen sie auch ihren Kindern immer weniger zu - und verbergen ihre Zweifel hinter einem übersteigerten Sicherheitsbedürfnis. Eine traurige Folge davon: Der Radius, in dem Kinder sich von ihrem Elternhaus zum Spielen entfernen dürfen, hat sich in den letzten Jahrzehnten um fast 50 Prozent verringert. Dabei entsteht kindliches Selbstvertrauen auch dadurch, dass ihnen von ihren Eltern etwas zugetraut wird. Doch sobald die Kinder dann in ihrer zunehmend eingeengten und durchgeplanten Welt aufbegehren, unruhig oder anderweitig auffällig werden, vertrauen die Eltern nicht darauf, dass sie ihr Kind schon schaukeln werden. Sie gehen dann vielmehr zu dem Kinderarzt mit Schwerpunkt Schlafstörungen, in die Schreiambulanz der Klinik oder suchen gleich den ADHS-Experten auf. Wenn einem das Gefühl für sich selbst weitgehend abhandengekommen ist, wie soll man es dann für seine Kinder haben?
Überraschenderweise kommt die Diagnose ADHS bei Kindern türkischer Migranten viel seltener vor als bei den Kindern deutscher Eltern, was sicher nicht daran liegt, dass sie mit Mehmet und Ayse Atemseminare besucht haben. Die Toleranz für wildes Toben, für Unruhe und das alltägliche Kinder-Chaos scheint in diesen Familien größer zu sein, wie auch das Gefühl dafür, was alles in den weit gespannten Rahmen einer kindlichen Entwicklung fällt und schon in Ordnung ist, so wie es ist.
Dieses Mit-sich-im-Reinen-Sein scheint eine der schwersten Übungen für den modernen Menschen darzustellen. Und so wird es so bald wohl auch kein Ende nehmen mit der Burn-out-Welle, mit Chronic-Fatigue-Syndromen und Unverträglichkeiten aller Art. Der häufigste Satz, der zu Beginn all dieser Entspannungskurse und Achtsamkeitsübungen zu hören ist, lautet schließlich: Ich habe mich schon so lange nicht mehr gespürt.