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Das Gesicht ist eine Maske aus Latex

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Keine Sensation, und gerade deshalb aufregend: die Foto- und Videokünstlerin Gillian Wearing in München.

Help steht auf dem Stück Papier, das der englische Polizist in die Kamera hält. 'We are hardcore' haben zwei Jugendliche auf ihr Blatt gekritzelt, der junge Mann teilt mit, dass er 'queer + happy' ist. Und der Typ in Nadelstreifen hat sich für das Wort 'desperate', verzweifelt, entschieden, als Gillian Wearing ihn bat, ein Schild zu malen, auf dem steht, was er zu sagen habe. Die Künstlerin erzählt, er sei danach eilig weggelaufen, fast verstört. Andere posieren sichtbar stolz auf ihre Einfälle - wie die Dunkelhaarige, die schreibt, dass sie vielleicht diesen Satz beenden werde, niemals jedoch ihre Gedanken. Die Foto-Serie, mit der jetzt eine Retrospektive von Gillian Wearing in der Münchner Sammlung Brandhorst einsetzt, dieses Experiment in Londoner Fußgängerzonen muss als eines der meistkopierten Kunstwerke der Nachkriegszeit gelten. Nicht nur Kurzfilmer, auch Werber und PR-Agenturen haben wieder und wieder Menschen mit handgebastelten Statements fotografiert. Doch die ausgetüftelten Botschaften der Kreativindustrie bleiben blass gegenüber den Resultaten des künstlerischen Ur-Experiments. Wobei sich nicht nur der Einfallsreichtum und der Charme der Londoner hier abbildet -die Serie, entstanden in den Jahren 1992 bis 1993, ist so etwas wie der Beweis dafür, wie sehr die Menschen, die Gillian Wearing porträtiert, die Einladung nicht als entblößend empfinden, sondern als Aufmerksamkeit schätzen. Als Angebot, das sie gerne annehmen.


Gilian Wearings Arbeiten sind noch bis zum siebten Juli im Museum Brandhorst zu sehen.

Es ist wichtig, das festzuhalten. Denn Gillian Wearing interessiert sich bald darauf fürs Extreme: Filmt prügelnde Eltern, Betrunkene, hilflose Mütter, pöbelnde Jugendliche. Menschen erzählen ihr vor laufender Videokamera von ihren sexuellen Vorlieben, von peinlichen Momenten, heimlichen Wünschen. Das war Mitte der Neunziger Jahre ungewohnt, lange bevor Fotografen wie Martin Parr oder Richard Billingham berühmt wurden, die TV-Beichte erfunden war und das Privatfernsehen Super-Nannys auf komplizierte Familien losließ. Doch Gillian Wearing spürt den Outcasts der britischen Gesellschaft nicht aus Voyeurismus nach - ihr Werk sucht Nähe, zeigt Sympathie und lässt die Menschen selbst zu Wort kommen, einen Ausdruck finden.

Einmal erzählt sie in ein paar zufälligen Sekunden einer Session das Drama eines zu frühen Todes. Das bisschen Footage, die sie von Lindsey aufnehmen konnte, bildet schmerzhaft die Sehnsucht ab, mehr von dieser jungen Frau zu erfahren, die Gillian Wearing mit einer Gruppe von Alkoholikern zu Probeaufnahmen ins Studio gebeten hatte. Doch bevor die Künstlerin sie noch einmal treffen konnte, starb Lindsey an Leberzirrhose und Lungenentzündung, wie ihre Schwester erzählt, deren frei formulierte Erinnerungen an eine Wohnung voller Blut und die Zehn-Minuten-Beerdigung Gillian Wearing dann als Tonspur für die kurze schwarz-weiße Aufnahme verwendet. Wie eine kostbare Zeugenaussage bleibt die Geschichte ungekürzt, stattdessen zieht Gillian Wearing das Bildmaterial für 'Prelude' etwas in die Länge: 'Lin' hat sich in der Großaufnahme offensichtlich nicht unwohl gefühlt. Beim Lächeln zeigte sie die breite Zahnlücke, sie trank Dosenbier, rauchte, hatte die nächste Zigarette schon hinterm Ohr bereit. Dass dieses Leben nun von seinem Ende her erzählt wird erinnert zwar durchaus an die - sehr britische - Erzähltradition der Moritat, mehr aber noch an den Ton eines Charles Dickens oder die sozialkritischen 'moralischen Bilderfolgen' von William Hogarth. Warum die eine Zwillingsschwester noch lebt, die andere aber krepiert, muss die Kunst nicht erklären, wo es ihr gelingt, die beiden noch einmal zu zeigen.

Gillians Wearings Kunst wurde so zum Gegenbild. Nicht nur, weil sie im boomenden Millenium-London auf die Ränder der Gesellschaft fokussierte, sondern auch, weil sie sich der Verwandtschaft zur populären Young British Art verweigerte, der sie als 1963 geborene Absolventin des Goldsmith-College eigentlich eingeboren sein müsste. Doch hat sie sich ferngehalten vom Hype und aller funkelnden, marktgerechten Kunstproduktion, blieb bei Video und kleinformatiger Fotografie und setzte auf die raue Ästhetik einfachster Effekte. Dass sie den Film, der 'Sacha and Mum' (1996) bei einer Prügelei im Wohnzimmer zeigt, rückwärts laufen lässt, akzentuiert häusliche Gewalt als Choreografie, statt diese zutiefst gestört wirkende Mutter-und-Tochter-Beziehung dem Voyeurismus auszuliefern. Wie auch die einfache Vertauschung der Stimmen bei '2 into 1' (1997), einem Gespräch mit einer Mutter und ihren beiden Söhnen. 'Ich finde, sie erpresst uns ziemlich', sagt Hilary mit der Stimme ihres Sohnes Alex. Der kontert mit Hilarys Beobachtung, dass Liebe vielleicht 'die normale, vorwiegende Empfindung' sei, 'aber manchmal empfindet man wirklich Hass, man hasst sie'. Das Unsagbare, das sich hier ausdrückt, gewinnt, disloziert, ausgesprochen von der Gegenseite, eine irritierende Dimension.

Die Starrheit der Rollenverteilung spielt auf die klassischen Muster der Tragödie an. Die Zugehörigkeit zu Generationen, die Schicksale scheinen unausweichlich. Es ist ein theatralisches Verständnis von Gesellschaft, aus dem sich auch die intensive Beschäftigung mit dem Motiv der Maske ergibt, die bei Gillian Wearing einsetzt, nachdem sie 1995 mitten in der Stadt einer Frau mit einem starren, weiß bandagierten Gesicht begegnete, die sie mit der Kamera kurz verfolgte. Ein paar Tage später läuft sie als Hommage an die Unbekannte selbst maskiert durch ihr Viertel.

Wer ihr nun von seinem 'Trauma' (2000) beichtet, darf sich hinter den starren Zügen einer Maske tarnen, bald lässt sie sich selbst aus Latex die Gesichtszüge anderer anpassen: Die Porträts zeigen sie als Robert Mapplethorpe und Andy Warhol, verstörender sind aber die Aufnahmen, in denen sie in die Haut ihres Großvaters schlüpft oder ihrer noch jungen Mutter.

Kurator Bernhart Schwenk kann im Museum Brandhorst diese pastellhell gerahmten Großfotos direkt zwischen Warhols Porträts und Siebdrucke hängen. Wobei Wearings Konzept irritierenderweise fast obsessiv wirkt: Irgendwann posiert Gillian Wearing auch mit dem Abguss ihres eigenen Gesichts. Die umfassende Retrospektive gewinnt im Untergeschoss der Sammlung Brandhorst - erst in unmittelbarer Nähe zur jüngeren Kunstgeschichte wird der Abstand sichtbar, in dem sich dieses Werk entfaltet.

Dass die Schau gegenüber den vorherigen Stationen Düsseldorf und London etwas verknappt wurde, steht dem Werk gut an - das, mit wachsendem Einfluss, unkonzentrierter wurde, sensationalistischer: Inzwischen, aber das zeigt nur der Katalog, gießt Gillian Wearing auch Bronzen. Was wirkt, als habe sie ihrem eigenen Werk einen Grabstein gesetzt.

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