China hängt dem Westen nicht hinterher, sondern orientiert sich an Stars, Filmen und Moden aus Asien. Ein Gespräch mit dem Jugendkulturforscher Kevin Lee über Rebellion und Generationen.
Kevin Lee leitet die Firma Youthology in Peking, die Ethnologen, Anthropologen und Soziologen beschäftigt, um die chinesischen Jugendkulturen erforschen. Die Erkenntnisse verkauft die Firma vor allem an die Privatwirtschaft, die mit dem rätselhaften neuen Markt oft nicht zurechtkommt. Das Interview fand in München statt.
SZ: Seit wann gibt es in China eine Jugendkultur?
Kevin Lee: Es gab schon länger Gegenkulturen - die Kunstbewegung von 1985, die Studentenbewegung von 1989. Aber das waren gesellschaftliche Nischen, keine Jugendkulturen im klassischen Sinne.
Kevin Lee kennt sich mit der Jugendkultur in China aus
Wie muss man sich die vorstellen?
Kulturen, in denen sich junge Leute Fragen nach ihrer eigenen Identität stellen können. Im Westen gehen die meisten in ihren frühen Teenagerjahren durch so eine Selbstfindungsphase. Aber dort gibt es auch den Platz dafür.
In der Gesellschaft?
Nein, ganz buchstäblich den Platz - Kinder können dort auf der Straße spielen, es gibt Blocks, Clubs, Orte, wo sie herumhängen können. Aber auch alles andere, was eine Jugendkultur ausmacht, gab es in China lange nicht: kulturelle und kommerzielle Angebote, Meinungs- und, Bewegungsfreiheit. Das kam alles erst mit der Politik der offenen Tür, also nach 1985. Richtige Jugendkultur gibt es in China erst seit den späten Neunzigerjahren, wir reden also von gerade mal zwei Generationen.
Im Westen waren die Leitmotive der Jugendkultur Identität und Rebellion. Welche sind es in China?
Rebellion spielt keine Rolle. Man versucht natürlich immer, die Entwicklungen in China mit der Geschichte der westlichen Länder zu vergleichen. Wir werden immer wieder gefragt, ob in China jetzt eine ähnliche Aufbruchstimmung herrscht wie im Amerika der Fünfzigerjahre. Für westliche Firmen wäre das natürlich einfach; wenn China nur ein paar Jahrzehnte hinterher wäre, könnte man alles das noch einmal machen, was im Westen damals Erfolg hatte. Aber so funktioniert das nicht. China durchläuft zwar eine ähnliche Wachstumsphase, aber der Kontext ist einzigartig. Auf der einen Seite viel globaler, auf der anderen Seite aber auch regional viel komplexer als in Amerika und Europa damals.
Wie steht es denn mit dem Generationenkonflikt?
Auch den findet man in China kaum. Es gibt keine vorangegangenen Generationen, gegen die die Jugend rebellieren könnte. Die älteren Generationen stammen aus schwierigen Zeiten. Die waren vor allem damit beschäftigt zu überleben und konnten ihren Kindern nur wenig an Erfahrungen mitgeben, mit denen sie heute etwas anfangen könnten. In der chinesischen Jugendkultur geht es viel mehr ums Ausprobieren. Und da wiederum geht es vor allem um Identität.
Ist das nicht auch eine Form der Rebellion in einem Land, in dem der Staat über Jahrzehnte eine kollektive Identität verordnet hat?
Aber diese Zwangsidentitäten haben schon lange keine Gültigkeit mehr. Das war spätestens 1989 vorbei. In der chinesischen Jugendkultur spielen individuelle Identitäten eine viel größere Rolle, und die wiederum setzen sich aus vielen Facetten zusammen. Die Generationenfrage spielt dabei eher eine nostalgische Rolle, nicht so sehr als Motor eines Konflikts.
Wie manifestiert sich das?
Vor ungefähr vier, fünf Jahren gab es plötzlich die erste Retrowelle. Mit einem Mal war alles aus den Achtzigerjahren wieder in Mode - Turnschuhe, Schuluniformen, Zeichentrickfiguren, sogar japanische
Comicfiguren und Produkte aus dem Westen. Das hatte damit zu tun, dass wir in der chinesischen Jugendkultur von zwei Generationen sprechen. Von den Post-Achtzigern und von den Post-Neunzigern, die eben jeweils in den Achtziger- oder Neunzigerjahren geboren wurden. Das waren die ersten Generationen, die mit der Freiheit aufgewachsen sind, sich zu fragen, wer sie eigentlich sind. Und die sich damit vom Kontext der Vergangenheit lösen konnten. Die Post-Achtziger fanden sich dann in dieser Retrowelle die Grundlagen ihrer Identität wieder.
Und die Post-Neunziger?
Die haben ihre eigene Retrowelle. Das Interessante ist aber, dass sie sich weniger über die Artefakte einer Generationen-Identität definieren, sondern über regionale Artefakte.
Was heißt das konkret?
Sie definieren sich als Peking-Post-Neunziger, Shanghai-Post-Neunziger oder Xi"an-Post-Neunziger. Und sie beziehen sich dabei auf irgendwelche Getränke oder Spiele, die man früher eben nur in diesen Städten oder Gegenden fand. Da entwickelt sich gerade ein Hyperregionalismus, der sehr viel Spaß macht, weil er unzählige neue Zentren eigenständiger Subkulturen schafft.
Warum haben Sie Ihr Büro in Peking aufgeschlagen und nicht in Shanghai?
Shanghais Jugendkultur ist eher eine Konsumkultur, sehr pragmatisch, sie orientiert sich eher nach Westen. Wie eigentlich die ganze Stadt. Peking ist anders. Viel innovativer. In Peking gibt es die meisten Universitäten, die meisten Technologiefirmen, die Silicon Valleys von China. Aber eben auch die wichtigsten Kulturinstitute. Fast alle Schriftsteller, Künstler und Musiker gehen nach Peking. Die Kultur ist eher eine Bohème-Kultur. Deswegen entwickelt sich dort mehr.
Welche Rolle spielen denn in China internationale Kultur und Produkte?
Die gab es in China ja schon seit den Achtzigerjahren. Aber gerade für die jüngere Generation spielen die amerikanischen und westlichen Einflüsse eigentlich keine große Rolle. Amerikanische Produkte haben zum Beispiel kein besonders hohes Prestige. Oder nehmen Sie einen Star wie Lady Gaga. Die ist durchaus eine Sensation, wird von vielen geliebt. Aber niemand wäre gern wie Lady Gaga, niemand sieht sie als Idol. Das ist alles viel zu fremd. Da gibt es nichts, was sich auf den eigenen Kontext bezieht. Deswegen kommen die Einflüsse aus dem Ausland eher aus asiatischen Kulturen - aus Japan, Korea, Taiwan, Vietnam.
Wie sieht es denn mit amerikanischen Filmen und Fernsehserien aus, die ja weltweit großen Einfluss haben?
Auch da haben Filme und Serien aus anderen asiatischen Ländern einen größeren Einfluss. Die amerikanischen Geschichten sind ja meist recht einfach - es gibt einen Helden, einen Feind und zum Schluss gewinnt der Held. Das ist im Vergleich zu asiatischen Erzählformen viel zu simpel. Chinesische Jugendliche mögen es ein bisschen komplizierter, Erzählstränge, die sich miteinander verweben, die auf Gemeinschaften und Netzwerken aufgebaut sind. So wie die Geschichten in den Filmen von Ang Lee. Oder eben in Filmen, die in China, Vietnam oder Taiwan produziert wurden.
Hat das etwas mit chinesischen Erzähltraditionen zu tun?
Im akademischen Sinne bestimmt. Aber es beginnt schon mit der Sprache, und damit, wie ihr Hirn Dinge verarbeitet. Das ist fest in der asiatischen Kultur verankert. Wir denken in mehreren kontextuellen Ebenen. Deswegen muss ein Drama auch komplex aufgebaut sein.
Welche Medien spielen denn die größte Rolle für die Jugend?
Ursprünglich war es Musik, doch das hat sich eher in Richtung Sport entwickelt. Digitale Medien spielen eine enorme Rolle. Und die Kombination aus beidem: Die Jugendlichen gehen snow- oder skateboarden, feiern danach und tauschen dann Videos aus. Es gibt außerdem eine große Do-it-yourself-Mode. Aber man kann das nicht verallgemeinern. Das ist von Gruppe zu Gruppe unterschiedlich. China ist so fragmentiert, und die regionalen Unterschiede sind so stark, dass diese Nuancen eine große Rolle spielen.
Welche Rolle haben Familientraditionen in der chinesischen Jugendkultur?
Da gibt es eine interessante Spannung, die gerade in der Underground-Musik, in Gedichten und Romanen verarbeitet wird. Prinzipiell wollen junge Leute ihre Eltern durchaus respektieren. Sie wollen, dass ihre Eltern stolz auf sie sind. Allerdings sind ihre Eltern noch in ganz anderen Wertesystemen verwurzelt. Und gerade da unterscheiden sich die Post-Achtziger stark von den Post-Neunzigern.
Welchen Unterschied gibt es da?
Die Eltern der Post-Achtziger kamen aus viel härteren Verhältnissen. Als die chinesische Wirtschaft Fahrt aufnahm, also in den frühen Neunzigerjahren, waren sie meist schon in ihren Dreißigern oder Vierzigern, für viele war es da schon zu spät, noch richtig Karriere zu machen. Für sie waren die Jobs bei der Regierung immer noch der wichtigste Weg zum Erfolg. Deswegen waren ihnen gute Noten so wichtig, ein guter akademischer Abschluss, vielleicht sogar ein Job im Ausland, oder eben in der Regierung.
Die Post-Neunziger-Eltern sind finanziell meist besser abgesichert. Viele sind Unternehmer und schätzen das Wertesystem der Marktwirtschaft. Deswegen haben sie ihre Kinder oft viel freier erzogen, gaben ihnen mehr Raum, weil der Karrieredruck nicht mehr so groß war, und vor allem, weil die staatlichen Unternehmen und Institutionen für die berufliche Laufbahn nicht mehr so wichtig waren. Sie hatten ja auch die Mittel, um ihre Kinder zu unterstützen.
Gibt es da nicht einen Unterschied zwischen der Jugend auf dem Land, in den Provinzen und in den Städten?
Einen massiven Unterschied sogar. Wenn ich von Jugendkultur spreche, dann rede ich in erster Linie von der Großstadtjugend, die in den so genannten erstrangigen Städten aufgewachsen sind. Sobald sie in die zweit-und drittrangigen Städte gehen, ist alles ganz anders. Und mit zweit- und drittrangig meine ich immer noch Städte, die um ein Vielfaches größer sind als jede Stadt in Europa. Das sind vollkommen andere Welten. Die haben ihre eigenen Subkulturen.
Was sind das für Subkulturen?
Das Interessante in den zweitrangigen Städten und in der Provinz ist, dass wir es da nun schon mit der zweiten Generation von Kindern zu tun haben, deren Eltern ihre Heimat verlassen mussten, um Arbeit zu finden. Die haben ihre Eltern nur einmal im Jahr gesehen. Und diese Kinder fragen sich nun, ob es das alles wert ist. Will ich meine Kinder verlassen, die dann bei den Großeltern aufwachsen, nur um mehr Geld zu verdienen? Vor allem, nachdem das nicht mehr unbedingt der Fall ist, weil die Lebenshaltungskosten in den Städten viel schneller angestiegen sind als die Löhne dort. Deswegen gehen auch viele junge Leute, die vielleicht schon in die großen Städte gezogen sind, wieder zurück in die Provinz. Die entwickelt sich deswegen gerade auch sehr rasch, weil diese umgekehrte Wanderung viele gut ausgebildete junge Leute zurückbringt. So wird das Leben dort bequemer, es gibt mehr Arbeitsmöglichkeiten.
Und welche Subkulturen entwickeln sich da?
Da entwickeln sich eigene Dialekte, eine eigene Musik und Verhaltensmuster. Die Musik klingt ganz furchtbar, die ist wirklich schlecht. Aber die Provinzjugend steht da drauf. Das sind Sounds und Geschichten, die sie mag und versteht, nicht zuletzt, weil sich die Kultur in den erstrangigen Städten so schnell entwickelt hat, dass sie mit der Realität der Provinzjugend nichts mehr zu tun hat. Viele Dinge, über die sich die kreative Klasse in den Städten Gedanken macht, haben in der Provinz überhaupt keine Bedeutung.
Mit was beschäftigt sich denn die Großstadtkultur?
Im Moment ist die Verwischung der Geschlechtergrenzen sehr interessant. Das sieht man inzwischen sogar in den Talentshows im Fernsehen. Vor vier, fünf Jahren hat mal ein Tomboy-Mädchen gewonnen, das war noch richtig kontrovers. Inzwischen gibt es unzählige Boybands, die sehr feminin sind. Es gibt da auch eine ganze Subkultur von älteren Frauen, die auf feminine Knaben stehen. Die Schauspielerin Fan Bingbing, die ein Superstar ist, zieht sich dagegen oft sehr männlich an.
Hat das auch eskapistische Elemente?
Die stärkste Form des Eskapismus in China ist immer noch, ins Ausland zu gehen. Das ist nicht nur die grassierende Kapitalflucht. Das ist auch ein großer Braindrain der kreativen Klasse. Bleibt nur zu hoffen, dass sich China so schnell entwickelt, dass wir diese kreative Klasse halten können. Erst in den letzten 18 Monaten gibt es eine Rückkehrbewegung aus dem Ausland. Viele sind sehr jung emigriert und sehen jetzt wegen der Wirtschaftskrise im Westen in China mehr Möglichkeiten. Das wiederum ist ein ganz neuer kultureller Einfluss, weil diese Auslands-Chinesen ganz andere Werte und kulturelle Gewohnheiten nach China bringen. Wir werden sehen, wie sich das entwickelt.
Kevin Lee leitet die Firma Youthology in Peking, die Ethnologen, Anthropologen und Soziologen beschäftigt, um die chinesischen Jugendkulturen erforschen. Die Erkenntnisse verkauft die Firma vor allem an die Privatwirtschaft, die mit dem rätselhaften neuen Markt oft nicht zurechtkommt. Das Interview fand in München statt.
SZ: Seit wann gibt es in China eine Jugendkultur?
Kevin Lee: Es gab schon länger Gegenkulturen - die Kunstbewegung von 1985, die Studentenbewegung von 1989. Aber das waren gesellschaftliche Nischen, keine Jugendkulturen im klassischen Sinne.
Kevin Lee kennt sich mit der Jugendkultur in China aus
Wie muss man sich die vorstellen?
Kulturen, in denen sich junge Leute Fragen nach ihrer eigenen Identität stellen können. Im Westen gehen die meisten in ihren frühen Teenagerjahren durch so eine Selbstfindungsphase. Aber dort gibt es auch den Platz dafür.
In der Gesellschaft?
Nein, ganz buchstäblich den Platz - Kinder können dort auf der Straße spielen, es gibt Blocks, Clubs, Orte, wo sie herumhängen können. Aber auch alles andere, was eine Jugendkultur ausmacht, gab es in China lange nicht: kulturelle und kommerzielle Angebote, Meinungs- und, Bewegungsfreiheit. Das kam alles erst mit der Politik der offenen Tür, also nach 1985. Richtige Jugendkultur gibt es in China erst seit den späten Neunzigerjahren, wir reden also von gerade mal zwei Generationen.
Im Westen waren die Leitmotive der Jugendkultur Identität und Rebellion. Welche sind es in China?
Rebellion spielt keine Rolle. Man versucht natürlich immer, die Entwicklungen in China mit der Geschichte der westlichen Länder zu vergleichen. Wir werden immer wieder gefragt, ob in China jetzt eine ähnliche Aufbruchstimmung herrscht wie im Amerika der Fünfzigerjahre. Für westliche Firmen wäre das natürlich einfach; wenn China nur ein paar Jahrzehnte hinterher wäre, könnte man alles das noch einmal machen, was im Westen damals Erfolg hatte. Aber so funktioniert das nicht. China durchläuft zwar eine ähnliche Wachstumsphase, aber der Kontext ist einzigartig. Auf der einen Seite viel globaler, auf der anderen Seite aber auch regional viel komplexer als in Amerika und Europa damals.
Wie steht es denn mit dem Generationenkonflikt?
Auch den findet man in China kaum. Es gibt keine vorangegangenen Generationen, gegen die die Jugend rebellieren könnte. Die älteren Generationen stammen aus schwierigen Zeiten. Die waren vor allem damit beschäftigt zu überleben und konnten ihren Kindern nur wenig an Erfahrungen mitgeben, mit denen sie heute etwas anfangen könnten. In der chinesischen Jugendkultur geht es viel mehr ums Ausprobieren. Und da wiederum geht es vor allem um Identität.
Ist das nicht auch eine Form der Rebellion in einem Land, in dem der Staat über Jahrzehnte eine kollektive Identität verordnet hat?
Aber diese Zwangsidentitäten haben schon lange keine Gültigkeit mehr. Das war spätestens 1989 vorbei. In der chinesischen Jugendkultur spielen individuelle Identitäten eine viel größere Rolle, und die wiederum setzen sich aus vielen Facetten zusammen. Die Generationenfrage spielt dabei eher eine nostalgische Rolle, nicht so sehr als Motor eines Konflikts.
Wie manifestiert sich das?
Vor ungefähr vier, fünf Jahren gab es plötzlich die erste Retrowelle. Mit einem Mal war alles aus den Achtzigerjahren wieder in Mode - Turnschuhe, Schuluniformen, Zeichentrickfiguren, sogar japanische
Comicfiguren und Produkte aus dem Westen. Das hatte damit zu tun, dass wir in der chinesischen Jugendkultur von zwei Generationen sprechen. Von den Post-Achtzigern und von den Post-Neunzigern, die eben jeweils in den Achtziger- oder Neunzigerjahren geboren wurden. Das waren die ersten Generationen, die mit der Freiheit aufgewachsen sind, sich zu fragen, wer sie eigentlich sind. Und die sich damit vom Kontext der Vergangenheit lösen konnten. Die Post-Achtziger fanden sich dann in dieser Retrowelle die Grundlagen ihrer Identität wieder.
Und die Post-Neunziger?
Die haben ihre eigene Retrowelle. Das Interessante ist aber, dass sie sich weniger über die Artefakte einer Generationen-Identität definieren, sondern über regionale Artefakte.
Was heißt das konkret?
Sie definieren sich als Peking-Post-Neunziger, Shanghai-Post-Neunziger oder Xi"an-Post-Neunziger. Und sie beziehen sich dabei auf irgendwelche Getränke oder Spiele, die man früher eben nur in diesen Städten oder Gegenden fand. Da entwickelt sich gerade ein Hyperregionalismus, der sehr viel Spaß macht, weil er unzählige neue Zentren eigenständiger Subkulturen schafft.
Warum haben Sie Ihr Büro in Peking aufgeschlagen und nicht in Shanghai?
Shanghais Jugendkultur ist eher eine Konsumkultur, sehr pragmatisch, sie orientiert sich eher nach Westen. Wie eigentlich die ganze Stadt. Peking ist anders. Viel innovativer. In Peking gibt es die meisten Universitäten, die meisten Technologiefirmen, die Silicon Valleys von China. Aber eben auch die wichtigsten Kulturinstitute. Fast alle Schriftsteller, Künstler und Musiker gehen nach Peking. Die Kultur ist eher eine Bohème-Kultur. Deswegen entwickelt sich dort mehr.
Welche Rolle spielen denn in China internationale Kultur und Produkte?
Die gab es in China ja schon seit den Achtzigerjahren. Aber gerade für die jüngere Generation spielen die amerikanischen und westlichen Einflüsse eigentlich keine große Rolle. Amerikanische Produkte haben zum Beispiel kein besonders hohes Prestige. Oder nehmen Sie einen Star wie Lady Gaga. Die ist durchaus eine Sensation, wird von vielen geliebt. Aber niemand wäre gern wie Lady Gaga, niemand sieht sie als Idol. Das ist alles viel zu fremd. Da gibt es nichts, was sich auf den eigenen Kontext bezieht. Deswegen kommen die Einflüsse aus dem Ausland eher aus asiatischen Kulturen - aus Japan, Korea, Taiwan, Vietnam.
Wie sieht es denn mit amerikanischen Filmen und Fernsehserien aus, die ja weltweit großen Einfluss haben?
Auch da haben Filme und Serien aus anderen asiatischen Ländern einen größeren Einfluss. Die amerikanischen Geschichten sind ja meist recht einfach - es gibt einen Helden, einen Feind und zum Schluss gewinnt der Held. Das ist im Vergleich zu asiatischen Erzählformen viel zu simpel. Chinesische Jugendliche mögen es ein bisschen komplizierter, Erzählstränge, die sich miteinander verweben, die auf Gemeinschaften und Netzwerken aufgebaut sind. So wie die Geschichten in den Filmen von Ang Lee. Oder eben in Filmen, die in China, Vietnam oder Taiwan produziert wurden.
Hat das etwas mit chinesischen Erzähltraditionen zu tun?
Im akademischen Sinne bestimmt. Aber es beginnt schon mit der Sprache, und damit, wie ihr Hirn Dinge verarbeitet. Das ist fest in der asiatischen Kultur verankert. Wir denken in mehreren kontextuellen Ebenen. Deswegen muss ein Drama auch komplex aufgebaut sein.
Welche Medien spielen denn die größte Rolle für die Jugend?
Ursprünglich war es Musik, doch das hat sich eher in Richtung Sport entwickelt. Digitale Medien spielen eine enorme Rolle. Und die Kombination aus beidem: Die Jugendlichen gehen snow- oder skateboarden, feiern danach und tauschen dann Videos aus. Es gibt außerdem eine große Do-it-yourself-Mode. Aber man kann das nicht verallgemeinern. Das ist von Gruppe zu Gruppe unterschiedlich. China ist so fragmentiert, und die regionalen Unterschiede sind so stark, dass diese Nuancen eine große Rolle spielen.
Welche Rolle haben Familientraditionen in der chinesischen Jugendkultur?
Da gibt es eine interessante Spannung, die gerade in der Underground-Musik, in Gedichten und Romanen verarbeitet wird. Prinzipiell wollen junge Leute ihre Eltern durchaus respektieren. Sie wollen, dass ihre Eltern stolz auf sie sind. Allerdings sind ihre Eltern noch in ganz anderen Wertesystemen verwurzelt. Und gerade da unterscheiden sich die Post-Achtziger stark von den Post-Neunzigern.
Welchen Unterschied gibt es da?
Die Eltern der Post-Achtziger kamen aus viel härteren Verhältnissen. Als die chinesische Wirtschaft Fahrt aufnahm, also in den frühen Neunzigerjahren, waren sie meist schon in ihren Dreißigern oder Vierzigern, für viele war es da schon zu spät, noch richtig Karriere zu machen. Für sie waren die Jobs bei der Regierung immer noch der wichtigste Weg zum Erfolg. Deswegen waren ihnen gute Noten so wichtig, ein guter akademischer Abschluss, vielleicht sogar ein Job im Ausland, oder eben in der Regierung.
Die Post-Neunziger-Eltern sind finanziell meist besser abgesichert. Viele sind Unternehmer und schätzen das Wertesystem der Marktwirtschaft. Deswegen haben sie ihre Kinder oft viel freier erzogen, gaben ihnen mehr Raum, weil der Karrieredruck nicht mehr so groß war, und vor allem, weil die staatlichen Unternehmen und Institutionen für die berufliche Laufbahn nicht mehr so wichtig waren. Sie hatten ja auch die Mittel, um ihre Kinder zu unterstützen.
Gibt es da nicht einen Unterschied zwischen der Jugend auf dem Land, in den Provinzen und in den Städten?
Einen massiven Unterschied sogar. Wenn ich von Jugendkultur spreche, dann rede ich in erster Linie von der Großstadtjugend, die in den so genannten erstrangigen Städten aufgewachsen sind. Sobald sie in die zweit-und drittrangigen Städte gehen, ist alles ganz anders. Und mit zweit- und drittrangig meine ich immer noch Städte, die um ein Vielfaches größer sind als jede Stadt in Europa. Das sind vollkommen andere Welten. Die haben ihre eigenen Subkulturen.
Was sind das für Subkulturen?
Das Interessante in den zweitrangigen Städten und in der Provinz ist, dass wir es da nun schon mit der zweiten Generation von Kindern zu tun haben, deren Eltern ihre Heimat verlassen mussten, um Arbeit zu finden. Die haben ihre Eltern nur einmal im Jahr gesehen. Und diese Kinder fragen sich nun, ob es das alles wert ist. Will ich meine Kinder verlassen, die dann bei den Großeltern aufwachsen, nur um mehr Geld zu verdienen? Vor allem, nachdem das nicht mehr unbedingt der Fall ist, weil die Lebenshaltungskosten in den Städten viel schneller angestiegen sind als die Löhne dort. Deswegen gehen auch viele junge Leute, die vielleicht schon in die großen Städte gezogen sind, wieder zurück in die Provinz. Die entwickelt sich deswegen gerade auch sehr rasch, weil diese umgekehrte Wanderung viele gut ausgebildete junge Leute zurückbringt. So wird das Leben dort bequemer, es gibt mehr Arbeitsmöglichkeiten.
Und welche Subkulturen entwickeln sich da?
Da entwickeln sich eigene Dialekte, eine eigene Musik und Verhaltensmuster. Die Musik klingt ganz furchtbar, die ist wirklich schlecht. Aber die Provinzjugend steht da drauf. Das sind Sounds und Geschichten, die sie mag und versteht, nicht zuletzt, weil sich die Kultur in den erstrangigen Städten so schnell entwickelt hat, dass sie mit der Realität der Provinzjugend nichts mehr zu tun hat. Viele Dinge, über die sich die kreative Klasse in den Städten Gedanken macht, haben in der Provinz überhaupt keine Bedeutung.
Mit was beschäftigt sich denn die Großstadtkultur?
Im Moment ist die Verwischung der Geschlechtergrenzen sehr interessant. Das sieht man inzwischen sogar in den Talentshows im Fernsehen. Vor vier, fünf Jahren hat mal ein Tomboy-Mädchen gewonnen, das war noch richtig kontrovers. Inzwischen gibt es unzählige Boybands, die sehr feminin sind. Es gibt da auch eine ganze Subkultur von älteren Frauen, die auf feminine Knaben stehen. Die Schauspielerin Fan Bingbing, die ein Superstar ist, zieht sich dagegen oft sehr männlich an.
Hat das auch eskapistische Elemente?
Die stärkste Form des Eskapismus in China ist immer noch, ins Ausland zu gehen. Das ist nicht nur die grassierende Kapitalflucht. Das ist auch ein großer Braindrain der kreativen Klasse. Bleibt nur zu hoffen, dass sich China so schnell entwickelt, dass wir diese kreative Klasse halten können. Erst in den letzten 18 Monaten gibt es eine Rückkehrbewegung aus dem Ausland. Viele sind sehr jung emigriert und sehen jetzt wegen der Wirtschaftskrise im Westen in China mehr Möglichkeiten. Das wiederum ist ein ganz neuer kultureller Einfluss, weil diese Auslands-Chinesen ganz andere Werte und kulturelle Gewohnheiten nach China bringen. Wir werden sehen, wie sich das entwickelt.