Selbst wenn alle Deutschen Spenderausweise hätten, gäbe es nicht genug Organe, sagt die Gesundheitswissenschaftlerin Alexandra Manzei und plädiert für mehr Prävention
Unüberbrückbar erscheint die Kluft: Den 12000 Menschen, die in Deutschland auf ein Spenderorgan warten, stehen nur etwa 1200 Organspender pro Jahr gegenüber. Seit Langem mühen sich Politiker, Ärzte und Patientenvertreter vergeblich, die Spendenbereitschaft der Bevölkerung zu erhöhen. Es sei an der Zeit, einen ganz anderen Ansatz zu versuchen, meint dagegen die Gesundheitswissenschaftlerin Alexandra Manzei von der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar: Wenn sich das Angebot nicht steigern lasse, müsse man eben die Nachfrage drosseln.
SZ: Künftig werden alle Deutschen regelmäßig aufgefordert, sich für oder gegen die Spende ihrer Organe nach dem Tod zu entscheiden. Wird die Situation für die Patienten auf der Warteliste endlich besser?
Manzei: Ich glaube nicht, dass die Zahl der Organe auf diese Art deutlich höher wird. Nicht nur, weil das Vertrauen durch die Transplantationsskandale erschüttert ist: Die Lücke zwischen Angebot und Bedarf ist ganz grundsätzlich kaum zu schließen.
Zu viele Menschen müssen zu lange auf ein Spenderorgan warten
In Umfragen sagen die allermeisten Menschen, sie seien für Organspende. Warum sollte sich das nicht in den Spenderausweisen niederschlagen?
Viele Menschen sind für die Organspende; viele haben aber auch Bedenken. Diejenigen, die keine Bedenken haben, werden vielleicht einen Organspendeausweis ausfüllen und sich für die Spende entscheiden. Aber wer Bedenken hat, wird heute nicht besser informiert als früher. Das neue Gesetz bedrängt ja nur und klärt nicht auf. Ohnehin wird die Zahl der Spender nie den Anforderungen genügen.
Wie meinen Sie das? Sollten 12000 Organe nicht zu schaffen sein?
Die Zahl der Spender wird schon deshalb nicht reichen, weil nicht jeder Mensch nach seinem Tod Organe spenden kann, selbst wenn er will. Lebenswichtige Organe kann man nur von hirntoten Patienten entnehmen, nicht von normalen Leichen. Mit Leichen-Organen würde man den Empfänger vergiften. Hirntote sind jedoch keine Leichen in dem Sinne, wie wir Leichen kennen: kalt und steif. Es sind vielmehr Sterbende, deren Gehirnfunktionen bereits ausgefallen sind, während ihr Organismus intensivmedizinisch am Leben erhalten wird. Diese Patienten werden beatmet, sie haben einen warmen Körper. Insgesamt gibt es jedoch nur sehr wenige Menschen, die auf diese Weise sterben.
Wie viele Hirntote gibt es denn im Jahr?
Dazu gibt es keine genauen Zahlen. Im Jahr 2010 haben deutsche Kliniken offiziell 1876 Hirntote gemeldet. Allerdings geht man davon aus, dass es auch Hirntote gibt, die nicht gemeldet werden. Schätzungen gehen von 3000 bis 4000 Hirntoten pro Jahr aus. Selbst wenn alle 80 Millionen Deutschen einen Spenderausweis hätten, gäbe es also nicht genügend Organe.
Könnte es nicht doch reichen? Ein Hirntoter kann schließlich bis zu neun Organe spenden: Herz, Dünndarm, Bauchspeicheldrüse, zwei Nieren, zwei Lungenflügel und auch zwei Leberteile.
Theoretisch ja. Das Problem ist jedoch, dass nicht alle Organe verwendet werden können. Viele Spender sind zu alt oder krank, manche haben Krebs oder sind mit HIV oder Hepatitis-Viren infiziert. Gerade von älteren Spendern nehmen Ärzte oft nur einzelne Organe - am ehesten Leber und Nieren. Außerdem steigt der Organbedarf seit Jahren immer mehr an.
Weshalb? Ist die Transplantationsmedizin unersättlich?
Zumindest steigt der Organbedarf aus Gründen, die im System selber liegen. Bei immer mehr Krankheiten, bei denen früher nicht transplantiert wurde, gilt die Transplantation inzwischen als effektivste Therapie. Außerdem werden zunehmend mehrere Organe in einen Patienten verpflanzt. Menschen mit Typ-I-Diabetes erhalten zum Beispiel häufig Niere und Bauchspeicheldrüse gleichzeitig, weil die Heilungschancen dann größer sind. Nicht zuletzt steigt auch die Retransplantationsrate immer weiter an. Wenn ein transplantiertes Organ abgestoßen wird, kommen die Patienten erneut auf die Warteliste und erhalten ein neues Organ. So bekommen manche Patienten vier und mehr Nieren.
Im Ausland gibt es aber erheblich höhere Zahlen an Organspendern.
Viele Länder nutzen Lösungsmöglichkeiten, die für uns aufgrund unserer Geschichte und Moral keine sind. Dort wird quasi versucht, die Grenze zwischen Leben und Tod immer weiter zu verschieben, um an Organe zu gelangen. So werden in Großbritannien Organe schon entnommen, wenn nicht das gesamte Gehirn, sondern nur der Hirnstamm abgestorben ist. Und in den Niederlanden werden Menschen zu Organspendern, wenn ihr Herz stehen geblieben ist. Es gibt heftige Debatten darüber, wie lange Ärzte versuchen müssen, solche Patienten wiederzubeleben, bevor die Organe entnommen werden dürfen. Solche Dinge sind bei uns zu Recht verboten. Auch der gute Zweck heiligt nicht die Mittel.
Soll man die Menschen auf der Warteliste also einfach sterben lassen?
Nein, natürlich nicht! Grade weil es aus den genannten Gründen niemals ausreichend Organe geben wird, müssen wir uns bemühen, den Organbedarf zu senken. Alternativen zur Transplantation müssen in dem gleichen Maße gefördert werden, wie Geld in die Transplantationsmedizin gesteckt wird. Es sollte mehr Forschung geben. Zum Beispiel an Kunstherzen oder auch an biotechnischen Verfahren, die Ersatzgewebe aus Zellen züchten. Nicht zuletzt sollte auch an neuen Arzneimitteln geforscht werden, etwa gegen Hepatitis, und an besseren Suchttherapien, um Organschäden durch Medikamenten-, Drogen- und Alkoholmissbrauch zu mindern.
Sehen Sie auch Möglichkeiten für mehr Prävention als Kuration?
Auf jeden Fall sollten wir Krankheiten zu vermeiden suchen, die zu Organverlust führen. Zu häufig werden beispielsweise Medikamente verschrieben, etwa bei Rheuma oder gegen Schmerzen, die organschädigende Nebenwirkungen haben. Präventionsmaßnahmen müssten sowohl am Verhalten der Einzelnen ansetzen, denn häufig sind es Zivilisationserkrankungen, die zu Organschäden führen, als auch an den Lebens-, Arbeits- und Umweltbedingungen der Menschen. Langfristig ließe sich so der Bedarf an Organen senken, anstatt immer weiter eine Therapie zu fördern, die ihre Patienten aus strukturellen Gründen niemals angemessen versorgen wird.
Unüberbrückbar erscheint die Kluft: Den 12000 Menschen, die in Deutschland auf ein Spenderorgan warten, stehen nur etwa 1200 Organspender pro Jahr gegenüber. Seit Langem mühen sich Politiker, Ärzte und Patientenvertreter vergeblich, die Spendenbereitschaft der Bevölkerung zu erhöhen. Es sei an der Zeit, einen ganz anderen Ansatz zu versuchen, meint dagegen die Gesundheitswissenschaftlerin Alexandra Manzei von der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar: Wenn sich das Angebot nicht steigern lasse, müsse man eben die Nachfrage drosseln.
SZ: Künftig werden alle Deutschen regelmäßig aufgefordert, sich für oder gegen die Spende ihrer Organe nach dem Tod zu entscheiden. Wird die Situation für die Patienten auf der Warteliste endlich besser?
Manzei: Ich glaube nicht, dass die Zahl der Organe auf diese Art deutlich höher wird. Nicht nur, weil das Vertrauen durch die Transplantationsskandale erschüttert ist: Die Lücke zwischen Angebot und Bedarf ist ganz grundsätzlich kaum zu schließen.
Zu viele Menschen müssen zu lange auf ein Spenderorgan warten
In Umfragen sagen die allermeisten Menschen, sie seien für Organspende. Warum sollte sich das nicht in den Spenderausweisen niederschlagen?
Viele Menschen sind für die Organspende; viele haben aber auch Bedenken. Diejenigen, die keine Bedenken haben, werden vielleicht einen Organspendeausweis ausfüllen und sich für die Spende entscheiden. Aber wer Bedenken hat, wird heute nicht besser informiert als früher. Das neue Gesetz bedrängt ja nur und klärt nicht auf. Ohnehin wird die Zahl der Spender nie den Anforderungen genügen.
Wie meinen Sie das? Sollten 12000 Organe nicht zu schaffen sein?
Die Zahl der Spender wird schon deshalb nicht reichen, weil nicht jeder Mensch nach seinem Tod Organe spenden kann, selbst wenn er will. Lebenswichtige Organe kann man nur von hirntoten Patienten entnehmen, nicht von normalen Leichen. Mit Leichen-Organen würde man den Empfänger vergiften. Hirntote sind jedoch keine Leichen in dem Sinne, wie wir Leichen kennen: kalt und steif. Es sind vielmehr Sterbende, deren Gehirnfunktionen bereits ausgefallen sind, während ihr Organismus intensivmedizinisch am Leben erhalten wird. Diese Patienten werden beatmet, sie haben einen warmen Körper. Insgesamt gibt es jedoch nur sehr wenige Menschen, die auf diese Weise sterben.
Wie viele Hirntote gibt es denn im Jahr?
Dazu gibt es keine genauen Zahlen. Im Jahr 2010 haben deutsche Kliniken offiziell 1876 Hirntote gemeldet. Allerdings geht man davon aus, dass es auch Hirntote gibt, die nicht gemeldet werden. Schätzungen gehen von 3000 bis 4000 Hirntoten pro Jahr aus. Selbst wenn alle 80 Millionen Deutschen einen Spenderausweis hätten, gäbe es also nicht genügend Organe.
Könnte es nicht doch reichen? Ein Hirntoter kann schließlich bis zu neun Organe spenden: Herz, Dünndarm, Bauchspeicheldrüse, zwei Nieren, zwei Lungenflügel und auch zwei Leberteile.
Theoretisch ja. Das Problem ist jedoch, dass nicht alle Organe verwendet werden können. Viele Spender sind zu alt oder krank, manche haben Krebs oder sind mit HIV oder Hepatitis-Viren infiziert. Gerade von älteren Spendern nehmen Ärzte oft nur einzelne Organe - am ehesten Leber und Nieren. Außerdem steigt der Organbedarf seit Jahren immer mehr an.
Weshalb? Ist die Transplantationsmedizin unersättlich?
Zumindest steigt der Organbedarf aus Gründen, die im System selber liegen. Bei immer mehr Krankheiten, bei denen früher nicht transplantiert wurde, gilt die Transplantation inzwischen als effektivste Therapie. Außerdem werden zunehmend mehrere Organe in einen Patienten verpflanzt. Menschen mit Typ-I-Diabetes erhalten zum Beispiel häufig Niere und Bauchspeicheldrüse gleichzeitig, weil die Heilungschancen dann größer sind. Nicht zuletzt steigt auch die Retransplantationsrate immer weiter an. Wenn ein transplantiertes Organ abgestoßen wird, kommen die Patienten erneut auf die Warteliste und erhalten ein neues Organ. So bekommen manche Patienten vier und mehr Nieren.
Im Ausland gibt es aber erheblich höhere Zahlen an Organspendern.
Viele Länder nutzen Lösungsmöglichkeiten, die für uns aufgrund unserer Geschichte und Moral keine sind. Dort wird quasi versucht, die Grenze zwischen Leben und Tod immer weiter zu verschieben, um an Organe zu gelangen. So werden in Großbritannien Organe schon entnommen, wenn nicht das gesamte Gehirn, sondern nur der Hirnstamm abgestorben ist. Und in den Niederlanden werden Menschen zu Organspendern, wenn ihr Herz stehen geblieben ist. Es gibt heftige Debatten darüber, wie lange Ärzte versuchen müssen, solche Patienten wiederzubeleben, bevor die Organe entnommen werden dürfen. Solche Dinge sind bei uns zu Recht verboten. Auch der gute Zweck heiligt nicht die Mittel.
Soll man die Menschen auf der Warteliste also einfach sterben lassen?
Nein, natürlich nicht! Grade weil es aus den genannten Gründen niemals ausreichend Organe geben wird, müssen wir uns bemühen, den Organbedarf zu senken. Alternativen zur Transplantation müssen in dem gleichen Maße gefördert werden, wie Geld in die Transplantationsmedizin gesteckt wird. Es sollte mehr Forschung geben. Zum Beispiel an Kunstherzen oder auch an biotechnischen Verfahren, die Ersatzgewebe aus Zellen züchten. Nicht zuletzt sollte auch an neuen Arzneimitteln geforscht werden, etwa gegen Hepatitis, und an besseren Suchttherapien, um Organschäden durch Medikamenten-, Drogen- und Alkoholmissbrauch zu mindern.
Sehen Sie auch Möglichkeiten für mehr Prävention als Kuration?
Auf jeden Fall sollten wir Krankheiten zu vermeiden suchen, die zu Organverlust führen. Zu häufig werden beispielsweise Medikamente verschrieben, etwa bei Rheuma oder gegen Schmerzen, die organschädigende Nebenwirkungen haben. Präventionsmaßnahmen müssten sowohl am Verhalten der Einzelnen ansetzen, denn häufig sind es Zivilisationserkrankungen, die zu Organschäden führen, als auch an den Lebens-, Arbeits- und Umweltbedingungen der Menschen. Langfristig ließe sich so der Bedarf an Organen senken, anstatt immer weiter eine Therapie zu fördern, die ihre Patienten aus strukturellen Gründen niemals angemessen versorgen wird.