Seit 20 Jahren gibt es in Deutschland Lebensmittel-Tafeln für Bedürftige - und jedes Jahr werden es mehr. Jetzt machen die Kritiker der modernen Armenspeisung mobil. Sie fragen: Was tut eigentlich der Sozialstaat?
Es ist eine der ganz großen Erfolgsgeschichten in den vergangenen 20 Jahren. Sie begann 1993, als die Berliner Sozialpädagogin Sabine Werth die erste Tafel in Deutschland gründete und eine einfache und charmante Idee aus den USA aufgriff: Ehrenamtliche verteilen das Überflüssige um, in dem sie übrig gebliebene Lebensmittel einsammeln und an Bedürftige weiterreichen. Doch was als 'Mahlzeit-Nothilfe' vor allem für Obdachlose gedacht war, hat sich längst zu einer modernen Armenspeisung in einem der reichsten Länder der Erde entwickelt.
Überall in der Republik expandieren die Tafeln, vor allem seit Einführung von Hartz IV. 2005 versorgten sich so noch 500000 Menschen mit Obst, Gemüse, Wurst Schokolade oder Nudeln, jetzt sind es 1,5 Millionen: Rentner und Migranten, genauso wie Kinder und Alleinerziehende, Geringverdiener und Hartz-IV-Empfänger. Inzwischen gibt es gut 900 Tafeln mit mehr als 3000 Ausgabestellen. Aber ist der 20.Geburtstag dieser sozialen Bewegung ein Grund zum Feiern? Können Politiker, spendende Handelskonzerne wie Rewe, Lidl, Aldi oder Edeka und die 50000 Helfer stolz darauf sein, dass das Essen dahinkommt, 'wo es hingehört', so der Slogan des Bundesverbandes Deutsche Tafeln?
Die Schlangen vor den Tafeln sind lang: Die Zahl der Menschen, die sich hier mit Lebensmitteln eindecken, hat sich in den letzten acht Jahren verdreifacht.
Der Soziologe Stefan Selke hat in den vergangenen drei Jahren für ein neues Buch bundesweit Tafeln, Suppenküchen, Kleiderkammern und Sozialkaufhäuser besucht und mit den Menschen geredet, die bei den Tafeln - so wie die Arbeitslosen in den Jobcentern - inzwischen 'Kunden' heißen. Er kommt zu dem Schluss: Für die Betroffenen seien die Tafeln 'eine Metapher für den eigenen sozialen Abstieg und den sozialen Ausschluss aus der Mehrheitsgesellschaft'. Für die Gesellschaft seien sie ein willkommenes, sympathisch wirkendes Almosensystem, das ein schlechtes Gewissen und Wohlstandsmüll entsorgt, den Blick auf die Helfer und ihr mildtätiges Tun lenkt, ohne aber die Ursachen der Armut zu beleuchten und zu bekämpfen.
Selke, Professor an der Universität Furtwangen, hat deshalb zusammen mit anderen Mitstreitern das 'Kritische Aktionsbündnis 20 Jahre Tafeln' gegründet. Mit dabei sind zum Beispiel das Armutsnetzwerk, der Deutsche Frauenrat, die Caritasverbände der Stadt Köln und der Diözese Limburg, die Diakonie Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe.
Unter dem Motto 'Armgespeist - 20 Jahre Tafeln sind genug' will das Bündnis an diesem Wochenende in Berlin unter anderem mit einer öffentliche Armenspeisung vor dem Brandenburger Tor darauf aufmerksam machen, dass einige in diesem Land 'immer reicher werden, während immer mehr Bürger auf die Abfälle der Wohlstandsgesellschaft angewiesen sind'.
Den Kritikern geht es nicht darum, die Tafeln abzuschaffen oder die ehrenamtliche Helfer für ihr Engagement zu kritisieren. Sie wollen eine neue Debatte über die Aufgaben des Sozialstaats. Der Boom der Tafeln zeige, dass Hartz IV nicht reiche, um das Existenzminimum zu decken, argumentieren sie. Das Bündnis fordert deshalb ein, wie es Selke nennt, 'beschämungsfreies Mindesteinkommen'. Er nennt die Tafeln 'schambesetzte Stressräume, in denen um kleinste Gaben konkurriert wird'. Wer dort hin müsse, sei in einer Parallelgesellschaft 'gemeinsam ausgeschlossen'.
Der Professor ist mit seiner Kritik von den Ideen des Vorsitzenden des Tafel-Bundesverbands, Gerd Häuser, eigentlich gar nicht so weit entfernt. Häuser sagte bereits 2010, die Tafel müssten 'direkt helfen, aber genauso politisch tätig werden'. Auch er ist für Mindestlöhne und höhere Hartz-IV-Sätze. Langfristig müssten sich die Tafeln 'selbst überflüssig machen'.
Selke glaubt jedoch, dass sich die Bewegung von ihren Wurzeln längst entfernt hätte. 'Sie verfolgen kein Ziel, außer dem Ziel, immer weiter zu wachsen.' Sie prangerten 'den Überfluss der Konsumgesellschaft an und leben gleichzeitig davon', kritisiert er. Auch Susanne Kahl-Passoth, Direktorin der Diakonie in Berlin, meint: 'Die Tafeln passen gut in unsere Zeit, weil sie den Staat von seiner Verantwortung entlasten und die Unternehmen damit ihr Image aufpolieren können.' Arme Menschen brauchten aber mehr als Lebensmittelspenden. Es sei zynisch, wenn Hartz-IV-Empfänger 'von den Jobcentern auf die Tafeln verwiesen werden'. Sie hält es für ein Armutszeugnis für die Hauptstadt Berlin, wenn allein dort regelmäßig 125000 Menschen den Gang zu einer Tafel antreten müssten.
Tafel-Chef Häuser spricht dagegen von einer Erfolgsgeschichte: 'Wenn es die Tafeln nicht gäbe, würden Zehntausende Tonnen einwandfreier Lebensmittel jedes Jahr sinnlos im Müll landen.' Dies sei ökologisch inakzeptabel und angesichts des Mangels Millioner Menschen 'schlicht unmoralisch'. Die Tafeln hätten überhaupt erst dazu beigetragen, Armut und die Verschwendung von Lebensmitteln in Deutschland ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Sie seien kein Ersatz für sozialstaatliche Leistungen und die Fürsorgepflicht des Staats für seine Bewohner. Sie könnten aber bei einem Teil der Betroffenen die Folgen der Armut lindern.
Häuser, einst SPD-Bundestagsabgeordneter, sagt auch ganz lapidar: 'Würden wir nichts tun, gäbe es mehr Hunger.'
Es ist eine der ganz großen Erfolgsgeschichten in den vergangenen 20 Jahren. Sie begann 1993, als die Berliner Sozialpädagogin Sabine Werth die erste Tafel in Deutschland gründete und eine einfache und charmante Idee aus den USA aufgriff: Ehrenamtliche verteilen das Überflüssige um, in dem sie übrig gebliebene Lebensmittel einsammeln und an Bedürftige weiterreichen. Doch was als 'Mahlzeit-Nothilfe' vor allem für Obdachlose gedacht war, hat sich längst zu einer modernen Armenspeisung in einem der reichsten Länder der Erde entwickelt.
Überall in der Republik expandieren die Tafeln, vor allem seit Einführung von Hartz IV. 2005 versorgten sich so noch 500000 Menschen mit Obst, Gemüse, Wurst Schokolade oder Nudeln, jetzt sind es 1,5 Millionen: Rentner und Migranten, genauso wie Kinder und Alleinerziehende, Geringverdiener und Hartz-IV-Empfänger. Inzwischen gibt es gut 900 Tafeln mit mehr als 3000 Ausgabestellen. Aber ist der 20.Geburtstag dieser sozialen Bewegung ein Grund zum Feiern? Können Politiker, spendende Handelskonzerne wie Rewe, Lidl, Aldi oder Edeka und die 50000 Helfer stolz darauf sein, dass das Essen dahinkommt, 'wo es hingehört', so der Slogan des Bundesverbandes Deutsche Tafeln?
Die Schlangen vor den Tafeln sind lang: Die Zahl der Menschen, die sich hier mit Lebensmitteln eindecken, hat sich in den letzten acht Jahren verdreifacht.
Der Soziologe Stefan Selke hat in den vergangenen drei Jahren für ein neues Buch bundesweit Tafeln, Suppenküchen, Kleiderkammern und Sozialkaufhäuser besucht und mit den Menschen geredet, die bei den Tafeln - so wie die Arbeitslosen in den Jobcentern - inzwischen 'Kunden' heißen. Er kommt zu dem Schluss: Für die Betroffenen seien die Tafeln 'eine Metapher für den eigenen sozialen Abstieg und den sozialen Ausschluss aus der Mehrheitsgesellschaft'. Für die Gesellschaft seien sie ein willkommenes, sympathisch wirkendes Almosensystem, das ein schlechtes Gewissen und Wohlstandsmüll entsorgt, den Blick auf die Helfer und ihr mildtätiges Tun lenkt, ohne aber die Ursachen der Armut zu beleuchten und zu bekämpfen.
Selke, Professor an der Universität Furtwangen, hat deshalb zusammen mit anderen Mitstreitern das 'Kritische Aktionsbündnis 20 Jahre Tafeln' gegründet. Mit dabei sind zum Beispiel das Armutsnetzwerk, der Deutsche Frauenrat, die Caritasverbände der Stadt Köln und der Diözese Limburg, die Diakonie Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe.
Unter dem Motto 'Armgespeist - 20 Jahre Tafeln sind genug' will das Bündnis an diesem Wochenende in Berlin unter anderem mit einer öffentliche Armenspeisung vor dem Brandenburger Tor darauf aufmerksam machen, dass einige in diesem Land 'immer reicher werden, während immer mehr Bürger auf die Abfälle der Wohlstandsgesellschaft angewiesen sind'.
Den Kritikern geht es nicht darum, die Tafeln abzuschaffen oder die ehrenamtliche Helfer für ihr Engagement zu kritisieren. Sie wollen eine neue Debatte über die Aufgaben des Sozialstaats. Der Boom der Tafeln zeige, dass Hartz IV nicht reiche, um das Existenzminimum zu decken, argumentieren sie. Das Bündnis fordert deshalb ein, wie es Selke nennt, 'beschämungsfreies Mindesteinkommen'. Er nennt die Tafeln 'schambesetzte Stressräume, in denen um kleinste Gaben konkurriert wird'. Wer dort hin müsse, sei in einer Parallelgesellschaft 'gemeinsam ausgeschlossen'.
Der Professor ist mit seiner Kritik von den Ideen des Vorsitzenden des Tafel-Bundesverbands, Gerd Häuser, eigentlich gar nicht so weit entfernt. Häuser sagte bereits 2010, die Tafel müssten 'direkt helfen, aber genauso politisch tätig werden'. Auch er ist für Mindestlöhne und höhere Hartz-IV-Sätze. Langfristig müssten sich die Tafeln 'selbst überflüssig machen'.
Selke glaubt jedoch, dass sich die Bewegung von ihren Wurzeln längst entfernt hätte. 'Sie verfolgen kein Ziel, außer dem Ziel, immer weiter zu wachsen.' Sie prangerten 'den Überfluss der Konsumgesellschaft an und leben gleichzeitig davon', kritisiert er. Auch Susanne Kahl-Passoth, Direktorin der Diakonie in Berlin, meint: 'Die Tafeln passen gut in unsere Zeit, weil sie den Staat von seiner Verantwortung entlasten und die Unternehmen damit ihr Image aufpolieren können.' Arme Menschen brauchten aber mehr als Lebensmittelspenden. Es sei zynisch, wenn Hartz-IV-Empfänger 'von den Jobcentern auf die Tafeln verwiesen werden'. Sie hält es für ein Armutszeugnis für die Hauptstadt Berlin, wenn allein dort regelmäßig 125000 Menschen den Gang zu einer Tafel antreten müssten.
Tafel-Chef Häuser spricht dagegen von einer Erfolgsgeschichte: 'Wenn es die Tafeln nicht gäbe, würden Zehntausende Tonnen einwandfreier Lebensmittel jedes Jahr sinnlos im Müll landen.' Dies sei ökologisch inakzeptabel und angesichts des Mangels Millioner Menschen 'schlicht unmoralisch'. Die Tafeln hätten überhaupt erst dazu beigetragen, Armut und die Verschwendung von Lebensmitteln in Deutschland ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Sie seien kein Ersatz für sozialstaatliche Leistungen und die Fürsorgepflicht des Staats für seine Bewohner. Sie könnten aber bei einem Teil der Betroffenen die Folgen der Armut lindern.
Häuser, einst SPD-Bundestagsabgeordneter, sagt auch ganz lapidar: 'Würden wir nichts tun, gäbe es mehr Hunger.'