Quantcast
Channel: jetzt.de - SZ
Viewing all articles
Browse latest Browse all 3345

Augenmerk auf Ankara

$
0
0
Deutschland entdeckt das Wissenschaftsland Türkei


Ein paar bunte Gebäude sind bereits zu sehen, und die türkische Fahne flattert im Wind. In Beykoz am Bosporus, einem Istanbuler Vorort fast schon am Schwarzen Meer, soll die deutsch-türkische Universität entstehen. Sie ist das ehrgeizigste gemeinsame Bildungsprojekt, das in Ankara und Berlin je ersonnen wurde. Aber auch fünf Jahre nach der Vertragsunterzeichnung gibt es keine Studenten in Beykoz. Mit Vorwürfen sind beide Seiten vorsichtig. Man will die Hoffnung nicht zerstören, dass der Semesterbetrieb im Herbst 2013 tatsächlich beginnen kann. Regierungschef Tayyip Erdogan hat Kanzlerin Angela Merkel bei ihrem Besuch in der Türkei nun versprochen, bald werde zumindest ein neuer Rektor ernannt. Der Gründungsrektor hatte 2012 das Handtuch geworfen. Und aktuell ist man uneins über den Fächer-Zuschnitt des 'Leuchtturmprojekts'.



Bundeskanzlerin Angela Merkel und der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan bei einer Pressekonferenz in Ankara.

Der Zeitplan für den Start ist wohl unsicher; doch auf niedrigschwelliger Ebene ist bereits vieles in Bewegung. Deutschland entdeckt das Wissenschaftsland Türkei. Mehr als zwei Millionen Menschen in Deutschland sind türkischer Herkunft, sie schaffen eine enge Verbindung zwischen den Staaten, auch die Wirtschaftskontakte sind intensiv - das akademische Interesse an der Türkei ist aber bislang eher gering.

In etwa so alt wie die Uni-Pläne ist auch das 'Netzwerk Türkei', eine Privatinitiative junger europäischer Akademiker. Die Gründer der Initiative hatten sich darüber geärgert, dass sie an ihren Universitäten kaum Professoren fanden, die sich für die moderne Türkei interessierten. Sie veranstalten daher eigene Kongresse und tauschen auf einer Internetplattform mit digitaler Bibliothek ihr Wissen aus. Ein Netzwerker der ersten Stunde, der Politikwissenschaftler Daniel Grütjen, hat seinen Lebensmittelpunkt inzwischen von Berlin nach Istanbul verlegt. Grütjen ist Koordinator eines neuen Fellowship-Programms, das von der deutschen Mercator-Stiftung und dem 'Istanbul Policy Center' (IPC) an der privaten Sabanci-Universität getragen wird. Das Projekt ist auf fünf Jahre angelegt, erste Stipendiaten sind bereits am Bosporus. Private Unis in der Türkei sind flexibler als der Staat - und deutsche Stiftungen offenbar auch.

'Uns geht es um Lösungsansätze für das 21.Jahrhundert', sagt Grütjen. 'Gemischte Gruppen sind kreativer als homogene', sagt Dominik Hartmann, einer der Stipendiaten. Hartmann, 32, Wirtschaftswissenschaftler aus dem baden-württembergischen Hohenheim, interessiert sich für die mobilen Deutsch-Türken mit Unternehmerbegabung. Die Forscher haben zwar schon einen Begriff für diese agilen Wanderer zwischen den Welten: 'Commuting Entrepreneurs'. Doch sonst wissen sie nicht viel. Wie lassen sich die Kreativen vernetzen? Was können solche Migranten, was andere nicht können? 'An der Stanford University wird die Rolle der Inder für Startups im Silicon Valley erforscht', sagt Hartmann. 'Daran können wir uns ein Beispiel nehmen.' Er kam über eine Forschergruppe in Hohenheim 2011 erstmals mit Wissenschaftlern der Dokuz Eylül Universität in Izmir in Berührung. Bis 2014 wollen die Experten aus Hohenheim und Izmir nun gemeinsam die 'Wissensmigration' untersuchen. Gefördert wird das Projekt vom Bundesbildungsministerium sowie von Tübitak, dem Wissenschaftsrat der Türkei.

Die neuen Migranten wandern nicht mehr aus der Türkei aus, sondern in das Land ihrer Väter und Großväter ein. Ihr Wissen könnte am Bosporus von großem Nutzen sein. Etwa 2,5 Millionen Patente seien in Deutschland in den vergangenen

30 Jahren angemeldet worden, sagt Grütjen. 'In der Türkei waren es nur 2500.' Die türkische Wirtschaft boomt - gut 50 Jahre nachdem die ersten Türken als Gastarbeiter in die Fremde gingen. Heute braucht die Türkei jedoch für ihre Industrie mehr qualifizierte Arbeitskräfte, als sie findet. Wie sehr sich die Verhältnisse verändern, erlebt eine Deutschlehrerin in Istanbul. 'Meine Schüler wissen oft gar nicht, warum so viele Türken nach Deutschland gegangen sind', sagt die Türkin, deren Eltern einst auch ausgewandert sind.

Die Wirtschaftswissenschaftlerin Secil Pacaci Elitok, 33, wurde im türkischen Sivas geboren. Der Vater war Beamter, die Familie zog immer wieder um in der Türkei. Sie studierte in den USA. Ans Hamburger Weltwirtschaftsinstitut kam Elitok 2009 als Fellow im Marie-Curie-Programm der EU. Erst dort begriff sie, 'dass sich die Türkei viel zu lange nicht um ihre Migranten in Deutschland gekümmert hat'. Nun ist auch Elitok Mercator-Stipendiatin in Istanbul. Sie erforscht die Rolle der Zuwanderungspolitik in den EU-Türkei-Verhandlungen. Dabei interessieren sie nicht nur Dokumente und Verträge, sondern auch das, 'was hinter der offiziellen Geschichte steckt'. Religion, kulturelle Unterschiede, das Unausgesprochene.

Jüngst hat Elitok in Istanbul eine Konferenz zur Migrationspolitik der türkischen Regierung organisiert. Es ging darum, wie die Türkei mit Zuwanderern aus Ländern wie Iran oder dem Irak umgeht, wie offen ihre Grenzen sind. Das sind wichtige Fragen für die EU, die entscheiden soll, ob die Türkei die schon lange gewünschte Visa-Freiheit erhält. Für die innovativen Netzwerker wären Reiseerleichterungen ein Segen. Aber Elitok fürchtet, mit der neuen Freiheit werde es noch dauern. Der jüngste Türkei-Bericht der EU sehe zum Thema Migration in Ankara kaum Fortschritte, schrieb sie in ihre Konferenz-Einladung.

Bis 2016 will Mercator 5,5 Millionen Euro für die Stipendien ausgeben. Daneben will die Stiftung künftig auch in Deutschland 'Studien zur zeitgenössischen Türkei' fördern.

Viewing all articles
Browse latest Browse all 3345