Kein DDR-Dämmerungsbuch: Jochen Schmidts 'Schneckenmühle' handelt von der Wende der Pubertät.
"Schneckenmühle" - einen besseren Namen für ein Ferienlager, in dem Kinder langsam durch die Mühle des Erwachsenwerdens gedreht werden, kann man kaum erfinden. Die "Schneckenmühle" gibt es wirklich, nahe Dresden, mitten in einem Naturschutzgebiet. Schon in Vorwendezeiten verbrachten dort vor allem Berliner Jugendliche ihre Sommerferien.
Der 42-jährige Autor und Journalist Jochen Schmidt hat diesen Ort zum Schauplatz seines neuen Romans gewählt. Im Zentrum steht ein zurückhaltender, etwas unbeholfener und ziemlich nachdenklicher Ich-Erzähler namens Jens, der in diesem Sommer des Jahres 1989 mit großer Vorfreude in die Schneckenmühle fährt. Ein paar skurrile Abenteuer wird er dabei erleben und einiges Unverständliche erfahren: Er wird sich verlieben, und vielleicht wagt sich dieser schüchterne 14-Jährige am letzten Abend bei der Abschlussparty sogar auf die Tanzfläche -was für einen introvertierten Eckensteher eine ziemliche Herausforderung darstellt.
Ein Ferienlager nahe Dresden: In "Schneckenmühle" erzählt der Autor Jochen Schmidt von den Irrungen und Wirrungen des Erwachsenwerdens.
"Langsame Runde" nennt Jochen Schmidt seinen Roman im Untertitel. "Langsame Runde" bezeichnet nicht nur eine bestimmte Art des Tanzens, die man in westlichen Dorfdiskotheken einmal als "Stehblues" bezeichnet hat. Es sagt auch etwas über den Zustand, in dem sich Schmidts junge Helden befinden: Während um sie herum die DDR gerade dabei ist zu implodieren, sprießen bei den Jugendlichen die ersten Pickel, kommen sie in ein Stadium, das man gemeinhin Pubertät nennt. Die Kindheit wird unweigerlich von etwas Undurchschaubarem abgelöst. Das alte System zerbröselt, und das neue ist unvorstellbar. Man dreht noch einmal eine langsame Runde, bevor die Zukunft so richtig in Fahrt kommt.
Es ist eine Verlangsamung, zugleich aber auch eine zunehmende Beschleunigung: ein rasender Stillstand. Die Jugendlichen befinden sich in einer Zeitkapsel, spielen Skat und Tischtennis und versuchen, sich die Welt zu erklären, auch wenn es nur winzige Partikel sind, die sie von ihr zu Gesicht bekommen. Der Ich-Erzähler Jens ist geradezu ein Grübel-Weltmeister: Durch den Kokon seines Kindseins dringen schon die schwerwiegenderen Probleme, die das Erwachsenenleben bereithalten wird - der Junge sinniert über Dinge, die sich nicht mehr greifen lassen, über die Zeit, die Vergänglichkeit schlechthin. "Es ist das letzte Mal, dass ich fahren darf, weil ich in diesem Jahr 14 geworden bin. Ein Sechstel meines Lebens ist vorbei, denn ich werde ja irgendetwas zwischen 80 und 100. Ein Sechstel, halb kommt mir das beruhigend wenig vor, aber eigentlich auch beunruhigend viel."
Nun ist es nicht gerade so, dass Jugenderinnerungen an die untergegangene DDR in den letzten Jahren Mangelware gewesen wären. Von "Sonnenallee" bis "Zonenkinder" beamten sich Autoren mehr oder minder sentimental in eine Zeit zurück, die in der Kinderwahrnehmung nur peripher berührt war von ideologischen Erwägungen. Die Nöte, Wünsche und Erlebnisse in der Pubertät sind immer absolut und immer von Autorität bedroht, ob unter realsozialistischen oder kapitalistischen Verhältnissen. Jede Geschichte ist aber, auch wenn sie vielen anderen ähneln mag, von einer unhintergehbaren Einzigartigkeit - keine repräsentiert, allen Stilisierungen zu Generationenerfahrungen zum Trotz, das Ganze. Und jede Geschichte hat zudem ihre zeitliche Bedingtheit und Begrenzung.
Das ist das Schöne an Jochen Schmidts komisch-traurigem Roman: Dass sich die persönlichen Erfahrungen gegen die Überlagerung mit kollektiven Erinnerungen zur Wehr setzen. Und zwar auch auf der strukturellen Ebene des Buches, das mit der gewitzten Ahnungslosigkeit der Protagonisten spielt. Die Erzählhaltung ist ja bewusst gewählt; auch sie trägt zum Effekt von Unmittelbarkeit bei. Schmidt schreibt auf Augenhöhe seiner Protagonisten, und nur ganz selten schleicht sich ein klügeres älteres Ich mit Sätzen wie "jede Erinnerung ist eine Narbe" ins Bewusstsein des 14-Jährigen. Die Wendevorboten werden von den Jugendlichen mit einer gewissen Naivität gelesen und ins eigene System einsortiert. Dass immer mehr der erwachsenen Ferienlager-Betreuer verschwinden, führt zu wilden Spekulationen, die sich mit den Westfernseh-Erfahrungen und spielerischen Gedanken der Kinder vermischen. Die Anverwandlung eines nur vage erklärbaren Geschehens erzeugt die grotesk-heiteren Momente dieses Romans.
Manche der Jugendlichen sind schon weiter - sie sehen relativ klar, was geschieht. Jens, der einerseits jeden Gedanken hin- und herwälzt, hat andererseits bis zum Ende keine Idee von dem Wandel, der sich gerade vollzieht. Das liegt nicht zuletzt daran, dass er sich mit einer Außenseiterin des Camps anfreundet, sich gar zum ersten Mal verknallt und dementsprechend ein wenig wirklichkeitsresistent ist: Peggy kommt aus Sachsen, sie redet starken Dialekt, über den sich die Hauptstadt-Kinder lustig machen. Und auch sie möchte verschwinden, während sich um sie herum die Dinge unweigerlich auflösen. Jens versorgt sie in ihrem Versteck mit Essen, und er merkt plötzlich, wie sich eine nie gekannte Nähe herstellt. Auch in dieser Hinsicht ist dieser Sommer einer der Veränderung: Die Wahrnehmung der eigenen Gefühle wird noch schärfer, und in all die Verwirrung dringt eine ernsthafte Sehnsucht ein. Aus Spaß wird ein schönes ernstes Spiel.
Jochen Schmidt hat für dieses Erinnerungsbuch einen einnehmenden Ton getroffen, eine Sprache gefunden, in der alles vermischt ist, was auch in den Kindergehirnen munter durcheinanderpurzelt. In kleinen Szenen lässt er die Propagandamaschine DDR an der Fantasieproduktion der Jugendlichen heißlaufen. Und er versteht es, seinen Helden immer wieder die richtigen, von einer durchaus bitteren Ahnung durchsetzten Fragen in den Mund zu legen. "Was mich antreibt? Ich weiß es gar nicht. Daß immer möglichst viel Zeit bleiben soll, bis die Zukunft beginnt?"
Jochen Schmidts lustiger "Wenderoman" ist am Ende gar keiner. Jedenfalls kein DDR-Dämmerungsbuch. Dass hier der politische Umbruch mit einem persönlichen zusammenfällt, ist zwar kein Zufall - diesen symbolischen Überschuss darf man als Autor durchaus nutzen. Aber eigentlich dreht sich "Schneckenmühle" um Wesentlicheres, darum, eine Haltung zum Leben zu finden, ums sogenannte Erwachsenwerden. Und das ist dann für Jens und jede einzelne von Schmidts Figuren doch die viel bedeutsamere Wende.
"Schneckenmühle" - einen besseren Namen für ein Ferienlager, in dem Kinder langsam durch die Mühle des Erwachsenwerdens gedreht werden, kann man kaum erfinden. Die "Schneckenmühle" gibt es wirklich, nahe Dresden, mitten in einem Naturschutzgebiet. Schon in Vorwendezeiten verbrachten dort vor allem Berliner Jugendliche ihre Sommerferien.
Der 42-jährige Autor und Journalist Jochen Schmidt hat diesen Ort zum Schauplatz seines neuen Romans gewählt. Im Zentrum steht ein zurückhaltender, etwas unbeholfener und ziemlich nachdenklicher Ich-Erzähler namens Jens, der in diesem Sommer des Jahres 1989 mit großer Vorfreude in die Schneckenmühle fährt. Ein paar skurrile Abenteuer wird er dabei erleben und einiges Unverständliche erfahren: Er wird sich verlieben, und vielleicht wagt sich dieser schüchterne 14-Jährige am letzten Abend bei der Abschlussparty sogar auf die Tanzfläche -was für einen introvertierten Eckensteher eine ziemliche Herausforderung darstellt.
Ein Ferienlager nahe Dresden: In "Schneckenmühle" erzählt der Autor Jochen Schmidt von den Irrungen und Wirrungen des Erwachsenwerdens.
"Langsame Runde" nennt Jochen Schmidt seinen Roman im Untertitel. "Langsame Runde" bezeichnet nicht nur eine bestimmte Art des Tanzens, die man in westlichen Dorfdiskotheken einmal als "Stehblues" bezeichnet hat. Es sagt auch etwas über den Zustand, in dem sich Schmidts junge Helden befinden: Während um sie herum die DDR gerade dabei ist zu implodieren, sprießen bei den Jugendlichen die ersten Pickel, kommen sie in ein Stadium, das man gemeinhin Pubertät nennt. Die Kindheit wird unweigerlich von etwas Undurchschaubarem abgelöst. Das alte System zerbröselt, und das neue ist unvorstellbar. Man dreht noch einmal eine langsame Runde, bevor die Zukunft so richtig in Fahrt kommt.
Es ist eine Verlangsamung, zugleich aber auch eine zunehmende Beschleunigung: ein rasender Stillstand. Die Jugendlichen befinden sich in einer Zeitkapsel, spielen Skat und Tischtennis und versuchen, sich die Welt zu erklären, auch wenn es nur winzige Partikel sind, die sie von ihr zu Gesicht bekommen. Der Ich-Erzähler Jens ist geradezu ein Grübel-Weltmeister: Durch den Kokon seines Kindseins dringen schon die schwerwiegenderen Probleme, die das Erwachsenenleben bereithalten wird - der Junge sinniert über Dinge, die sich nicht mehr greifen lassen, über die Zeit, die Vergänglichkeit schlechthin. "Es ist das letzte Mal, dass ich fahren darf, weil ich in diesem Jahr 14 geworden bin. Ein Sechstel meines Lebens ist vorbei, denn ich werde ja irgendetwas zwischen 80 und 100. Ein Sechstel, halb kommt mir das beruhigend wenig vor, aber eigentlich auch beunruhigend viel."
Nun ist es nicht gerade so, dass Jugenderinnerungen an die untergegangene DDR in den letzten Jahren Mangelware gewesen wären. Von "Sonnenallee" bis "Zonenkinder" beamten sich Autoren mehr oder minder sentimental in eine Zeit zurück, die in der Kinderwahrnehmung nur peripher berührt war von ideologischen Erwägungen. Die Nöte, Wünsche und Erlebnisse in der Pubertät sind immer absolut und immer von Autorität bedroht, ob unter realsozialistischen oder kapitalistischen Verhältnissen. Jede Geschichte ist aber, auch wenn sie vielen anderen ähneln mag, von einer unhintergehbaren Einzigartigkeit - keine repräsentiert, allen Stilisierungen zu Generationenerfahrungen zum Trotz, das Ganze. Und jede Geschichte hat zudem ihre zeitliche Bedingtheit und Begrenzung.
Das ist das Schöne an Jochen Schmidts komisch-traurigem Roman: Dass sich die persönlichen Erfahrungen gegen die Überlagerung mit kollektiven Erinnerungen zur Wehr setzen. Und zwar auch auf der strukturellen Ebene des Buches, das mit der gewitzten Ahnungslosigkeit der Protagonisten spielt. Die Erzählhaltung ist ja bewusst gewählt; auch sie trägt zum Effekt von Unmittelbarkeit bei. Schmidt schreibt auf Augenhöhe seiner Protagonisten, und nur ganz selten schleicht sich ein klügeres älteres Ich mit Sätzen wie "jede Erinnerung ist eine Narbe" ins Bewusstsein des 14-Jährigen. Die Wendevorboten werden von den Jugendlichen mit einer gewissen Naivität gelesen und ins eigene System einsortiert. Dass immer mehr der erwachsenen Ferienlager-Betreuer verschwinden, führt zu wilden Spekulationen, die sich mit den Westfernseh-Erfahrungen und spielerischen Gedanken der Kinder vermischen. Die Anverwandlung eines nur vage erklärbaren Geschehens erzeugt die grotesk-heiteren Momente dieses Romans.
Manche der Jugendlichen sind schon weiter - sie sehen relativ klar, was geschieht. Jens, der einerseits jeden Gedanken hin- und herwälzt, hat andererseits bis zum Ende keine Idee von dem Wandel, der sich gerade vollzieht. Das liegt nicht zuletzt daran, dass er sich mit einer Außenseiterin des Camps anfreundet, sich gar zum ersten Mal verknallt und dementsprechend ein wenig wirklichkeitsresistent ist: Peggy kommt aus Sachsen, sie redet starken Dialekt, über den sich die Hauptstadt-Kinder lustig machen. Und auch sie möchte verschwinden, während sich um sie herum die Dinge unweigerlich auflösen. Jens versorgt sie in ihrem Versteck mit Essen, und er merkt plötzlich, wie sich eine nie gekannte Nähe herstellt. Auch in dieser Hinsicht ist dieser Sommer einer der Veränderung: Die Wahrnehmung der eigenen Gefühle wird noch schärfer, und in all die Verwirrung dringt eine ernsthafte Sehnsucht ein. Aus Spaß wird ein schönes ernstes Spiel.
Jochen Schmidt hat für dieses Erinnerungsbuch einen einnehmenden Ton getroffen, eine Sprache gefunden, in der alles vermischt ist, was auch in den Kindergehirnen munter durcheinanderpurzelt. In kleinen Szenen lässt er die Propagandamaschine DDR an der Fantasieproduktion der Jugendlichen heißlaufen. Und er versteht es, seinen Helden immer wieder die richtigen, von einer durchaus bitteren Ahnung durchsetzten Fragen in den Mund zu legen. "Was mich antreibt? Ich weiß es gar nicht. Daß immer möglichst viel Zeit bleiben soll, bis die Zukunft beginnt?"
Jochen Schmidts lustiger "Wenderoman" ist am Ende gar keiner. Jedenfalls kein DDR-Dämmerungsbuch. Dass hier der politische Umbruch mit einem persönlichen zusammenfällt, ist zwar kein Zufall - diesen symbolischen Überschuss darf man als Autor durchaus nutzen. Aber eigentlich dreht sich "Schneckenmühle" um Wesentlicheres, darum, eine Haltung zum Leben zu finden, ums sogenannte Erwachsenwerden. Und das ist dann für Jens und jede einzelne von Schmidts Figuren doch die viel bedeutsamere Wende.