An die Hochschulen strömen zunehmend Anfänger ohne klassische Hochschulreife, viele stemmen das Studium neben dem Beruf. Der Spagat zwischen Vorlesung und Arbeitsplatz beschert ihnen einen stressigen Alltag - kann sich aber am Ende auszahlen
Freitagnachmittag in Mannheim-Käfertal: Für die gut 2000 Mitarbeiter der Firma Alstom-Power steht der Start ins arbeitsfreie Wochenende bevor. Auch die Projektmanagerin Melanie Lück fährt das Konstruktionsgerät herunter - aber das Wochenende wird wieder mal anders ablaufen als bei den Kollegen. Zwei arbeitsfreie Tage bedeuten: Studien- und Lerntage. Jeden Samstag muss sie früh aufstehen, düst mit ihrem schwarzen Sport-Coupé nach Rüsselsheim, um kurz nach acht Uhr pünktlich da zu sein; um diese Uhrzeit beginnt die erste Vorlesung an der Hochschule RheinMain. Bis zum Spätnachmittag reiht sich dann Lehrveranstaltung an Lehrveranstaltung. Hinzu kommen ein wöchentlicher Seminartag jeweils mittwochs, zum Anfang und Ende des Semesters mehrtägige Blockkurse, obendrauf Klausurtermine. Mit Urlaub und ihrem Gleitzeitkonto kann die junge Frau das bewerkstelligen. Ein stressiger Alltag - mittlerweile schon seit sieben Semestern.
Melanie Lück, 27 Jahre alt, studiert Ingenieurwissenschaften und beginnt gerade mit ihrer Diplomarbeit. Darin geht es um die Frage, wie man Gasturbinen umweltfreundlicher bauen kann. Ihr Studium ist in dreifacher Hinsicht nicht alltäglich: Erstens handelt es sich um die Männerdomäne Maschinenbau, außer ihr gibt es nur noch eine Kommilitonin im Semester; zweitens absolviert Lück ihr Studium berufsbegleitend; und drittens: ohne Abitur.
Das Sommersemester beginnt in diesen Tagen. Voraussichtlich etwa 12000 der Studienanfänger werden in diesem Jahr kein Abitur haben - ihre Eintrittskarte ist der Meisterbrief, der Abschluss von Technikerfachschulen oder eine herkömmliche Lehre. Ihr Anteil wächst zwar, ist aber mit 2,3 Prozent aller Studenten noch eher gering. Andere EU-Länder verbuchen hier weitaus höhere Quoten, etwa in Schweden liegt sie bei einem Drittel der Studenten. Deutschland will aufholen, das ist seit Jahren erklärter Wille der Bildungsminister. Vor wenigen Tagen bekräftigte das Nordrhein-Westfalens Wissenschaftsministerin Svenja Schulze (SPD): 'Die Steigerungsraten sind ermutigend, aber natürlich wünschen wir uns viel mehr Studierende aus diesem Bewerberkreis. Studieren ohne Abi - das muss schlicht eine Selbstverständlichkeit werden.' Die meisten Nicht-Abiturienten im Hörsaal zählt ihr Land NRW, mit 4,7 Prozent aller Eingeschriebenen.
Absolventinnen der Universität Bonn freuen sich über ihren Hochschulabschluss. In NRW ist der Anteil der Studenten, die ohne Abitur ein Studium aufnehmen, mit 4,7 Prozent bundesweit am höchsten.
Melanie Lück hat ihre Zeit am Gymnasium nicht in bester Erinnerung. Vor dem Abi schmiss sie die Schule: 'Das Ziel Abitur war noch so weit weg, die Zensuren waren gar nicht schlecht, aber ich wollte einfach nicht mehr.' Sie begann eine Berufsausbildung zur Technischen Zeichnerin. Lernen im Unternehmen machte ihr Spaß, Konstruieren von Gasturbinen wurde ihr Metier. Aber bald wollte sie mehr. 'Die Ausbildung war gut, mir reichte das aber nicht, ich wollte weiterkommen', sagt Lück, die ruhig und überlegt ihre Worte wählt und so dem Image vom etwas reservierten Tüftler entspricht, das Ingenieuren gerne zugeschrieben wird. Es folgte der Besuch einer Techniker-Fachschule, ebenfalls berufsbegleitend - also arbeiten und lernen, auch am Wochenende, vier Jahre. Mit dem Zertifikat zur staatlich geprüften Technikerin Automatisierungstechnik und Mechatronik in der Tasche wollte sie noch eine Schüppe drauflegen: Diplom-Ingenieurin. Doch komplett auszusteigen aus dem Job, um in Vollzeit zu studieren, kam für Melanie Lück nicht infrage: 'Ich hätte mit Bafög auskommen müssen, und die Anbindung an den Betrieb wäre auch weg gewesen.' So kam sie an die Hochschule RheinMain, die frühere Fachhochschule Wiesbaden, mit Standort in Rüsselsheim. Dort war man auf Klientel aus der Praxis tendenziell eher eingestellt als an vielen anderen Hochschulen.
Christian Streuber, Professor und Studiengangsleiter, verweist darauf, dass für viele ein Ausstieg aus dem Beruf gar nicht machbar sei - daher lancierte man das berufsintegrierte Angebot für Maschinenbau und Elektrotechnik. Bei Lücks Studienstart gab es noch das Diplom, später stellte man auf die neuen Abschlüsse Bachelor und Master um. Jeder zehnte Rüsselsheimer Student in den naturwissenschaftlichen und technischen Fächern hat seinen Job behalten. Mit all den Nachteilen für die Samstage wie bei Lück. Nur in den Ferien kann sie ausschlafen, mit dem Partner lange frühstücken, Freunde treffen.
Aber eben auch mit Vorteilen: dem Verdienst. Und den erhofften Chancen im eigenen Betrieb. Viele Unternehmen bewerten das Studium ohne Abitur durchweg positiv, fordern Mitarbeiter oft gezielt dazu auf - im Kampf gegen fehlende Ingenieure. So übernimmt Lücks Arbeitgeber die Semestergebühren in Höhe von 250 Euro. Und jetzt, bei der Diplomarbeit, kann sie die Anlagen im Konstruktionsbüro für derlei Zwecke nutzen. Streuber wirbt zudem mit Erfolgsquoten. 'Bei den Technikern führen wir knapp 90 Prozent zum erfolgreichen Abschluss, bei den Meistern sind es 60 Prozent.' Bemerkenswerte Zahlen, sind doch gerade bei universitären Ingenieurstudiengängen Abbrecherquoten von 50 Prozent üblich, wie aus Daten des HIS-Instituts für Hochschulforschung hervorgeht.
Unabhängig von Politik und Unternehmen spielt es eine große Rolle, wie offen die Hochschulen sind. Jede Einrichtung legt individuell fest, in welchen Studiengängen, unter welchen Bedingungen sie Nicht-Abiturienten aufnimmt. Und wie sie das Angebot für die neue Zielgruppe gestaltet, gerade für berufsbegleitende Studenten: Experten empfehlen flexible Modelle mit Fernseminaren sowie Brückenkurse für Stoffdefizite (siehe Artikel links). Der Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung in Bonn, Hubert Esser, beklagt, dass 'es kaum Angebote gibt, die sich an den Bedürfnissen der beruflichen Qualifizierten orientieren'. Das heißt, dass Hochschulen in der Lehre meist ihr Standardprogramm bieten - und keine gezielte Didaktik, die den Erfahrungsschatz der Praktiker ausschöpft. 'Die Hochschule knüpft zwar am Bildungsniveau der Technikerschule an, unsere Praxiserfahrungen bleiben aber außen vor', sagt auch Lück.
Dennoch - das baldige Diplom beweist es - hat sich ihr Studium gelohnt. Auch für die Karriere? Davon ist Lück überzeugt: 'Ich werde meinen Weg als Diplom-Ingenieurin machen.' Mit mehr Verantwortung, mit höherem Gehalt - sie hat da schon Ideen, wie sie sich beim Thema Gasturbine einbringen kann, vielleicht irgendwann an der Spitze ihres jetzigen Teams. Zunächst aber dürfte der Stress abnehmen, nach zwölf Jahren Bildungszeit von der Lehre bis zum Diplom. 'Da werde ich mir erst einmal überlegen, was ich ohne Vorlesungen und Lernen eigentlich anstellen soll.'
Freitagnachmittag in Mannheim-Käfertal: Für die gut 2000 Mitarbeiter der Firma Alstom-Power steht der Start ins arbeitsfreie Wochenende bevor. Auch die Projektmanagerin Melanie Lück fährt das Konstruktionsgerät herunter - aber das Wochenende wird wieder mal anders ablaufen als bei den Kollegen. Zwei arbeitsfreie Tage bedeuten: Studien- und Lerntage. Jeden Samstag muss sie früh aufstehen, düst mit ihrem schwarzen Sport-Coupé nach Rüsselsheim, um kurz nach acht Uhr pünktlich da zu sein; um diese Uhrzeit beginnt die erste Vorlesung an der Hochschule RheinMain. Bis zum Spätnachmittag reiht sich dann Lehrveranstaltung an Lehrveranstaltung. Hinzu kommen ein wöchentlicher Seminartag jeweils mittwochs, zum Anfang und Ende des Semesters mehrtägige Blockkurse, obendrauf Klausurtermine. Mit Urlaub und ihrem Gleitzeitkonto kann die junge Frau das bewerkstelligen. Ein stressiger Alltag - mittlerweile schon seit sieben Semestern.
Melanie Lück, 27 Jahre alt, studiert Ingenieurwissenschaften und beginnt gerade mit ihrer Diplomarbeit. Darin geht es um die Frage, wie man Gasturbinen umweltfreundlicher bauen kann. Ihr Studium ist in dreifacher Hinsicht nicht alltäglich: Erstens handelt es sich um die Männerdomäne Maschinenbau, außer ihr gibt es nur noch eine Kommilitonin im Semester; zweitens absolviert Lück ihr Studium berufsbegleitend; und drittens: ohne Abitur.
Das Sommersemester beginnt in diesen Tagen. Voraussichtlich etwa 12000 der Studienanfänger werden in diesem Jahr kein Abitur haben - ihre Eintrittskarte ist der Meisterbrief, der Abschluss von Technikerfachschulen oder eine herkömmliche Lehre. Ihr Anteil wächst zwar, ist aber mit 2,3 Prozent aller Studenten noch eher gering. Andere EU-Länder verbuchen hier weitaus höhere Quoten, etwa in Schweden liegt sie bei einem Drittel der Studenten. Deutschland will aufholen, das ist seit Jahren erklärter Wille der Bildungsminister. Vor wenigen Tagen bekräftigte das Nordrhein-Westfalens Wissenschaftsministerin Svenja Schulze (SPD): 'Die Steigerungsraten sind ermutigend, aber natürlich wünschen wir uns viel mehr Studierende aus diesem Bewerberkreis. Studieren ohne Abi - das muss schlicht eine Selbstverständlichkeit werden.' Die meisten Nicht-Abiturienten im Hörsaal zählt ihr Land NRW, mit 4,7 Prozent aller Eingeschriebenen.
Absolventinnen der Universität Bonn freuen sich über ihren Hochschulabschluss. In NRW ist der Anteil der Studenten, die ohne Abitur ein Studium aufnehmen, mit 4,7 Prozent bundesweit am höchsten.
Melanie Lück hat ihre Zeit am Gymnasium nicht in bester Erinnerung. Vor dem Abi schmiss sie die Schule: 'Das Ziel Abitur war noch so weit weg, die Zensuren waren gar nicht schlecht, aber ich wollte einfach nicht mehr.' Sie begann eine Berufsausbildung zur Technischen Zeichnerin. Lernen im Unternehmen machte ihr Spaß, Konstruieren von Gasturbinen wurde ihr Metier. Aber bald wollte sie mehr. 'Die Ausbildung war gut, mir reichte das aber nicht, ich wollte weiterkommen', sagt Lück, die ruhig und überlegt ihre Worte wählt und so dem Image vom etwas reservierten Tüftler entspricht, das Ingenieuren gerne zugeschrieben wird. Es folgte der Besuch einer Techniker-Fachschule, ebenfalls berufsbegleitend - also arbeiten und lernen, auch am Wochenende, vier Jahre. Mit dem Zertifikat zur staatlich geprüften Technikerin Automatisierungstechnik und Mechatronik in der Tasche wollte sie noch eine Schüppe drauflegen: Diplom-Ingenieurin. Doch komplett auszusteigen aus dem Job, um in Vollzeit zu studieren, kam für Melanie Lück nicht infrage: 'Ich hätte mit Bafög auskommen müssen, und die Anbindung an den Betrieb wäre auch weg gewesen.' So kam sie an die Hochschule RheinMain, die frühere Fachhochschule Wiesbaden, mit Standort in Rüsselsheim. Dort war man auf Klientel aus der Praxis tendenziell eher eingestellt als an vielen anderen Hochschulen.
Christian Streuber, Professor und Studiengangsleiter, verweist darauf, dass für viele ein Ausstieg aus dem Beruf gar nicht machbar sei - daher lancierte man das berufsintegrierte Angebot für Maschinenbau und Elektrotechnik. Bei Lücks Studienstart gab es noch das Diplom, später stellte man auf die neuen Abschlüsse Bachelor und Master um. Jeder zehnte Rüsselsheimer Student in den naturwissenschaftlichen und technischen Fächern hat seinen Job behalten. Mit all den Nachteilen für die Samstage wie bei Lück. Nur in den Ferien kann sie ausschlafen, mit dem Partner lange frühstücken, Freunde treffen.
Aber eben auch mit Vorteilen: dem Verdienst. Und den erhofften Chancen im eigenen Betrieb. Viele Unternehmen bewerten das Studium ohne Abitur durchweg positiv, fordern Mitarbeiter oft gezielt dazu auf - im Kampf gegen fehlende Ingenieure. So übernimmt Lücks Arbeitgeber die Semestergebühren in Höhe von 250 Euro. Und jetzt, bei der Diplomarbeit, kann sie die Anlagen im Konstruktionsbüro für derlei Zwecke nutzen. Streuber wirbt zudem mit Erfolgsquoten. 'Bei den Technikern führen wir knapp 90 Prozent zum erfolgreichen Abschluss, bei den Meistern sind es 60 Prozent.' Bemerkenswerte Zahlen, sind doch gerade bei universitären Ingenieurstudiengängen Abbrecherquoten von 50 Prozent üblich, wie aus Daten des HIS-Instituts für Hochschulforschung hervorgeht.
Unabhängig von Politik und Unternehmen spielt es eine große Rolle, wie offen die Hochschulen sind. Jede Einrichtung legt individuell fest, in welchen Studiengängen, unter welchen Bedingungen sie Nicht-Abiturienten aufnimmt. Und wie sie das Angebot für die neue Zielgruppe gestaltet, gerade für berufsbegleitende Studenten: Experten empfehlen flexible Modelle mit Fernseminaren sowie Brückenkurse für Stoffdefizite (siehe Artikel links). Der Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung in Bonn, Hubert Esser, beklagt, dass 'es kaum Angebote gibt, die sich an den Bedürfnissen der beruflichen Qualifizierten orientieren'. Das heißt, dass Hochschulen in der Lehre meist ihr Standardprogramm bieten - und keine gezielte Didaktik, die den Erfahrungsschatz der Praktiker ausschöpft. 'Die Hochschule knüpft zwar am Bildungsniveau der Technikerschule an, unsere Praxiserfahrungen bleiben aber außen vor', sagt auch Lück.
Dennoch - das baldige Diplom beweist es - hat sich ihr Studium gelohnt. Auch für die Karriere? Davon ist Lück überzeugt: 'Ich werde meinen Weg als Diplom-Ingenieurin machen.' Mit mehr Verantwortung, mit höherem Gehalt - sie hat da schon Ideen, wie sie sich beim Thema Gasturbine einbringen kann, vielleicht irgendwann an der Spitze ihres jetzigen Teams. Zunächst aber dürfte der Stress abnehmen, nach zwölf Jahren Bildungszeit von der Lehre bis zum Diplom. 'Da werde ich mir erst einmal überlegen, was ich ohne Vorlesungen und Lernen eigentlich anstellen soll.'