Die Regierung in Ankara sorgt sich um das Schicksal türkischer Pflegekinder im Ausland. Sie lebten in christlichen Familien und würden ihrer Kultur entfremdet. Deutsche Behörden sehen das anders.
Istanbul/München - Das Foto auf der Titelseite der türkischen Zeitung Hürriyet zeigt ein fröhliches Kind, es zeigt den kleinen Yunus. Die Augenpartie des Jungen aber ist unkenntlich gemacht, wie bei einem Entführungsopfer. Die Schlagzeile ist dramatisch: 'Holt Yunus zurück'. Die Leser erfahren, dass Yunus seinen türkischen Eltern bereits im Babyalter weggenommen worden sei. Nun lebe der Achtjährige in einer Pflegefamilie, bei einem lesbischen Paar in den Niederlanden. Das empört die Regierung in Ankara. Vizepremierminister Bekir Bozdag wies die türkische Botschaft in Den Haag umgehend an, alle rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, um Yunus zurückzuholen.
Die türlische Regierung sorgt sich darum, dass türkische Pfelgekinder ihrer Kultur emtfremdet werden - bei christlichen oder gar homosexuellen Pflegeeltern.
Türkische Kinder in der Obhut homosexueller Paare - in der traditionell homophoben Türkei ist dies Grund genug zur Empörung. Regierung und Parlament in Ankara aber wollen das Schicksal türkischer Pflegekinder in EU-Staaten nun generell untersuchen. Der Menschenrechtsausschuss des Parlaments möchte dazu demnächst eine Delegation auch nach Deutschland schicken. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Thema auch Kanzlerin Angela Merkel bei ihrem Besuch am Montag in Ankara präsentiert wird.
In der türkischen Öffentlichkeit wird schon länger der Vorwurf erhoben, türkische Kinder würden von den Behörden ihren Eltern zu schnell und zu häufig entzogen. In Pflegefamilien würden sie dann von ihrer Kultur und ihren Werten entfremdet. 'Muslimische Kinder werden christlich erzogen', sagt Bozdag. Von 4000 solchen Fällen in Europa spricht der Politiker. Die Zeitung Zaman, die auch in Deutschland in islamisch-religiösen Familien viel gelesen wird, druckte zur Untermalung der Vorwürfe eine ganzseitige Reportage.
Darin wird auch das Schicksal der Familie Ö. aus dem nordrheinwestfälischen Minden geschildert. Tochter Rukiye habe sich mit 16 Jahren selbst an das Jugendamt gewandt, weil ihre Familie sie zwingen wollte, ein Kopftuch zu tragen. Der Vater beklagt sich nun in Zaman, dass er seine Tochter in den vier Jahren unter der Obhut des Jugendamtes nur ein einziges Mal gesehen habe. Das Blatt wirft Jugendämtern vor, 'Familien zu zerstören'.
Bodo Weirauch, Abteilungsleiter für er-zieherische Hilfen im Jugendamt Dortmund, kennt diese Geschichten. Türkische Mitarbeiter im Amt haben sie ihm übersetzt und als Kampagne von interessierten Verbänden eingeordnet. Er kontert mit konkreten Zahlen: 480 Kinder leben momentan im Bereich seines Jugendamtes in Pflegefamilien. 25 davon sind muslimische Kinder. 15 von ihnen sind in muslimischen Pflegefamilien untergebracht. Bei zehn Kindern ist dies dem Jugendamt nicht gelungen. 'Zum Zeitpunkt ihrer Unterbringung kannten wir ihren religiösen Hintergrund nicht. Wir holen ja oft verlassene Kinder aus Wohnungen, können die Eltern nicht erreichen', sagt Weirauch.
In einem einzigen Fall habe es in Dortmund bisher Probleme gegeben: Eine streng religiöse Familie beschwerte sich über die lockere Einstellung der muslimischen Pflegefamilie, in der ihr Kind lebte. 'Wir haben deutlich gemacht, dass der kleine Junge jede Gelegenheit bekommen müsse, seinen Glauben zu leben', sagt Weirauch. Der Pflegevater versprach daraufhin, das Kind zu einer Moschee zu begleiten, aber nur, wenn es dies ausdrücklich wünsche, Druck wolle er keinen ausüben. Übrigens, so Weirauch, gebe es auch einige christliche Kinder, die in Dortmund in muslimischen Pflegefamilien lebten, bislang reibungslos.
In Hannover sorgte vor gut zwei Jahren der Fall der fünffachen Mutter Bahar G. für Schlagzeilen: Ihr sechstes Baby wurde gleich nach der Geburt von Beamten des Jugendamtes aus der Klinik geholt. Zuvor hatte die Frau wegen eines Streits mit ihrem Ehemann zwei ihrer Kinder freiwillig in die Obhut des Jugendamtes gegeben. Türkische Internetforen überschlugen sich damals nach dem Entzug des Sorgerechts für das Baby wegen des großen Leids, das der Frau angetan worden sei. Michael Kunze, der Leiter des kommunalen Sozialdienstes im Hannoveraner Jugendamt, will diesen Fall aus Datenschutzgründen nicht kommentieren. Er sagt nur: 'Wir nehmen Kinder nicht einfach weg. Das erfolgt immer erst nach einem sorgfältigen Verfahren beim Vormundschaftsgericht.'
270 Kinder sind derzeit vom Jugendamt Hannover in Pflegefamilien untergebracht. Türkischen Migrationshintergrund, wie es Amtsdeutsch heißt, haben davon lediglich 17 Kinder, mindestens ein Elternteil von ihnen ist also türkischer Herkunft. Vier dieser 17 Minderjährigen leben in Pflegefamilien mit türkischen Wurzeln. Vier weitere Kinder in sogenannten Netzwerkfamilien mit Migrationshintergrund. Das sind Großeltern, Onkel oder Tanten. 'Wenn Eltern Wert darauf legen, dass weltanschauliche Grundlagen bei der Auswahl der Pflegefamilien berücksichtigt werden, geben wir dem natürlich nach', versichert Kunze. Ein ihnen anvertrauter 13-jähriger Junge sei vor einiger Zeit in ein Heim in Schleswig-Holstein eingewiesen worden. 'Die türkische Mutter bestand darauf, dass ihn ein Imam in seinem Glauben unterweisen solle', erzählt Kunze. Dieser kam dann zweimal pro Monat aus Kiel angereist, das Jugendamt übernahm die Kosten. Kunze betont: 'Wir sind gesetzlich verpflichtet, das Elternrecht zu respektieren und das Kindeswohl zu schützen. Wenn jemand einen religiösen Wunsch formuliert, ist das etwas ganz Wesentliches.'
In einem der größten Jugendämter Berlins, zuständig für Marzahn-Hellersdorf, blieb die Recherche nach den in der Türkei so umstrittenen Pflegschaftsfällen komplett ergebnislos: 'Durch unser Jugendamt wurde kein türkischstämmiges Kind in einer deutschen Pflegefamilie untergebracht', beschied Bezirksstadträtin Juliane Witt lapidar.
Der türkische Sozialarbeiter Ercan Yasaroglu aus Berlin-Kreuzberg kennt das soziale Elend auch in türkischen Familien aus eigener Anschauung. Die Zaman-Reportage präsentierte Yasaroglu als eine Art Kronzeugen für die Fehler der deutschen Jugendämter. Der Mann aber wehrt sich gegen alle Pauschalisierungen. 'Manchmal passieren Fehler', sagt Yasaroglu im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung. 'Aber viele Eltern brauchen einfach Hilfe', meint er. Deshalb sei es gut, wenn über die 'vernachlässigten Kinder' endlich gesprochen werde.
Yasaroglu ist aufgefallen, dass vor allem jene Eltern Probleme hätten, die selbst einst als 'Kofferkinder' immer wieder zwischen Deutschland und der Türkei hin- und hergeschickt wurden. Das galt besonders für die zweite Generation der Zuwanderer. Sie hätten nicht selten Schwierigkeiten, den eigenen Kindern genug Aufmerksamkeit und Zuwendung zukommen zu lassen. Aber Yasaroglu sagt: 'Ich mag keine Schubladen. Wir haben hier in Kreuzberg 130 Sprachen. Es geht nicht nur um Türken oder um Muslime.'
Istanbul/München - Das Foto auf der Titelseite der türkischen Zeitung Hürriyet zeigt ein fröhliches Kind, es zeigt den kleinen Yunus. Die Augenpartie des Jungen aber ist unkenntlich gemacht, wie bei einem Entführungsopfer. Die Schlagzeile ist dramatisch: 'Holt Yunus zurück'. Die Leser erfahren, dass Yunus seinen türkischen Eltern bereits im Babyalter weggenommen worden sei. Nun lebe der Achtjährige in einer Pflegefamilie, bei einem lesbischen Paar in den Niederlanden. Das empört die Regierung in Ankara. Vizepremierminister Bekir Bozdag wies die türkische Botschaft in Den Haag umgehend an, alle rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, um Yunus zurückzuholen.
Die türlische Regierung sorgt sich darum, dass türkische Pfelgekinder ihrer Kultur emtfremdet werden - bei christlichen oder gar homosexuellen Pflegeeltern.
Türkische Kinder in der Obhut homosexueller Paare - in der traditionell homophoben Türkei ist dies Grund genug zur Empörung. Regierung und Parlament in Ankara aber wollen das Schicksal türkischer Pflegekinder in EU-Staaten nun generell untersuchen. Der Menschenrechtsausschuss des Parlaments möchte dazu demnächst eine Delegation auch nach Deutschland schicken. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Thema auch Kanzlerin Angela Merkel bei ihrem Besuch am Montag in Ankara präsentiert wird.
In der türkischen Öffentlichkeit wird schon länger der Vorwurf erhoben, türkische Kinder würden von den Behörden ihren Eltern zu schnell und zu häufig entzogen. In Pflegefamilien würden sie dann von ihrer Kultur und ihren Werten entfremdet. 'Muslimische Kinder werden christlich erzogen', sagt Bozdag. Von 4000 solchen Fällen in Europa spricht der Politiker. Die Zeitung Zaman, die auch in Deutschland in islamisch-religiösen Familien viel gelesen wird, druckte zur Untermalung der Vorwürfe eine ganzseitige Reportage.
Darin wird auch das Schicksal der Familie Ö. aus dem nordrheinwestfälischen Minden geschildert. Tochter Rukiye habe sich mit 16 Jahren selbst an das Jugendamt gewandt, weil ihre Familie sie zwingen wollte, ein Kopftuch zu tragen. Der Vater beklagt sich nun in Zaman, dass er seine Tochter in den vier Jahren unter der Obhut des Jugendamtes nur ein einziges Mal gesehen habe. Das Blatt wirft Jugendämtern vor, 'Familien zu zerstören'.
Bodo Weirauch, Abteilungsleiter für er-zieherische Hilfen im Jugendamt Dortmund, kennt diese Geschichten. Türkische Mitarbeiter im Amt haben sie ihm übersetzt und als Kampagne von interessierten Verbänden eingeordnet. Er kontert mit konkreten Zahlen: 480 Kinder leben momentan im Bereich seines Jugendamtes in Pflegefamilien. 25 davon sind muslimische Kinder. 15 von ihnen sind in muslimischen Pflegefamilien untergebracht. Bei zehn Kindern ist dies dem Jugendamt nicht gelungen. 'Zum Zeitpunkt ihrer Unterbringung kannten wir ihren religiösen Hintergrund nicht. Wir holen ja oft verlassene Kinder aus Wohnungen, können die Eltern nicht erreichen', sagt Weirauch.
In einem einzigen Fall habe es in Dortmund bisher Probleme gegeben: Eine streng religiöse Familie beschwerte sich über die lockere Einstellung der muslimischen Pflegefamilie, in der ihr Kind lebte. 'Wir haben deutlich gemacht, dass der kleine Junge jede Gelegenheit bekommen müsse, seinen Glauben zu leben', sagt Weirauch. Der Pflegevater versprach daraufhin, das Kind zu einer Moschee zu begleiten, aber nur, wenn es dies ausdrücklich wünsche, Druck wolle er keinen ausüben. Übrigens, so Weirauch, gebe es auch einige christliche Kinder, die in Dortmund in muslimischen Pflegefamilien lebten, bislang reibungslos.
In Hannover sorgte vor gut zwei Jahren der Fall der fünffachen Mutter Bahar G. für Schlagzeilen: Ihr sechstes Baby wurde gleich nach der Geburt von Beamten des Jugendamtes aus der Klinik geholt. Zuvor hatte die Frau wegen eines Streits mit ihrem Ehemann zwei ihrer Kinder freiwillig in die Obhut des Jugendamtes gegeben. Türkische Internetforen überschlugen sich damals nach dem Entzug des Sorgerechts für das Baby wegen des großen Leids, das der Frau angetan worden sei. Michael Kunze, der Leiter des kommunalen Sozialdienstes im Hannoveraner Jugendamt, will diesen Fall aus Datenschutzgründen nicht kommentieren. Er sagt nur: 'Wir nehmen Kinder nicht einfach weg. Das erfolgt immer erst nach einem sorgfältigen Verfahren beim Vormundschaftsgericht.'
270 Kinder sind derzeit vom Jugendamt Hannover in Pflegefamilien untergebracht. Türkischen Migrationshintergrund, wie es Amtsdeutsch heißt, haben davon lediglich 17 Kinder, mindestens ein Elternteil von ihnen ist also türkischer Herkunft. Vier dieser 17 Minderjährigen leben in Pflegefamilien mit türkischen Wurzeln. Vier weitere Kinder in sogenannten Netzwerkfamilien mit Migrationshintergrund. Das sind Großeltern, Onkel oder Tanten. 'Wenn Eltern Wert darauf legen, dass weltanschauliche Grundlagen bei der Auswahl der Pflegefamilien berücksichtigt werden, geben wir dem natürlich nach', versichert Kunze. Ein ihnen anvertrauter 13-jähriger Junge sei vor einiger Zeit in ein Heim in Schleswig-Holstein eingewiesen worden. 'Die türkische Mutter bestand darauf, dass ihn ein Imam in seinem Glauben unterweisen solle', erzählt Kunze. Dieser kam dann zweimal pro Monat aus Kiel angereist, das Jugendamt übernahm die Kosten. Kunze betont: 'Wir sind gesetzlich verpflichtet, das Elternrecht zu respektieren und das Kindeswohl zu schützen. Wenn jemand einen religiösen Wunsch formuliert, ist das etwas ganz Wesentliches.'
In einem der größten Jugendämter Berlins, zuständig für Marzahn-Hellersdorf, blieb die Recherche nach den in der Türkei so umstrittenen Pflegschaftsfällen komplett ergebnislos: 'Durch unser Jugendamt wurde kein türkischstämmiges Kind in einer deutschen Pflegefamilie untergebracht', beschied Bezirksstadträtin Juliane Witt lapidar.
Der türkische Sozialarbeiter Ercan Yasaroglu aus Berlin-Kreuzberg kennt das soziale Elend auch in türkischen Familien aus eigener Anschauung. Die Zaman-Reportage präsentierte Yasaroglu als eine Art Kronzeugen für die Fehler der deutschen Jugendämter. Der Mann aber wehrt sich gegen alle Pauschalisierungen. 'Manchmal passieren Fehler', sagt Yasaroglu im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung. 'Aber viele Eltern brauchen einfach Hilfe', meint er. Deshalb sei es gut, wenn über die 'vernachlässigten Kinder' endlich gesprochen werde.
Yasaroglu ist aufgefallen, dass vor allem jene Eltern Probleme hätten, die selbst einst als 'Kofferkinder' immer wieder zwischen Deutschland und der Türkei hin- und hergeschickt wurden. Das galt besonders für die zweite Generation der Zuwanderer. Sie hätten nicht selten Schwierigkeiten, den eigenen Kindern genug Aufmerksamkeit und Zuwendung zukommen zu lassen. Aber Yasaroglu sagt: 'Ich mag keine Schubladen. Wir haben hier in Kreuzberg 130 Sprachen. Es geht nicht nur um Türken oder um Muslime.'