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Wunderbare Freiheit des Blicks

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Düsseldorf zeigt eine Werkschau des Fotokünstlers Wolfgang Tillmans


Dass der Blick so weit gehen kann. Der Himmel ist kein blaues Zelt, sondern zeigt, dass er die längste Entfernung ist, die sich dem Auge öffnet. Wo hat Wolfgang Tillmans dieses Bild aufgenommen? Hat er die Kamera einfach nach oben gerichtet, oder hat er - von einem Gipfel? aus einem Flugzeugfenster? - 'Lux' (2009) fotografiert? Die Wolken verraten nicht, aus welcher Richtung sie hier angeschaut werden. Aber sie zeigen dem Auge, wie tief es den Himmel durchmisst, indem sie dem unendlichen Verlauf von dunklem Graublau etwas entgegen setzen. Weiß, Gelb, Rosa; es ist ein ruhiger Himmel, in dem die Wolken kurz stillzustehen scheinen. Dass man vor diesem Bild an schnellen Wechsel denkt, an Wind, Wetter und helles Lichtzucken, liegt daran, dass es nicht allein auf der Wand ist. Dass direkt daneben, darüber, darunter, andere Fotografien gehängt wurden. Sie zeigen Faxgeräte. Von oben aufgenommen, mit Blick auf die gläserne Auflagefläche. Auch hier bricht Licht durch, hell und gleißend zwischen Metallrahmen, Kabeln, Schienen.



Wolfgang Tillmans in seiner Ausstellung in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf.

Man hat gelernt, diese Wände von Wolfgang Tillmans so beiläufig nach Motiven zu scannen, wie die Magazin-Strecken, die er in den Achtzigern und frühen Neunzigern als Fotograf belieferte. In dieser Hinsicht war er stilbildend. Man hat das Gefühl, er sei gerade noch rechtzeitig erschienen, bevor Internet, Smartphone, Blogs die Jugend in ein Kaleidoskop von schnellen Fotoschüssen zersplitterten. Zumindest hat er darauf hingewiesen, dass man seine Frisuren, Tattoos, Piercings, Kleider auch so dokumentieren kann, dass der Körper nicht wie zugerichtet zurück gelassen wird, dass Nacktheit und Sexualität auch gelöst, entspannt und unternehmungslustig aussehen können.

Vor seiner Kunst wollen viele immer noch weiter blättern, als wende man die Seiten im Journal eines Lebens: sieht, wie aus den jungen Gesichtern ältere werden, die kleinen Stillleben auf der Fensterbank, Raver, Reise-Erinnerungen. Sogar Abstraktionen werden einfach mitgeschaut. Dass der 1968 im Remscheid geborene Wolfgang Tillmans schon im Jahr 2000 mit dem Turner-Preis ausgezeichnet wurde, als erster Deutscher, fiel nicht weiter ins Gewicht, schien, dieses Werk künstlerisch nicht zu beschweren. In Deutschland hatte man damals gerade den vom Erfolg der Becher-Klasse ausgelösten Fotografie-Boom zu verarbeiten. Fotografie, so schien es, war vor allem da Kunst, wo perfekt geschulte Handwerker in geordneten Serien große Rahmen füllten. Dagegen wirkte das Oeuvre des nach London ausgewanderten Tillmans wie für den Moment auf die Wand geheftet: Ungerahmt, an Klammern an Nadeln gepinnt. So wie Jugendliche ihre Zimmer mit Postern, Notizen, Fotos tapezieren, wie man in einer Nachrichtenagentur das Aktuelle sichtet - alles mehr Vorschlag als Festlegung oder gar ewige Bewertung. Doch spätestens jetzt, mit der großen Werkschau, die das K21 Wolfgang Tillmans im Düsseldorfer Ständehaus einrichtet, muss es mit dieser Bescheidenheit vorbei sein: Wolfgang Tillmans gibt dem Blick seine Freiheit zurück.

Wolfgang Tillmans schafft Raum für alles Sehenswerte. Ob das die roten Erdbeeren sind, die Kate Moss" Gesicht rahmten - oder das gleiche Rot, das 'Silvio (U-Bahn)' (1992) tränkte, die Unterführung, in der ein 27jähriger von Nazis ermordet wurde, wie ein handgeschriebenes Plakat über einem Berg von Blumen und Kerzen klar macht. Mittendrin die Bahnhofsuhr, ein Vanitas-Bild.

Die Installation 'The Soldiers - The Nineties' besteht aus einer ganzen Wand aus vergrößerten Zeitungsausrissen: Soldaten auf Wache, auf Panzern, mit Waffe, mit Barett, junge Körper, eingepasst in Khaki und Oliv, im Schwarzweiß des Zeitungsdrucks. Zwischen Schlagzeilen, neben Anzeigen - das Auge sieht ja auch über den Rand hinaus, den der Grafiker um das Agenturbild legt. Im Ständehaus hängen die Motive wie verweht, wirken noch geisterhafter, während der Kontrast zwischen den vergangenen Kriegen und den immer jungen, kampfgestählten Männerkörpern noch bizarrer wirkt.

Es ist die Stärke solcher Collagen, nicht zu argumentieren. Nicht nachzulegen, in weiteren Serien oder Reihen. So dass noch etwas von dem Erstaunen spürbar ist, dass man all das auf einen Nenner bringen kann. Die Fotografie, das ist das, was unterhalb des Bruchstrichs ist, durch den Wolfgang Tillmans die Welt dividiert: Das Rosa, in dem sich die Sonne zeigt, wenn man sie durch das alte Schülerteleskop fotografiert, während die Venus als schwarzer Fleck über sie kriecht, ist das gleiche Rosa, in dem die fett aufplatzenden Baumpilze leuchten, die Tillmans zwischen das planetarische Spektakel gehängt hat. Dass der Künstler nie viel an seinen Aufnahmen dreht, das erzählt er eher beiläufig. Nicht einmal am Ausschnitt, geschweige denn an den Farben oder Motiven. Er war nie ein Alchemist der Dunkelkammer - was seiner Kunst das Wunder erhält. Goldfunkelnd zeigt sich London bei Nacht, wahrscheinlich aus einem Flugzeugfenster fotografiert. Inmitten einer ganzen Wand voller Stadt-Ansichten - breite Flussläufe, Hochhäuser, Flachdächer in staubigem Kalkgrau, von Wiesengrün unterbrochene Siedlungen. Tokio ist Grün. Eine Aufnahme hat einen leichten Gelbstich, drei Straßenzüge sind in klaren, kalten Farben abgezogen. Jede Aufnahme darf weiterhin für sich stehen - vom Moment, indem Wolfgang Tillmans den Auslöser drückte, über die Entscheidung für Format oder Fotopapier. Hier soll nichts zugerichtet werden für einen Vergleich, Tillmans dokumentiert nicht die Welt, sondern seinen eigenen Blick darauf. Sein erstes Foto - er hat es für diese Werkschau erstmals groß abgezogen - ist eine fast abstrakte Komposition aus Pink, Satinschwarz und Sand. Der Junge in Turnhose und T-Shirt, der im Jahr 1986 die Kamera für 'Lacanau (self)' einfach am eigenen Körper hinunter schauen lässt, hat das Bild für die Ausstellung auf den Kopf gestellt. Doch wer es lange anschaut, dem wird die Figuration nicht entgehen, dass Standbein und Spielbein sich als Pose abzeichnen, als ganz klassischer Kontrapost. Und beides hat Platz im Bild.

Ihm gerinnt die Fotografie selbst zur Figur-Grund-Konstellation. Das Motiv sitzt auf dem Papier wie ein Vexierbild. Was schauen wir an? Fenster, Spiegel? Papier? Spätestens dann, wenn der wie von selbst laufende Vorgang der Bilderzeugung ins Stocken kommt, bemerkt man: Es ja nur Papier. Wolfgang Tillmans hat die Bögen aufgehoben, die, falsch eingefärbt, monochrom, zerknickt oder zerrissen aus dem Drucker kommen. Ein ganzer Saal voller Fehldrucke, die daran erinnern, was man sieht, wenn man auf ein Foto schaut. Auch woraus diese Kunst besteht: Denn natürlich bevorzugt sein Blick bestimmte Töne, da ist ein Fotograf nicht anders, als jeder andere Bildermacher. Auf der Palette von Tillmans findet man ein Rot zwischen Tomate und Erdbeere, sattes Goldgelb, Türkis, helle, Grau- und Cremetöne. Und Grün, es reicht vom hellen Laubton bis zum Tarnoliv der schweren Militärhosen.

Der Blick, den dieses Werk auf sich selbst wirft, ist überwältigend - es ist offensichtlich, dass Wolfgang Tillmans der Düsseldorfer Station dieser Rückschau besondere Aufmerksamkeit gewidmet hat - wobei er zu grundsätzlichen, frappierenden Aussagen über sein Medium findet.

Auf dem Umschlag des Begleitbuches hat Tillmans alle Bildtitel als fortlaufenden Text gedruckt, unmöglich, die Begriffe auf einmal in den Blick zu nehmen. Der amerikanische Poet Kenneth Koch hat einmal geschrieben, dass die Zeilen so heranbrausen, wie Züge, dass sie einander verdecken, dass man immer nur eine sehen kann. Zu lange hat sich die Fotografie, die, viel zu spät, erstaunt fast, in den Stand der Kunst erhoben wurde, sich erklärt; hat eine Aussage an die andere gereiht, Motiv auf Motiv folgen lassen - statt auszuspielen, was sie ist: unendlich weit aufgespannte Aufmerksamkeit. CATRIN LORCH

Wolfgang Tillmans im K21 Ständehaus in Düsseldorf bis zum 7. Juli. Jeder Besucher erhält einen Katalog, ein Text von Tom Holert kann auf der Seite www.kunstsammlung.de geladen werden.

Keifende Schwestern

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CSU-Chef Horst Seehofer ist gegen die Gleichstellung der Homo-Ehe. CDU und CSU sind grammatikalisch auch gleichgeschlechtlich, ihr Verhältnis sehen sie aber mehr wie das zweier Schwestern. Streit gibt es trotzdem. Ein Kommentar


Die CDU und die CSU sind grammatikalisch gleichgeschlechtlich, haben sich aber schon vor vielen Jahren darauf verständigt, keine Homo-Ehe zu führen, sondern ihr Verhältnis dem zweier Schwestern gleichzustellen. Nicht verheiratet zu sein schützt die beiden Parteien allerdings nicht vor heftigem Streit.



Wenn es nach Horst Seehofer geht, gibt es keine Gleichstellung der Homo-Ehe.

Der CSU-Chef Horst Seehofer hat nun erklärt, dass es mit ihm 2013 keine Gleichstellung bei gar nix mehr geben wird. Normalerweise würde man jetzt sagen, naja, der Seehofer halt, mal schauen, was morgen gilt. Aber weil nicht nur im Bund gewählt wird, sondern vor allem in Bayern, darf man annehmen, dass der Ministerpräsident nicht mehr ins Wanken gerät. In der CDU hätten es viele lieber genau andersrum gemacht und das schwierige Thema gerade wegen der Wahlen rechtzeitig abgeräumt. Jetzt muss man sich irgendwie durchwursteln und Angela Merkel wird wohl ein entschiedenes Sowohl-als-auch dekretieren, das sie noch der FDP erklären muss, die eine volle Gleichstellung so schnell wie möglich will.

Die Liberalen bilden mit CDU und CSU eine Koalition. Wenn es da schlecht läuft, sagen Politiker immer, es sei keine Liebesheirat, sondern eine Zweckehe. Selbst das erscheint einem für diese Dreiecksbeziehung noch als problematisch, nicht nur familienrechtlich. Auch weil es in der Koalition schon lange sehr schlecht läuft, passt darauf am besten ein ganz anderer Begriff: g"schlamperte Verhältnisse.

Dabei sein ist alles

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Von Tauschplattformen für Kleidung und Kinderspielzeug, Autos und Akkuschrauber profitieren vor allem diejenigen, die sie nutzen: Wer etwas ausleiht, der spart. Wer etwas verleiht, verdient sich ein paar Euro dazu.


Unabhängigkeit ist ihnen wichtiger als Besitz. Deshalb leihen sie ihre Filme für ein paar Stunden, ihre Klamotten für eine Saison aus dem Netz. Deshalb setzen sie auf Carsharing statt aufs eigene Auto. Deshalb überlassen sie ihre Wohnung auch mal einem Unbekannten, wenn sie selbst im Urlaub sind.

Diese Menschen, meist unter 40, meist aus der Stadt, meist mit akademischem Abschluss, wollen zwar alles haben, aber längst nicht alles kaufen. Für viele Hersteller und Händler sind sie deshalb ein Ärgernis. Für diejenigen aber, die den Wandel zu nutzen verstehen, sind sie eine große Hoffnung.



Das Motto der CeBIT ist in diesem Jahr "Shareconomy". Im Mittelpunkt stehen neue Cloud-Dienste und mobile Anwendungen.

Dass die Cebit die Shareconomy, also die Ökonomie des Teilens, entdeckt und zum roten Faden der an diesem Montag beginnenden Computermesse erklärt hat, zeigt: Nicht mehr nur ein paar größenwahnsinnige Start-ups, sondern auch etablierte Unternehmen machen sich Gedanken darüber, was es für eine Gesellschaft bedeutet, wenn Konsum eine gemeinsame Sache ist, wenn Konsum an Grenzen stößt. Angesichts der knapper werdenden Ressourcen, aber auch der rasanten technologischen Entwicklung ist dies eine dringend notwendige Debatte.

Austausch gab es auch schon in der analogen Welt. Das Internet aber hat ihn erleichtert - erst recht, seit es hierzulande in jeder zweiten Hosentasche steckt. Von Tauschplattformen für Kleidung und Kinderspielzeug, Autos und Akkuschrauber profitieren vor allem diejenigen, die sie nutzen: Wer etwas ausleiht, der spart. Wer etwas verleiht, verdient sich ein paar Euro dazu. Aber auch für diejenigen, die diese Portale bislang noch skeptisch beäugen, kann sich die Sache auszahlen. Dann nämlich, wenn auch Hotels ihren Service und ihre Preise überdenken, weil mehr und mehr Menschen merken, dass es auf der angemieteten Luftmatratze mitunter netter und vor allem billiger ist. Es wird einige Zeit verstreichen, ehe solche Effekte spürbar werden. Aber der heftige Streit zwischen den kleinen Anbietern im Netz und den Etablierten lässt erahnen, dass viele Branchen, von der Musik- bis zur Modeindustrie, vom Tourismus bis zur Steuerberatung, in Bewegung gekommen sind. Der wahre Gewinner eines solchen Wettbewerbs ist in der Regel der Kunde.

Aber das Teilen ist nicht mehr nur eine Angelegenheit zwischen Privatleuten im Internet. Einige Anbieter von Outdoorausrüstung beispielsweise appellieren an ihre Kunden, die abgetretenen Schuhe zu reparieren, statt sie zu ersetzen. Das spült zunächst zwar etwas weniger Geld in die Kasse, ist auf lange Sicht aber ein cleverer Schachzug - gerade in Zeiten, in denen immer weniger Menschen einer Marke die Treue halten. Denn Leute, die sich die neue Regenjacke womöglich bei der Konkurrenz holen würden, werden so zu Kunden, die immer wieder zurückkommen. Und wer sich auch noch genau anschaut, wann was an welcher Stelle verschleißt, der kann Produkte verbessern und so die Herstellungskosten senken. Auch das wird immer wichtiger in Zeiten, in denen Ressourcen wie Öl oder manche Metalle knapp und teuer werden.

Wer die Anstöße aus der Shareconomy nur mutig genug weiterentwickelt, der findet womöglich auch Antworten auf ganz grundlegende Fragen der Zukunft - etwa die nach der Nutzung erneuerbarer Energien in intelligenten Stromnetzen. Es lohnt sich, darüber nachzudenken.

Vorankommen wird man dabei nur, wenn man auch wirklich zusammenarbeitet. Um herauszufinden, wie man Produkte so entwickelt, dass sie dem Bedürfnis einer breiten Kundschaft genügen, müssen Händler und Hersteller kooperieren. Auch sie müssen etwas Wertvolles miteinander teilen - Wissen nämlich und aller Wahrscheinlichkeit nach auch Umsätze. Das wird zwangsläufig zu Konflikten führen und kann nur gelingen, wenn man einander vertraut.

Und Vertrauen, das müssen sich Unternehmen auch bei ihren Kunden erarbeiten. Wenn sich ein Mietwagen heute am Straßenrand mit wenigen Klicks auf dem Smartphone ausleihen lässt, dann ist das auch für den Anbieter ziemlich praktisch. So erfährt er nämlich, wer wann und wo in der Gegend herumfährt - und zwar so schnell und so genau, wie es die eifrigsten Marktforscher nicht herausfinden können. Wie gefährlich dies allerdings für den Verbraucher werden kann, merkt dieser oft erst, wenn es zu spät ist. Wenn der Autoverleiher seinen Datenschatz wissentlich auch an andere vertickt. Oder wenn er unwissentlich ins Visier von Hackern gerät. Eine Welt, in der viel geteilt wird, ist noch lange keine Welt, in der niemand mehr ein gutes Geschäft machen will.

Augenmerk auf Ankara

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Deutschland entdeckt das Wissenschaftsland Türkei


Ein paar bunte Gebäude sind bereits zu sehen, und die türkische Fahne flattert im Wind. In Beykoz am Bosporus, einem Istanbuler Vorort fast schon am Schwarzen Meer, soll die deutsch-türkische Universität entstehen. Sie ist das ehrgeizigste gemeinsame Bildungsprojekt, das in Ankara und Berlin je ersonnen wurde. Aber auch fünf Jahre nach der Vertragsunterzeichnung gibt es keine Studenten in Beykoz. Mit Vorwürfen sind beide Seiten vorsichtig. Man will die Hoffnung nicht zerstören, dass der Semesterbetrieb im Herbst 2013 tatsächlich beginnen kann. Regierungschef Tayyip Erdogan hat Kanzlerin Angela Merkel bei ihrem Besuch in der Türkei nun versprochen, bald werde zumindest ein neuer Rektor ernannt. Der Gründungsrektor hatte 2012 das Handtuch geworfen. Und aktuell ist man uneins über den Fächer-Zuschnitt des 'Leuchtturmprojekts'.



Bundeskanzlerin Angela Merkel und der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan bei einer Pressekonferenz in Ankara.

Der Zeitplan für den Start ist wohl unsicher; doch auf niedrigschwelliger Ebene ist bereits vieles in Bewegung. Deutschland entdeckt das Wissenschaftsland Türkei. Mehr als zwei Millionen Menschen in Deutschland sind türkischer Herkunft, sie schaffen eine enge Verbindung zwischen den Staaten, auch die Wirtschaftskontakte sind intensiv - das akademische Interesse an der Türkei ist aber bislang eher gering.

In etwa so alt wie die Uni-Pläne ist auch das 'Netzwerk Türkei', eine Privatinitiative junger europäischer Akademiker. Die Gründer der Initiative hatten sich darüber geärgert, dass sie an ihren Universitäten kaum Professoren fanden, die sich für die moderne Türkei interessierten. Sie veranstalten daher eigene Kongresse und tauschen auf einer Internetplattform mit digitaler Bibliothek ihr Wissen aus. Ein Netzwerker der ersten Stunde, der Politikwissenschaftler Daniel Grütjen, hat seinen Lebensmittelpunkt inzwischen von Berlin nach Istanbul verlegt. Grütjen ist Koordinator eines neuen Fellowship-Programms, das von der deutschen Mercator-Stiftung und dem 'Istanbul Policy Center' (IPC) an der privaten Sabanci-Universität getragen wird. Das Projekt ist auf fünf Jahre angelegt, erste Stipendiaten sind bereits am Bosporus. Private Unis in der Türkei sind flexibler als der Staat - und deutsche Stiftungen offenbar auch.

'Uns geht es um Lösungsansätze für das 21.Jahrhundert', sagt Grütjen. 'Gemischte Gruppen sind kreativer als homogene', sagt Dominik Hartmann, einer der Stipendiaten. Hartmann, 32, Wirtschaftswissenschaftler aus dem baden-württembergischen Hohenheim, interessiert sich für die mobilen Deutsch-Türken mit Unternehmerbegabung. Die Forscher haben zwar schon einen Begriff für diese agilen Wanderer zwischen den Welten: 'Commuting Entrepreneurs'. Doch sonst wissen sie nicht viel. Wie lassen sich die Kreativen vernetzen? Was können solche Migranten, was andere nicht können? 'An der Stanford University wird die Rolle der Inder für Startups im Silicon Valley erforscht', sagt Hartmann. 'Daran können wir uns ein Beispiel nehmen.' Er kam über eine Forschergruppe in Hohenheim 2011 erstmals mit Wissenschaftlern der Dokuz Eylül Universität in Izmir in Berührung. Bis 2014 wollen die Experten aus Hohenheim und Izmir nun gemeinsam die 'Wissensmigration' untersuchen. Gefördert wird das Projekt vom Bundesbildungsministerium sowie von Tübitak, dem Wissenschaftsrat der Türkei.

Die neuen Migranten wandern nicht mehr aus der Türkei aus, sondern in das Land ihrer Väter und Großväter ein. Ihr Wissen könnte am Bosporus von großem Nutzen sein. Etwa 2,5 Millionen Patente seien in Deutschland in den vergangenen

30 Jahren angemeldet worden, sagt Grütjen. 'In der Türkei waren es nur 2500.' Die türkische Wirtschaft boomt - gut 50 Jahre nachdem die ersten Türken als Gastarbeiter in die Fremde gingen. Heute braucht die Türkei jedoch für ihre Industrie mehr qualifizierte Arbeitskräfte, als sie findet. Wie sehr sich die Verhältnisse verändern, erlebt eine Deutschlehrerin in Istanbul. 'Meine Schüler wissen oft gar nicht, warum so viele Türken nach Deutschland gegangen sind', sagt die Türkin, deren Eltern einst auch ausgewandert sind.

Die Wirtschaftswissenschaftlerin Secil Pacaci Elitok, 33, wurde im türkischen Sivas geboren. Der Vater war Beamter, die Familie zog immer wieder um in der Türkei. Sie studierte in den USA. Ans Hamburger Weltwirtschaftsinstitut kam Elitok 2009 als Fellow im Marie-Curie-Programm der EU. Erst dort begriff sie, 'dass sich die Türkei viel zu lange nicht um ihre Migranten in Deutschland gekümmert hat'. Nun ist auch Elitok Mercator-Stipendiatin in Istanbul. Sie erforscht die Rolle der Zuwanderungspolitik in den EU-Türkei-Verhandlungen. Dabei interessieren sie nicht nur Dokumente und Verträge, sondern auch das, 'was hinter der offiziellen Geschichte steckt'. Religion, kulturelle Unterschiede, das Unausgesprochene.

Jüngst hat Elitok in Istanbul eine Konferenz zur Migrationspolitik der türkischen Regierung organisiert. Es ging darum, wie die Türkei mit Zuwanderern aus Ländern wie Iran oder dem Irak umgeht, wie offen ihre Grenzen sind. Das sind wichtige Fragen für die EU, die entscheiden soll, ob die Türkei die schon lange gewünschte Visa-Freiheit erhält. Für die innovativen Netzwerker wären Reiseerleichterungen ein Segen. Aber Elitok fürchtet, mit der neuen Freiheit werde es noch dauern. Der jüngste Türkei-Bericht der EU sehe zum Thema Migration in Ankara kaum Fortschritte, schrieb sie in ihre Konferenz-Einladung.

Bis 2016 will Mercator 5,5 Millionen Euro für die Stipendien ausgeben. Daneben will die Stiftung künftig auch in Deutschland 'Studien zur zeitgenössischen Türkei' fördern.

'Schwuchtel geht flott über die Lippen'

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Während die Gesellschaft höflich über die Homo-Ehe streitet, herrscht auf Schulhöfen ein anderer Ton. 'Schwul' gilt dort als eines der häufigsten Schimpfworte. Der Psychologe Ulrich Klocke forscht darüber


SZ: Fast zwei Drittel der Sechstklässler in Berlin, also der zwölf Jahre alten Schüler, verwenden 'schwul' und 'Schwuchtel' als Schimpfwörter, 40 Prozent das Wort 'Lesbe'. Die Ergebnisse Ihrer Befragungen klingen erschreckend.
Klocke: Diese Ausdrücke gehören in der Tat zu den beliebtesten Schimpfwörtern auf dem Schulhof. Und die Hälfte der Sechstklässler und Sechstklässlerinnen lästert nach Angaben ihrer Mitschüler über Personen, die für schwul oder lesbisch gehalten werden. Alle abgefragten Mobbing-Kriterien waren in der Grundschule, die in Berlin bis zur sechsten Klasse geht, ausgeprägter als in den Oberschulen. Als wir für das Projekt mit den Schulleitungen in Kontakt getreten sind, waren die teilweise erstaunt - in jungen Jahren sei das noch kein Thema, hieß es. Aber unsere Untersuchung zeigt: Gerade hier ist es Thema, hier muss man handeln und für ein Umdenken sorgen.



Von "Schwuchtel" bis "Hausaufgaben sind schwul": In der Schule wird "schwul" oft als Schimpfwort verwendet.

Wie viel Schwulenhass steckt denn hinter einem Ausdruck wie 'Du schwule Sau'? Oder ist das eine eher eine jugendliche Unbedachtheit?
Wir haben festgestellt, dass die Sechstklässler sehr wohl wissen, was die Begriffe in Wirklichkeit bedeuten. Wer so etwas auf dem Schulhof ruft, nimmt aber in der Regel nicht wahr, dass er damit Diskriminierung ausübt. Wir haben auch mit offenen Fragen die gängigen Schimpfwörter erforscht, oft beziehen sie sich im entferntesten Sinne auf soziale Gruppen - Hurensohn, Schlampe, Spast, Schwuchtel, Opfer, Penner, Jude. Schwuchtel geht flott über die Lippen, ganz gedankenlos. Dahinter steckt erst mal keine homophobe Absicht. Allerdings hat es dennoch eine homophobe Wirkung. Das ist fatal für Schüler, die vielleicht gerade ihre sexuelle Identität entdecken. Sie stellen fest, dass sich die möglicherweise eigene Gruppe in der Breite nur als Objekt der Beschimpfung eignet.

Woher kommt dann diese negative Besetzung der Worte? 'Hausaufgaben sind schwul', sagen heute Schüler wie selbstverständlich. Früher hätten die Kinder wohl eher 'scheiße' gesagt.
Kinder sind sehr stark an Geschlechtsstereotypen orientiert, beispielsweise in dem Schema: Jungen sind stark, Mädchen sind schwach. Schwul wird in erster Linie mit weiblich assoziiert - also mit einem Verhalten, das nicht männlich genug ist, um in der eigenen Bezugsgruppe zu bestehen. Ein Kind hat vielleicht nichts gegen Schwule, es will aber geschlechtskonform sein, nicht von seiner Gruppe abweichen - und wertet deswegen den Gegensatz ab, zeigt seine Rolle bei jeder Gelegenheit. Das wird mit zunehmendem Alter weniger wichtig, generell wächst dann ja auch die persönliche Reife. Homophobe Ausdrücke haben wir bei Schülern der zehnten Klasse deutlich seltener festgestellt.

Folglich finden sich die Schwulen-Ausdrücke auch bei Mädchen seltener?
Ja, das Geschlecht ist ein entscheidender Einflussfaktor bei homophoben Beschimpfungen. Der Faktor andere sind die Lehrer. Wenn diese zum Beispiel bei schwulenfeindlichen Witzen mitlachen, wird ein solches Verhalten von den Kindern nachgeahmt. Sie wissen, dass sie mit solchen abschätzigen Bemerkungen die Lacher auf ihrer Seite haben.

Die Lehrer lachen über Schwulenwitze?
Ja, das kommt durchaus vor, laut Studie bei einem Viertel der Lehrkräfte. Noch öfter kommt es vor, dass sich Lehrer lustig machen, wenn Mädchen sich im Alltag wie Jungs verhalten und Jungs wie Mädchen.

Was wissen die Jugendlichen eigentlich über Homosexualität? Oder besser gefragt: Was wissen sie nicht?
Oft glauben sie, dass man sich aussucht, ob man lesbisch oder schwul ist; dass die sexuelle Identität also eine eigenständige Entscheidung sei, die man wie eine Mode annimmt. Wenig im Blick sind auch die Konflikte, die homosexuelle Jugendliche oft durchzustehen haben, viele Lehrer wissen nichts über das nachweislich erhöhte Suizidrisiko. Sie sehen keinen Problemdruck, ganz nach der Devise: Weil Wowereit und Westerwelle schwul sind, muss man gar nicht mehr groß über das Thema reden.

Schwul als Schimpfwort - das hört man auf Schulhöfen in ganz Deutschland, selbst in der Provinz. Im Falle Berlins denkt man aber unweigerlich auch an schwulenfeindliche Migranten.
Diese und frühere Studien zeigen, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund eher negative Einstellungen zur Homosexualität haben und dass das auch mit traditionellen Geschlechterrollen und mit Religiosität zu tun hat. Das erklärt den Ton auf dem Schulhof aber nicht. In unserer Studie hat sich kein Effekt der Herkunft auf das Verhalten gezeigt, arabisch- oder türkischstämmige Jugendliche sagen etwa nicht häufiger 'Du Schwuchtel'.

Das allgegenwärtige Schimpfwort dürfte gerade für schwule Jugendliche heikel sein. Was können die Schulen tun?
Die Jugendzeit, die für andere Schüler mit der ersten Liebe und den ersten sexuellen Erfahrungen zusammenhängt, ist für viele Betroffene eine Zeit der Ängste und Fragen. Die Ächtung von Mobbing im Schulleitbild und das Einschreiten bei homophoben Beschimpfungen fördern nachweislich die Toleranz und das gesamte Klima, es kann Mobbing unterbinden.

Wie soll das stattfinden? Gehört dazu ein eigener 'Toleranz-Unterricht'?
Im Idealfall wird Vielfalt wie selbstverständlich dargestellt, indem Lehrkräfte etwa Romane wählen, in denen auch lesbische und schwule Charaktere vorkommen. Beiläufig fördert man so Toleranz, es muss nichts Aufgesetztes sein. Es gibt aber auch direktere Möglichkeiten wie Projekttage. Oder man kann ehrenamtliche Aufklärungsteams mit jungen Lesben und Schwulen einladen. Sie erzählen aus ihrem Leben, ihnen können die Jugendlichen Fragen stellen, die ihnen ansonsten keiner beantworten würde. Selbst in Berlin ist es ja so, dass ein Drittel der Zehntklässler von keiner einzigen lesbischen, schwulen oder bisexuellen Person in ihrem Bekanntenkreis weiß. Auch wenn das schon rein statistisch eigentlich unmöglich ist.

Also kommt es auf die Lehrer an?
Eindeutig ja. Lehrer wissen oft nicht, wie unkompliziert man das Thema berücksichtigen kann, indem man es in den Unterricht einbindet. Damit kann man nicht früh genug anfangen - etwa schon in den ersten Schulklassen erwähnen, dass manche Kinder eben zwei Mütter haben. Für Kinder ist in der Regel das normal, was ihnen als Normalität vorgelebt wird. Es geht nicht um sexuelle Praktiken, wie manche befürchten, das wirkt auf keinen traumatisierend. Aber es sensibilisiert.

Wie sollten sich Lehrer verhalten, die selbst homosexuell sind - können Sie Vorbild sein? Oder ist ein Outing in der Schule problematisch?
Es gibt Hinweise, dass die Bekanntheit homosexueller Lehrkräfte positive Einstellungen und solidarisches Verhalten befördert. Da wäre es natürlich wünschenswert, wenn mehr Lehrer offen damit umgehen - sich nicht unbedingt mit großem Rummel hinstellen, sondern es wie selbstverständlich erwähnen, so wie etwa eine Kollegin von ihrem Mann spricht. Die Frage ist, wie man sich das in seiner eigenen Situation zutraut. Zu empfehlen ist wohl, sich bei der Schulleitung oder den Kollegen erst mal vorzutasten. Heikler ist fast der Fall, wenn die Lage unklar ist, wenn über eine Lehrkraft gemunkelt wird und Schüler das vielleicht für eine Machtprobe missbrauchen. Wenn klar ist, dass jemand selbstbewusst damit umgeht, bietet er wenig Angriffsfläche. Aber die Vorbildwirkung ist wahrscheinlicher, wenn ein Lehrer ohnehin Ansehen bei den Schülern genießt.

Insgesamt gesehen gibt es offensichtlich Handlungsbedarf an den Schulen. Nach den jüngsten Homo-Ehe-Urteilen predigt die Politik die Gleichstellung. Ist die Gesellschaft weiter als ihre Jugend?
Nein, unsere Untersuchung hat auch gezeigt, dass drei Viertel der Schüler sagen, dass schwule und heterosexuelle Paare natürlich die gleichen Rechte haben sollten. Man muss unterscheiden: Es geht bei den Schülern nicht um strukturelle Diskriminierung, sondern um zwischenmenschlichen Umgang. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass sich die Einstellungen verbessern, wenn Schüler sehen: Es wird auch von rechtlicher Seite ein Zeichen gesetzt.

Vorsicht, Zombie

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Ein Fünfjähriger gab 2000 Euro für ein vermeintliches Gratis-Spiel aus. Tipps für Eltern sind hier hilfreich.

Danny Kitchen ist fünf und hat mal eben 1700 Pfund ausgegeben. Lediglich zehn Minuten hat er dafür gebraucht, ein paar Fingerbewegungen reichten aus. Der Junge wollte auf dem iPad seiner Eltern Ninja-Kämpfer und Zombies gegeneinander antreten lassen - und lud sich, mit deren Einverständnis, ein kostenloses Spiel auf das Gerät. Doch nicht das gesamte Angebot der App ist umsonst: Danny bestellte fleißig Bomben, um die über den Friedhof schwankenden Zombies zu bewerfen. Und verstand nicht, dass jedes der Pakete sehr wohl Geld kostet - jeweils fast 70 Pfund, also mehr als 80 Euro. Auch die Eltern merkten das erst, als sie später in ihr E-Mail-Postfach sahen: Dort wartete für jeden von Dannys Klicks eine Nachricht, die den Kauf bestätigte.

Viele Entwickler von Spielen für Smartphones und Tablet-Computer verlangen für ihre App kein Geld, um Spieler zu locken: Die Konkurrenz an kostenlosen Angeboten ist groß, bezahlen zu müssen schreckt viele ab. Ihr Geschäftsmodell: Sie schaffen eine virtuelle Währung oder virtuelle Güter, die dem Spieler mehr Erfolg und Spaß versprechen. Mit ihrem Verkauf verdienen sie den Großteil ihres Geldes. Und Apple verdient an jedem Verkauf mit.


Kindersicherungen sind sinnvoll, um ungewollte Einkäufe zu verhindern.

Um auf ein Gerät des kalifornischen Unternehmens eine App herunterzuladen, muss der Besitzer sein Passwort eintippen. Auch Dannys Vater hat das getan und dem Sohn das Gerät dann zum Spielen überlassen. In der Beschreibung stand ja, das Programm koste nichts. Innerhalb des Spiels konnte der Junge dann einkaufen, ohne das Passwort bestätigen zu müssen. Eine Kindersicherung hätte ihn daran gehindert. Denn Eltern können ihr iPhone und iPad so einstellen, dass es entweder nach einer gewissen Zeit das Passwort erneut verlangt, oder sogar bei jedem Kauf.

Am Anfang gab es diese Funktion bei den Geräten noch nicht. In den USA hatten daher fünf Elternpaare aus Kalifornien schon vor zwei Jahren gegen Apple geklagt. Die Kinder der Familien hatten ohne das Wissen der Eltern in Spielen virtuell eingekauft - Apples Fehler, klagten die. Der Konzern bietet betroffenen Eltern in den USA nun einen Vergleich an, sie sollen als Entschädigung Gutscheine für den iTunes-Store oder, bei einem Schaden von über 30 Dollar, auch Geld zurückbekommen. 23 Millionen Menschen könnten darauf Anspruch haben, schätzt der britische Guardian, der Vergleich könnte Apple 100 Millionen Dollar kosten. Das zuständige US-Gericht muss dem Vorschlag noch zustimmen. Apple will die Nutzer, die einen Anspruch haben könnten, dann selbst informieren.

Danny Kitchens Eltern hätten die Kindersicherung dagegen schon verwenden können. In den allgemeinen Einstellungen lassen sich die Einschränkungen auswählen und mit einem Passwort bestätigen - möglichst eines, das Sohn und Tochter nicht erraten können, um die Sperre zu umgehen. Eltern können ihren Kindern zudem ein eigenes Profil mit eingeschränkten Rechten anlegen. Auch, welche Musik, welche Filme und Bücher das Kind angezeigt bekommt, können Eltern beschränken. Der Kauf virtueller Güter in Spiele lässt sich so ganz ausschließen.

Auch im Fall von Danny Kitchen hat Apple auf die Kindersicherung verwiesen - und Eltern den Rat gegeben, generell keine Passwörter an ihre Kinder weiterzugeben. Sie habe in dem Bereich wohl Nachholbedarf, gab Dannys Mutter zu. Apple hätte der Familie jetzt Schritt für Schritt erklärt, wie sie ihre Geräte so einstellen kann, dass nicht wieder eines ihrer Kinder ungewollt Geld ausgibt. Das Unternehmen wolle die Familie außerdem entschädigen.

Teure Wächter

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Mit der "Mustererkennung" sollen Überwachungssysteme schlauer werden und selbständig auffälliges Verhalten erkennen. Die EU will damit illegale Einwanderer an der Grenze stoppen. Bislang produzierten die Forschungsvorhaben aber meist teure Fehlschläge


Die US-Firma BRS Labs ist ein Senkrechtstarter, den allerdings fast kein Mensch kenn. Und das soll am besten auch so bleiben. Der Umsatz des Unternehmens hat sich auf 200 Millionen Dollar innerhalb eines Jahres verzehnfacht. Neue Büros wurden eröffnet in Houston, Sao Paolo und London. Die Technik wird exportiert bis nach Dubai und Neuseeland. Grund für den Erfolg von BRS, eine Abkürzung für Behavioural Recognition Systems, zu deutsch Verhaltens-Erkennungssysteme, ist die Überwachungs-Software AiSight. Sie revolutioniert zurzeit die Überwachung an Flughäfen und Bahnhöfen weltweit. AiSight macht die Kameras schlau. Damit ausgestattet erkennen sie künftig selbstständig auffälliges Verhalten. Egal ob jemand seinen Koffer dort abstellt, wo er nicht sollte, aus dem Auto aussteigt, wo er nicht dürfte oder über Zäune klettert - sofort schlägt der Computer Alarm, ein Mensch ist nicht mehr dafür nötig. Ein Traum für Sicherheitsbehörden.



Alleine in der Berliner U-Bahn gibt es 1500 Kameras.

Ein Traum, den auch das deutsche Bundesforschungsministerium geträumt hat. In neun Einzelprojekten wollte man die Mustererkennung erforschen lassen - auch bei diesen "intelligenten Überwachungssystemen" soll ein Computer Gesichter oder auffällige Bewegungen aus Videobildern herausfiltern und melden. Doch die Euphorie ist bei vielen Beteiligten trotz 15 Millionen Euro Fördergeld und drei Jahren Arbeit verflogen. Ein Verbund aus Firmen und Universitäten wollte etwa im Verbundprojekt "Adis" erforschen, wie gut ein Algorithmus Gefahrensituationen in U-Bahnhöfen erkennen kann, etwa eine "liegende Person", Menschenansammlungen, "Aggression" oder allgemein "auffälliges Verhalten". "Ursprünglich wollten wir das System im öffentlichen Nahverkehr testen", sagt Oliver Röbke von der Münchner Indanet AG, die federführend an "Adis" arbeitet. Der Verkehrsbetrieb einer großen Stadt wollte mitmachen. Wegen ungeklärter ethischer und datenschutzrechtlicher Fragen betrachteten viele das Projekt aber von Anfang an kritisch, die vielen Nachfragen erschwerten die Arbeit. Die Folge: Der Betreiber wollte plötzlich anonym bleiben, getestet wurde nur noch hinter verschlossener Tür. Auch den angedachten Demonstrator gibt es zwei Monate vor Ablauf des Projekts noch nicht. Wie gut das System funktioniert, ist damit unklar, Hinweise gibt nur eine Studie des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie in Wien: Die Verlässlichkeit sei bei präventiven Überwachungstechniken "fragwürdig", Umwelteinflüsse könnten die Ergebnisse stark verfälschen. Dazu entstünden bislang "unakzeptabel viele falsche Treffer", was wieder Kosten bei der Korrektur verursache. Ähnliche Erfahrungen hatte 2007 das BKA gemacht, das am Mainzer Hauptbahnhof Technik installiert hatte, um Gesichter automatisch zu erkennen. Der Feldversuch schlug fehl - es war meist schlicht zu dunkel, um Personen zu identifizieren. Röbke glaubt dennoch, dass ein großer Bedarf für "intelligente Systeme" besteht: Allein in der Berliner U-Bahn gebe es rund 1500 Kameras. "Diese Datenflut können die wenigen Sicherheitsleute kaum noch bewältigen", die Aufnahmen würden erst viel später analysiert, wenn überhaupt.

Besonders wegen eines Ziels musste "Adis" Kritik einstecken: Das System sollte ähnlich wie das EU-Projekt Indect "abnormales" Verhalten erkennen können. "Es ist doch absurd, einem Computer beizubringen, was als normal gilt und was nicht", sagt der Bundestagsabgeordnete Herbert Behrens von der Linkspartei. "Was, wenn das abweichende Verhalten nicht kriminell ist? Da läuft sofort eine Stigmatisierung der Betroffenen." Der Politiker aus Niedersachsen kritisiert vor allem die Vielzahl der Projekte zur Mustererkennung. So analysiert man bei "Caminsens" die Laufrichtung und Schrittgeschwindigkeit in Flughäfen, bei "GES-3D" erstellt man mit biometrischer Gesichtserkennung 3D-Modelle von verdächtigen Personen. "Jedes einzelne Projekt kommt recht unverdächtig daher", sagt der Linke-Politiker, "aber bei einer Verschaltung der Technologien untereinander bekommen wir große Probleme".

Der Datenschutzbeauftrage Schleswig-Holsteins Thilo Weichert sieht es ähnlich: "Mustererkennung ist hochsensibel und heikel, weil der analoge Bereich mit dem digitalen verheiratet wird", sagt Weichert. Am Ende dürfe nicht eine Maschine über eine Situation entscheiden, sondern nur ein Mensch. Auch der "Beifang" bei der Mustererkennung - also unbeteiligte Dritte - müsse wieder aus den Datenbanken gelöscht werden. "Bei vielen Sicherheitsforschungsprojekten besteht diese Sensibilität aber nicht", sagt Weichert.

Damit spielt der Experte vor allem auf die Sicherheitsforschung der EU-Kommission an, gegen die sich die deutschen Ansätze recht possierlich ausnehmen. Allein 170 Millionen Euro flossen in den vergangenen Jahren in Forschungsprojekte zur Überwachung der EU-Außengrenzen, mindestens 60 Millionen Euro davon in "intelligente", also automatisierte, Grenz-Überwachung unter dem Stichwort "Smart Borders". So denkt die Kommission an den Aufbau einer autonomen Drohnen-Flotte für den Grenzschutz nach (Oparus und Wimaas), während Roboter entlang der Landgrenzen patrouillieren und Eindringlinge entdecken sollen (Talos). Selbst die Gerüche mutmaßlich illegaler Einwanderer könnten spezielle Sensoren (Sniffer, Doggies) automatisiert aufspüren.

Bislang produzierte das Programm vor allem teure Fehlschläge und wenig Konkretes. So gab die Kommission 3,5 Millionen Euro im Verbundprojekt "Amass" für intelligente Bojen aus. Diese sollten vor der Küste Europas mit allerlei Sensoren bestückt selbständig "nicht-kooperative Ziele" - also Fischerboote mit illegalen Einwanderern - entdecken können. "Ein wesentlicher Teil der Technik wurde zerstört", sagt ein Verantwortlicher, der anonym bleiben möchte. "Die Boje ist vor den Kanaren aufgrund der Wetterbedingungen gesunken." Auf der Webseite heißt es dagegen nur, das Programm sei planmäßig beendet worden. Auch beim abgeschlossenen Drohnen-Projekt Wimaas - Gesamtkosten 2,7 Millionen Euro - sind öffentlich keinerlei Ergebnisse vermerkt. Auf Nachfrage heißt es, es habe im Wesentlichen zwei Testflüge mit Drohnen vor der Küste Spaniens und Griechenlands gegeben, außerdem seien einige technische Publikationen entstanden. Bei Talos hingegen entwickelte man zwei funktionstüchtige Prototypen - die traktorgroßen Roboter können selbständig Grenzen patrouillieren und mit Radar Personen aufspüren. Jedoch ist das 20 Millionen Euro schwere Programm seit einem Jahr beendet, die Ungetüme stehen seitdem ungenutzt in Polen herum.

Die EU-Kommission betont, alle diese Ideen seien bislang reine Forschungsprojekte. Doch Experten stellen der Kommission bereits dafür ein schlechtes Zeugnis aus. "Das Vertrauen auf neue Überwachungstechnologien basiert auf ungenügenden Kenntnissen ihrer wahren sozialen und ökonomischen Kosten", schreiben etwa Forscher um den Münchner Soziologen Reinhard Kreissl in der ebenfalls von der EU geförderten "IRISS"-Studie. Bei der Aufrüstung der Grenzen sehen sie "grundlegende Menschenrechtsbedenken" beim Asylrecht, der Privatsphäre und im Datenschutz. "Auffällig ist, dass es überhaupt keine Förderung für Projekte gibt, die sich mit der Rettung auf hoher See beschäftigen, um etwa das Leben von Einwanderern zu retten." Stattdessen werde der Prävention von illegaler Einwanderung Vorrang eingeräumt. Grund zur Sorge sehen die Experten in der "möglichen Bevorzugung" der Rüstungs- und Sicherheitsindustrie bei der Vergabe von Geldmitteln. Diese enge Verbindung sei systemisch geworden und beeinflusse die Ziele der Forschung wesentlich.

Die Wissenschaftler prangern auch einen "hemmenden Effekt" durch intelligente Überwachung an: Dieser könne "unser Verhalten weniger spontan machen und uns unterbewusst darin einschränken, wo wir hingehen und was wir tun". Deshalb könne verstärkte Überwachung auf lange Sicht soziale und demokratische Aktivitäten untergraben.

Einige haben die sozialen Implikationen erkannt. "Wir sind zwar sicher, dass unsere Fahrzeuge einen Nutzen an der Grenze haben können", sagt etwa Agnieszka Spro?ska, Sprecherin von Talos. "Aber wir können nicht losgelöst von den rechtlichen und ethischen Aspekten arbeiten. Die Technologie kann nicht vor allem anderen kommen."

CDU lässt Pläne zur Homo-Ehe fallen

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Zehn Tage lang hat Kanzlerin Merkel in der Debatte über einen Kurswechsel geschwiegen. Nun spricht sie sich mit der Parteispitze dagegen aus, Lebenspartnerschaften der Ehe gleichzustellen

Die CDU will wegen des unionsinternen Widerstands ihren Umgang mit Lebenspartnerschaften nun doch nicht ändern. Unter der Leitung von Parteichefin Angela Merkel verständigte sich das Präsidium darauf, die nächsten Urteile des Bundesverfassungsgerichts zur Gleichstellung abzuwarten, statt selbst aktiv zu werden. Generalsekretär Hermann Gröhe sagte, die CDU-Spitze habe jetzt einen Beschluss des Parteitags von Dezember 2012 „bekräftigt". Damals hatten sich knapp 60 Prozent der Delegierten gegen eine steuerliche Gleichstellung homosexueller Lebenspartnerschaften ausgesprochen.


Die CDU hat sich nach langer Diskussion gegen die steuerliche Gleichstellung von Homo-Ehen entschieden

Im Präsidium gab es vor der Entscheidung eine ungewöhnlich lange und kontroverse Debatte, an der sich mehr als die Hälfte der Mitglieder beteiligte. In den vergangenen Tagen hatten sich in Thomas Strobl, Julia Klöckner und Ursula von der Leyen gleich drei stellvertretende Parteichefs für einen Kurswechsel ausgesprochen. Sie wurden dabei von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble unterstützt.

Die Auseinandersetzung hatte vor zehn Tagen mit einem Vorstoß der Unionsfraktionsspitze begonnen. Da klar sei, dass das Verfassungsgericht noch vor der Bundestagswahl auch die steuerliche Gleichstellung verlangen werde, müsse die Union „beweglicher" werden, sagte der parlamentarische Geschäftsführer Michael Grosse-Brömer. Die Union sollte „jetzt möglichst rasch handeln und die erforderliche verfassungsrechtliche Gleichstellung auch durchführen". Fraktionschef Volker Kauder äußerte sich zunächst ähnlich.

CDU-Chefin Merkel hatte die Debatte bis zum gestrigen Montag laufen lassen. In der Präsidiumssitzung sah sie sich nun aber genötigt, Partei zu ergreifen. Mit ihrer Unterstützung entschied sich das Präsidium gegen einen Kurswechsel. Horst Seehofer hatte zuvor erklärt, mit seiner CSU werde es vor einem Urteil Karlsruhes keinesfalls eine Gleichstellung geben.

Den Chefs der Koalitionsfraktionen dürfte der Beschluss des CDU-Präsidiums Probleme bereiten. Zwar gelten 80 Prozent der Unionsabgeordneten als Gegner eines Kurswechsels. In der Fraktion gibt es jedoch eine starke Minderheit, die den Parteitagsbeschluss ablehnt. Und die Abgeordneten der FDP verlangen schon lange eine Gleichstellung. Im vergangenen Oktober gab es im Bundestag bei der Abstimmung über einen Antrag der Grünen zur steuerlichen Gleichbehandlung im Lager der Koalition bereits 18 Abweichler. Union und FDP liegen nur 19 Stimmen über der absoluten Mehrheit. Und in den nächsten Monaten drohen weitere Abstimmungen, bei denen die Opposition einen Keil in die Koalition treiben will.

Bereits am Donnerstag kommender Woche berät der Bundestag in erster Lesung über einen Gesetzentwurf der Grünen zur Gleichstellung. Außerdem ist der vom Bundesrat am vergangenen Freitag beschlossene Gesetzentwurf anhängig. Am Montag kündigten Rheinland-Pfalz und Hamburg eine noch weiter reichende Bundesratsinitiative zur Öffnung der klassischen Ehe für Homosexuelle an. „Wir wollen eine vollständige rechtliche Gleichstellung", sagte Hamburgs Justizsenatorin Jana Schiedek (SPD). Der Entwurf soll bereits am 22. März in den Bundesrat eingebracht werden. 





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Microsoft unterstützt Start-ups und hilft so, Lösungen für Problem zu entwickeln, auf die vorher niemand gekommen ist. Vor allem will der Großkonzern aber eines: später daran verdienen.

Auf dem Bildschirm wandern die grünen Punkte von der einen in die andere Ecke. Jeder Punkt ein Auto. Dort, wo sie aufeinandertreffen, färben sie sich gelb und rot und stehen still: Rushhour in Stuttgart, London oder Shanghai. Auf den Routen, die alle wählen, gibt es Stau. Da verändert Christian Brüggemann die Simulation, die grünen Punkte verteilen sich auch auf die Nebenstraßen - und erreichen ihr Ziel, ohne stecken zu bleiben. Um Staus zu verhindern, hat die Drei-Mann-Firma Graphmasters einen Algorithmus entwickelt: Anstatt, wie bei vielen Navigationssystemen der Fall, zu reagieren, wenn sich ein Stau gebildet hat, und Autos dann umzuleiten, plant das System den Verkehr im Voraus so, dass jeder Fahrer eine eigene Route zugeteilt bekommt.





Städte ohne Stau, das hat auch Microsoft überzeugt. Die Firma hat Graphmasters in ihr Förderprogramm für Start-ups aufgenommen - eine Maßnahme des Softwarekonzerns, um sich den Zugang zu frischen Ideen zu sichern. 'Sie haben eine Lösung für ein Problem entwickelt, auf die davor niemand gekommen ist', sagt Jean-Philippe Courtois, der bei Microsoft alle Geschäfte außerhalb der USA und Kanadas verantwortet. Ein Satz wie aus dem BWL-Lehrbuch: Ein Start-up kann eben nicht mit Umsätzen überzeugen, sondern lockt Geldgeber mit Innovation. Setzt sich die Neuerung durch, wächst die Firma - und muss sich fortan daran messen lassen, wie viel Gewinn sie macht. Deshalb kommen radikal neue Ideen in etablierten Konzernen auch mal zu kurz. Wie andere Technologieunternehmen hat Microsoft erkannt, dass es sich daher lohnt, sich Impulse von außen zu holen. Die Idee: Die Partner teilen, was sie gut können - und beide profitieren davon.

Graphmasters beispielsweise nutzt die Leistung Hunderter Rechenzentren von Microsoft, die überall auf der Welt stehen. 'Als Studenten hätten wir mit einem Computer ein Jahr gebraucht, um die Daten für unser System zu verarbeiten. In der Cloud berechnen das für uns jetzt 500 Computer an einem Tag', sagt Informatiker Brüggemann. Außerdem stellt Microsoft ihnen drei Jahre lang kostenlos seine Technologie zur Verfügung und hilft, Kontakt mit Wagniskapitalgebern und den Herstellern von Navigationssystemen aufzunehmen, von denen viele Kunden von Microsoft sind. So soll aus der Idee von Studenten ein gewinnbringendes Geschäft werden. Am künftigen Umsatz lässt sich der Konzern dafür nicht beteiligen, er sichert sich auch keinen Anteil an dem jungen Unternehmen. Microsoft hofft vielmehr, einmal an gemeinsamen Geschäften zu verdienen. Zum einen, weil Graphmasters für den Dienst immer mehr Rechenleistung benötigen und Microsoft dafür bezahlen wird, für je 20000 teilnehmende Autos ist ein zusätzlicher Computer nötig. Zum anderen könnten die kleine und die große Firma gemeinsam um Kunden werben, beispielsweise aus der Autoindustrie: 'Die würden dann vielleicht auch andere Dienste in unsere Cloud verlegen', sagt Courtois.

Seit Microsoft das Programm 2008 aufgelegt hat, haben weltweit 55000 Start-ups teilgenommen oder tun es noch. Eines davon, das Unternehmens-Netzwerk Yammer, hat der Konzern im vorigen Jahr für 1,2 Milliarden Dollar übernommen und in seine Office-Dienste integriert. Eine Ausnahme, sagt Microsoft-Deutschland-Chef Christian Illek: 'Wir müssen nicht alles besitzen. Wenn eine der Ideen ein Erfolg wird, fällt der auch auf uns zurück.' Die Mehrheit der Start-ups erreiche schließlich nie die kritische Masse. Bei Graphmasters wird sich bald entscheiden, ob der Durchbruch gelingt oder die Firma aufhören muss, sagt Christian Brüggemann. Die Verhandlungen, Anbietern von Navigationssystemen die Technologie zu verkaufen, laufen. Damit diese funktioniert, müssen etwa zehn Prozent der Autofahrer einer Stadt den Dienst nutzen. Warum haben die Anbieter die Idee nicht selbst gehabt? 'Große Unternehmen sind bei Innovation eben nicht so schnell wie kleine Start-ups', so Brüggemann. Microsoft meint er natürlich nicht.

Im Zweifel gegen die Wand

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Nach dem Streit um die East Side Gallery denkt Berlin über Alternativen zum Teilabriss nach. Seltsam spät, denn die Pläne der Investoren waren überall bekannt



Tagelang hat die Stadt nach ihm gerufen, am Ende in lauten Sprechchören. 6000 Demonstranten aller Generationen kamen am Wochenende zur East Side Gallery in Berlin, um gegen die Zerstörung des Denkmals zu protestieren. 'Wowereit, die Mauer bleibt!', skandierten sie. Am Montag nun hat sich Berlins Regierender Bürgermeister erbarmt und eine Erklärung zum umstrittenen Abriss des Baudenkmals abgegeben.



Am Sonntag machten sich etwa 6000 Menschen für den Erhalt der East Side Gallery stark

'Ich setze mich für den Erhalt des Mauerstücks ein', sagte Wowereit. 'Am Dienstag wird sich auch der Senat mit dem Thema befassen.' Die East Side Gallery, die bis 1989 den Ost-Berliner Bezirk Friedrichshain von Kreuzberg trennte, wurde nach der Wende von Künstlern bemalt. Mit 1,3 Kilometern ist die weltbekannte Freiluftgalerie der größte noch existierende Mauerrest Berlins, sie gilt als Gedenkstätte und steht unter Denkmalschutz.

Weil Investoren nun aber in attraktiver Wasserlage Luxuswohnungen bauen wollen hinter der Mauergalerie, und weil der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg direkt daneben eine Fußgänger- und Fahrradbrücke plant, wurde vergangenen Donnerstag mit der Zerstörung der East Side Gallery begonnen. Ein Segment ist schon herausgerissen, weitere sollten am Montag folgen. Eine Lücke von 22 Metern ist da vorgesehen, sie soll Investoren Straßenzugang zu ihren Grundstücken verschaffen und dem Bezirk Zugang zur Brücke. Nach scharfen, auch internationalen Protesten ist die Demontage nun bis zum 18. März ausgesetzt.

Man will einen Kompromiss finden, irgendwie, Wowereit will vermitteln. Der Abriss der East Side Gallery erscheine nicht notwendig an dieser Stelle, sagte er. 'Entsprechend müssen Alternativen zur Erschließung der an der Spree gelegenen Grundstücke gefunden werden.' Schuld an dem Abriss trage jedenfalls nicht der Senat, sondern der Bezirk.

Das stimmt, ist aber nur die halbe Wahrheit. Neben dem Bezirk hat auch das Land geschlafen, als an der Spree ein neuer Stadtteil geplant und Grundstücke an der East Side Gallery verkauft wurden. Dass deren Eigentümer sich Zugang zur Straße verschaffen würden und Mauerdurchbrüche drohten, wäre nicht nur für Experten erkennbar gewesen. Es schlug aber keiner Alarm. Im Februar unterschrieb der grüne Bezirksbürgermeister Franz Schulz einen Erschließungsvertrag, der der SZ vorliegt. Er verpflichtet den Unternehmer Maik Uwe Hinkel, neben einem von ihm geplanten Wohnturm die East Side Gallery zu durchbrechen. Es war ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Der Bezirk bekam - gratis - Straßenanbindung für eine neue Brücke, der Unternehmer Zugang zum Wohnturm. Zur 'Öffnung des Baudenkmals' so der Vertrag, sei 'keine weitere Genehmigung erforderlich'. Vertreterinnen des Denkmalschutzes stimmten zu. Die Mauerstücke sollten aufs Gelände des Investors gesetzt werden. Aus optischen Gründen sei eine 'neutralweiße Farbgebung' oder 'geregelte Bemalung' auf der Rückseite denkbar.

Nun schreit Berlin, und Investor Hinkel signalisiert, dass er auf dem Durchbruch nicht besteht. Es sei denkbar, so ein Sprecher, eine schon bestehende Lücke weiter links als Zugang zu nutzen. Diese müsse allerdings verbreitert werden, da sie für die Feuerwehr zu schmal sei. Die Bewohner von Hinkels Wohnturm müssten dann aber über ein Nachbargrundstück zu ihrem Haus fahren können. Es gehört Erben im Nationalsozialismus enteigneter Juden, die heute in Israel leben. Eine Einigung zwischen Hinkel und den Investoren von nebenan ist bereits gescheitert. Nun will man einen neuen Anlauf nehmen.

Verleger zeigt Muskeln

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Arnold Schwarzenegger heuert bei einem Zeitschriftenverlag an - als Zuständiger für Bodybuilding-Magazine


Dem oscarprämierten Österreicher Christoph Waltz ist kürzlich die Ehre zu Teil geworden, die amerikanische NBC-Comedy-Show Saturday Night Live anzumoderieren. Dies, so wissen Kenner des amerikanischen Showgeschäfts, war zuvor noch keinem deutsch-sprachigen Prominenten vergönnt.

Nimmt man es aber nicht ganz so genau und berücksichtigt auch prominente Gastspiele in eingeblendeten Film-Schnipseln, gelangt man zu dem Schluss, dass der eher zierliche Herr Waltz bei seinem Auftritt in ziemlich großen Schuhen stand: denen von Mister Universum, seines Landsmannes Arnold Schwarzenegger. 1991, der Terminator war gerade in die Kinos zurückgekehrt, stand der berühmteste Sohn der Steiermark stocksteif in einem Klassenzimmer, während seine falschen Vettern Hans und Franz die Schulkinder über die Kunst der Kraftmeierei im allgemeinen und die Vorzüge der Ganzkörperrasur im speziellen aufklärten. Irgendwann wird es dem großen Arnold zu bunt. Er erinnert die Kinder daran, dass sie 'nicht den Karren vor das Pferd spannen' dürften. Erst trainieren, dann posieren, mahnt er.





Seine arbeitsethnischen Einsichten will Schwarzenegger künftig auch einem Fachpublikum näher bringen. Der 65-Jährige hat sich als 'Group Executive Editor' beim Großverlag American Media Inc. anwerben lassen, zuständig für die einschlägigen Titel Muscle & Fitness und Flex. Schwarzenegger, der schon so viele Rollen gespielt hat, soll als Mischung aus Chefredakteur und Herausgeber fungieren, Kolumnen schreiben, Ideen einbringen und den Magazinen mit seinen Kontakten dienen.

Offenbar freut er sich, über seine neue Aufgabe: 'Ohne diese Zeitschriften hätte es meine Karriere nicht gegeben', sagte Schwarzenegger. 'Sie haben mich angespornt, mit dem Gewichtheben zu beginnen und dann auch in die USA zu ziehen, um dort meinen Traum zu leben.' Wie die Verwirklichung dieses Traums aussah, ist hinlänglich bekannt.

Arnold hat Barbaren und Cyborgs verdroschen, eine Kennedy geheiratet und am Ende von 2003 bis 2010 Kalifornien regiert. Wer, wenn nicht der Gouvernator, sollte das Printmedium vor dem Untergang retten können? Die Zeitschriftenkrise ist auch an American Media nicht vorbeigegangen. Im November 2010 musste das hochverschuldete Verlagshaus Insolvenz anmelden. Allerdings verlief das Konkursverfahren glimpflich, da die Gläubiger schon zuvor einem Sanierungskonzept und einer Umschuldung zugestimmt hatten. Jetzt ist sogar Geld für Arnold übrig.

Schwarzeneggers Muskelpracht war schon mehr als 60 Mal auf den Titelseiten der beiden Body-Builder-Blätter zu bestaunen. Dass sich das frühere Model grundsätzlich zum Schreiben eignet, hat Schwarzenegger mit seiner im vergangenen Jahr erschienenen Biografie, Titel: 'Total Recall', unter Beweis gestellt. Das Buch stieß auf überwiegend positive Resonanz.

Auf 656 Seiten schildert er seine Jugend in der Alpenrepublik, seinen mühsamen Aufstieg in Amerika und seine Amtszeit als republikanischer Landesvater mitsamt seinen politischen Versäumnissen. Auch das Ende seiner langen Ehe und die Lügen, mit denen er seine Untreue verheimlichte, sparte Schwarzenegger nicht aus. 25 Jahre war er mit Maria Shriver verheiratet, der Nichte von Präsident John F. Kennedy - ein Emporkömmling und eine Tochter aus gutem Hause. Im Mai 2011 war Schluss, Schwarzenegger hatte eine Affäre mit einer Hausangestellten.

Zuletzt war der Lieblingsimmigrant der Amerikaner auch wieder auf der Leihwand zu sehen. In 'The Last Stand' war Arnold fast der Alte. Mit Sonnenbrille, Schießeisen - und einer erstaunlichen Portion Selbstironie.

Stuttgart 21 wird weitergebaut

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Trotz Milliarden Mehrkosten beschließt der Aufsichtsrat der Bahn, das Projekt fortzusetzen. Wer das bezahlt, ist noch strittig. Der Bahnhof kann frühestens Ende 2022 eröffnet werden

Die Bahn kann das umstrittene Projekt Stuttgart 21 trotz Mehrkosten von fast zwei Milliarden Euro weiterbauen. Der 20-köpfige Aufsichtsrat des Konzerns stimmte am Dienstag für eine Fortsetzung des Projekts. Es habe eine Gegenstimme und eine Enthaltung gegeben, hieß es nach der Sitzung aus Kreisen des Kontrollgremiums. Der Finanzrahmen für den unterirdischen Durchgangsbahnhof soll nun von bisher 4,5 Milliarden Euro auf 6,5 Milliarden Euro ausgeweitet werden.

Wie diese zusätzlichen Kosten zwischen den Projektpartnern verteilt werden, blieb jedoch vorerst offen. Bahn-Chef Rüdiger Grube sagte am Dienstag, über die Verteilung der zwei Milliarden Euro müssten die Projektpartner nun verhandeln. Die Bahn sei bereit, entsprechend des bisherigen Verteilungsschlüssels 40 Prozent der Gesamtsumme zu übernehmen. Der Aufsichtsrat, heißt es in einer Bahn-Mitteilung, habe auch den Vorstands-Vorschlag gebilligt, eine Beteiligung der Projektpartner an den Mehrkosten einzufordern' und notfalls gerichtlich durchzusetzen. Das Land Baden-Württemberg und die Stadt Stuttgart, beide grün regiert, bekräftigten am Dienstag ihr striktes Nein zu weiteren Zahlungen.

Trotz den gestiegenen Kosten kann Stuttgart 21 weitergebaut werden

Aufsichtsratschef Utz-Hellmuth Felcht betonte, man habe sich die Entscheidung nicht leicht gemacht. Das Gremium sei nach 'reiflicher Überlegung' zu seinem Beschluss gekommen. Aus Sicht des Aufsichtsrates habe der Vorstand 'plausibel dargelegt und in kritischen Diskussionen bestätigt, dass die Fortführung des Projekts für die DB wirtschaftlich vorteilhafter als ein Abbruch ist'. Zuvor habe man sich 'in mehreren Workshops sowie Dutzenden von Gesprächen ein umfassendes Bild über den Stand des Projekts verschafft' sowie ein 'unabhängiges Testat zweier Wirtschaftsprüfer eingeholt'.

Der Aufsichtsrat war am Morgen in der Berliner Bahn-Zentrale zusammengekommen, um über die Zukunft von S21 zu beraten. Die Bahn hatte im Dezember einräumen müssen, dass der unterirdische Durchgangsbahnhof statt der bislang veranschlagten 4,5 Milliarden Euro womöglich bis zu 6,8 Milliarden Euro kosten könnte. Zudem gehen interne Schätzungen der Bahn inzwischen von einer Inbetriebnahme 2022 aus; ursprünglich war 2019 geplant. Der Aufsichtsrat stand deshalb vor der schwierigen Aufgabe, über die Fortführung eines Projekts mit vielen Unsicherheiten zu entscheiden. Die Bahn hatte bereits mitgeteilt, dass sich S21 aus betriebswirtschaftlicher Sicht kaum noch rechne. Da jedoch bei einem Ausstieg Kosten in Höhe von rund zwei Milliarden Euro anfielen, sei der Weiterbau im Vergleich zum Ausstieg immer noch rentabler. Dieser Einschätzung schloss sich der Aufsichtsrat am Dienstag nach fünf Stunden Beratung mit klarer Mehrheit an. Bei der Entscheidung habe auch die unklare Finanzierung und Planungszeit für mögliche Alternativen eine Rolle gespielt, sagte ein Teilnehmer.

Schon vor der Entscheidung war der Bahnhofstreit in der grün-roten Koalition in Baden-Württemberg wieder aufgeflammt. Die Grünen sind gegen den Tiefbahnhof, die SPD ist dafür. Nachdem Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) erstmals 'konstruktive Gespräche' über Alternativen zu S21 angeboten hatte, sprach SPD-Landtagsfraktionschef Claus Schmiedel von einem 'beispiellosen Affront', weil Kretschmann von der gemeinsamen Regierungslinie abweiche. Kretschmann fehle die 'Vollmacht', über einen Ausstieg zu diskutieren.

Abrechnung mit Bon Jovi

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Bon Jovis neue Platte "What About Now" ist schwer ernst zu nehmen. Doch trotzdem sollte man ihr Respekt schenken.

Es gibt ja Tippfehler, die einem immer wieder passieren, 'Gürße' statt 'Grüße' zum Beispiel. Oder 'Leid' statt 'Lied' wenn man über das neue Bon-Jovi-Album schreibt. Ich gebe zu, der Bon und ich, wir werden keine Freunde mehr. Und ja: Der Typ heißt eigentlich Jon Bongiovi und füllt mit seiner Band Stadien in aller Welt. Jedes Räuspern wird ihm zum Hit. Und trotzdem ist es verdammt schwer, das, was er macht, ernst zu nehmen. Bon Jovi ist die Disney-World-Version von Rock"n"Roll: Man erkennt alles irgendwie wieder, nur ist es jeglicher Aufregung beraubt. Die Posen reißen nicht mit, die elektrischen Gitarren elektrisieren nicht. Bon Jovi machen ihren Job natürlich perfekt, aber es klingt eben immer alles nach: Job. Autoradio-Rock, der niemanden erschreckt und nach drei Sekunden schon altbekannt klingt.

 

Bon Jovi schafft es immer wieder, Stadien in der ganzen Welt zu füllen

Wer die neue CD 'What About Now' (Universal) hört, möchte schwören, dass er jedes Lied schon seit Jahren kennt. Dabei ist alles so herzlos auf Hit getrimmt, so kanten- und bruchfrei, so doppelt und dreifach lackiert und nachgeölt, dass nie echte Gefühle aufkommen. Perfektioniert wurde zum Beispiel die Kunstpause vor dem Refrain: Für einen Takt setzt etwa im Titelsong 'What About Now' die Musik aus, der Gesang steuert mit ein paar Silben auf den nächsten Takt zu, 2, 3, 4, alle gemeinsam setzen wieder ein, und Golffahrer in ganz Deutschland schalten automatisch einen Gang rauf und schieben ihre doofen Sonnenbrillen zurecht. So schematisch geht's dann weiter quer durchs Familienprogramm: Rock für den großen Bruder, Süßliches für die kleine Schwester, Herzschmerz für die Mama. Beim fünften Leid, äh: Lied ist dann höchste Zeit für die Ballade, hier heißt sie 'Amen' und genauso klingt sie auch - schrecklich.

Muss man diese Platte respektieren, nur weil sie so gut gemacht ist? Ja. Muss man sie deshalb lieben? Nein. Egal: Weder den Bon (ja, genau, Jon) noch seine Abermillionen Fans wird es interessieren, was wir hier daran auszusetzen haben. Sie werden sich trotzdem wie jeden Sommer im Fußballstadion ihrer Wahl treffen. Na dann: Viel Spaß.

Klum in Amerika

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Heidi Klum wohnt bereits seit 1993 in den USA. Nun steigt sie dort in den Fernseholymp auf und moderiert "America's got Talent".

Die neue Staffel von Germany"s next Topmodel begann am Donnerstag mit ein paar Impressionen aus Bergisch Gladbach. Heidi Klum trägt auf den wackeligen Super-8-Bildern das Haar kurz und braun und den knallorangen Pulli in die karierte Latzhose gesteckt. An anderer Stelle, hier ganz in Gelb mit Streifen, streckt die kleine Heidi ihren runden Bauch zwischen Hose und Shirt Richtung Kamera; und das Windelpaket federt die Stürze ab, wenn das pausbackige Mädchen auf den Popo fällt. Heidi Klum, das Model, erklärt dazu aus dem Off, dass sie 'aus einer ganz normalen Familie' gekommen sei - in diese Welt voller Glamour und Pro-Sieben-Kameras.

Die Karrieregeschichte der Heidi Klum gilt in Deutschland als so etwas wie das fleischgewordene Provinzmärchen. Heidi, Tochter des gelernten Chemiefacharbeiters Günther und seiner Frau Erna, wurde im Fernsehen von Thomas Gottschalk bei einem Modelwettbewerb entdeckt und in die öffentliche Wahrnehmung gespült. Wie Vater Günther von Bergisch-Gladbach aus seit Jahren die Klumsche Vermarktungsmaschine zu steuern weiß, dürfte zwar PR-Profis von Hamburg bis München unter den Hornbrillen erblassen lassen, aber so richtig ernst genommen, als Model, als Star, hat man sie eigentlich nie. Wie sagte doch einst Karl Lagerfeld: 'Ich kenne sie nicht. Claudia, er meinte Claudia Schiffer, kenne 'die auch nicht'. Und: 'Die war nie in Paris, die kennen wir nicht.' Bam.

Heidi Klum moderiert nun auch die amerikanische Version von "Das Supertalent"

Seit 1993 aber lebt Heidi Klum in den USA, und dort hat sie erst vor ein paar Tagen auf einem sehr berühmten Tisch getanzt, auf Jay Lenos in der Tonight Show. In den amerikanischen Medien hat dieser hüftschwingende Auftritt eine wahre Welle der Begeisterung ausgelöst. Heidi, das nordrhein-westfälische Naturwunder, ist in Amerika ein echter Exporthit. Unsere Heidi ist schon lange deren Heidi geworden. Wenn das frische deutsche Fräulein jedes Jahr in Los Angeles zur Halloween-Party einlädt, ist die örtliche Boulevardpresse thrilled. Und wenn Heidi Klum samt Familie im deutschen Karneval auftritt? Ach Gottchen.

Man muss das alles wissen, um das neue Engagement der amerikanischen Fernsehstars Heidi Klum auch wirklich richtig einordnen zu können: Heidi Klum wird Mitglied der Jury von America's got Talent, der US-Ausgabe von Das Supertalent, nur vollkommen ohne Dieter Bohlen, dafür mit dem ehemaligen Spice Girl Mel B und immerhin Howard Stern. Aber habt keine Angst, schrieb die Los Angeles Times , der neue Job bedeute nicht, dass Klum deshalb ihre andere TV-Show aus dem Programm nähme. Bei Project Runway, wo zur Abwechslung Designer gecastet werden, ist Klum Jurorin und Moderatorin.

Kinderkram

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Eine App für die Lagerbestände, das Kaufverhalten oder die Auftragsstatistik. Wie Unternehmen ihre Belegschaft mit speziellen Onlineanwendungen fördern und fordern.

Hannover - Jochen Glaser zieht den Finger übers iPad. Vier Kästchen tauchen auf dem Bildschirm auf. Das oben links stellt seinen Laden dar, die anderen weitere Verkaufsstellen des Mobilfunkanbieters O2. Lässt er sich in seinem Kästchen die Verkäufe der vergangenen Woche anzeigen, färben sich zwei andere rot, eines grün. Bei zwei Kollegen also lief das Geschäft schlechter, bei einem besser als bei ihm.



MIt speziellen Apps versuchen Unternhemen ihre Belegschaft für etwas zu interessieren oder ihr etwas beizubringen.

Glaser verkauft keine Handys und Mobilfunkverträge. Er verkauft die App Roambi, die solche spielerischen Vergleiche ermöglicht. Der Mobilfunkanbieter O2 ist einer seiner Kunden. Weltweit nutzen mehr als 112000 Firmen eine ähnliche App fürs iPad oder das iPhone. Banken schauen sich so die Zahlungsmoral ihrer Kundschaft an; Industrieunternehmen die Lagerbestände in ihren Fabriken. Glaser sagt: 'Die Menschen haben sich daran gewöhnt, dass Technik so einfach wie ein Spiel ist. Wir nehmen all die Daten, die Unternehmen sammeln - und bereiten sie genau so auf.'

Das Unternehmen Mellmo, das die Apps anbietet, gründete vor fünf Jahren Santiago Becerra in Kalifornien: Er hatte, damals im Sommer 2007, als die Leute vor Apples Läden fürs erste iPhone Schlange standen, Zeit zum Nachdenken. Sein voriges Start-up, das ebenfalls große Datenmengen sortierte, hatte er gerade verkauft. Und nun sah er auf einmal, wie spielerisch die Leute mit einem Handy umgingen. Also machte er sich daran, auch trockenem Zahlenwerk etwas Spaß zu verleihen.

Den Spieltrieb ihrer Mitarbeiter nutzen Unternehmen bereits seit einer Weile. Vor allem in speziell konzipierten Computerspielen versuchen sie, die Belegschaft für eine Sache zu begeistern oder ihr etwas beizubringen. Siemens lässt von seiner amerikanischen Belegschaft virtuelle Werke auf Vordermann bringen, der Klinikbetreiber Helios ein virtuelles Krankenhaus managen; bei Lufthansa können die Mitarbeiter Routen planen und Kerosinpreise prüfen, bei Daimler Felgen putzen und Motoren reparieren. In den Spielen sammeln sie Punkte und messen sich so mit den Kollegen. Vor allem aber sollen sie auch die Abläufe und die Produkte verstehen, mit denen sie nicht tagtäglich zu tun haben.

Die Marktforscher von Gartner schätzen, dass es bis zum nächsten Jahr weltweit in etwa 70 Prozent aller großen Unternehmen eine spielerische Anwendung geben wird - um die eigenen Mitarbeiter zu motivieren und neue zu gewinnen, um Kunden bei Laune zu halten, um neue Produkte zu entwickeln.

Manche Wissenschaftler verdammen solche Spielereien und verweisen darauf, dass mit ihnen die Konzentration und die Fähigkeit, sich etwas zu merken, sinke. Andere preisen die neuen Möglichkeiten: Lernen werde so nicht mehr als lästige Pflicht empfunden. Und deshalb bleibe das, was man sich spielerisch aneigne, auch besser hängen. In seiner Freizeit spielt schon heute etwa jeder dritte Deutsche - und immer mehr von ihnen tun dies auf ihren Smartphones und Tablets.

Noch, so sagt Glaser, sind die Deutschen im Vergleich zu den Amerikanern, aber auch zu den Menschen in der Schweiz, in Südafrika oder Russland, zwar etwas zurückhaltend. Doch selbst ein Mittelständler wie Alulux, der Garagentore fertigt, setze die App im Vertrieb inzwischen ein. Solange nur in virtuellen Welten gespielt wurde, fürchteten manche Firmen, dass über dem Punktesammeln die eigentliche Arbeit liegen bleibt. Nun, da es um reale Verkäufe geht, fürchtet manch ein Angestellter eine noch umfassendere Kontrolle durch den Chef.

Schokokugeln in der Kalkhöhle

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Mit dem Buch 'Schnee, der auf Zedern fällt' ist David Guterson einst berühmt geworden. In seinem neuen Roman 'Der Andere' erzählt der amerikanische Schriftsteller jetzt vom Untergang der Illusion des 'wilden' Lebens.

In der Schule sei er 800-Meter-Läufer gewesen, bekennt Gutersons Ich-Erzähler. Kein einsamer Langstreckenläufer, kein Sprinter und ein Sieger schon gar nicht. Überhaupt sei er am besten mit dem Mittelfeld vertraut, und ohne jenen Schulwettbewerb wäre er seinem Jugendfreund und 'Doppelgänger' wohl nie begegnet - John William, dem Reiche-Leute-Sohn, dem Zögling einer Eliteschule, der später 'sieben Jahre in den Wäldern lebte und mir vierhundertvierzig Millionen Dollar vermachte'. Man ist zunächst ein wenig verstimmt, wenn einem das Thema Mittelklasse und ein - auch im Original auf Deutsch eingeführtes - 'Doppelgänger'-Motiv so unter die Nase gerieben und mit einer Riesensumme garniert werden. Aber Gutersons Ich-Erzähler Neil Countryman ist ein später Debütant aus dem entlegenen Seattle, ein Englischlehrer, der nach jahrzehntelangem Zögern seinen ersten Roman geschrieben hat. Auch Guterson war Englischlehrer und ein Doppelgänger seines Protagonisten, bis sein Debütroman 'Schnee, der auf Zedern fällt' (1994) zum Weltbestseller wurde.



Der US-Schriftsteller David Guterson, 2012 auf der Buchmesse in Leipzig. Das neue Buch von Guterson mit dem Titel 'Der Andere' ist jetzt in Deutschland erschienen.

'Der Andere', in den USA 2008 als 'The Other' erschienen, ist ein Buch über Freundschaft und Verrat, über den amerikanischen Traum und seinen Preis, ein Meisterwerk des literarischen Regionalismus und zugleich eine Reflexion seiner literarischen Quellen. Seinen Titel hat Guterson bei Arthur Rimbauds 'Je est un autre' entlehnt, und manchmal hat man den Eindruck, es ginge hier nicht nur um zwei Freunde, von denen der eine seine kleine, systemkonforme Karriere macht, während der andere als Aussteiger umkommt, sondern um die nie bis ins Letzte hinein erzählte Beichte eines Brudermords.

Was den Erzähler und seinen Doppelgänger verbindet, ist ihre Leidenschaft für die amerikanische Wildnis, in der John William ohne Hilfsmittel auszukommen sucht. Es ist jenes pure Amerika, dessen überreiche Natur den amerikanischen Traum vom Schöpfen aus dem Unerschöpflichen genährt hat. John Williams Vorfahren sind dabei reich und prominent geworden, während die Countrymans Generationen von Schreinern hervorgebracht haben. Als die Freundschaft der beiden beginnt, ist Nixon Präsident, und im Staate Washington gibt es noch weglose Areale, deren größtes die Fläche Belgiens überbietet. John William bewegt sich darin mit der traumwandlerischen Sicherheit eines jungen Mannes, der nicht um jeden Preis überleben will.

Eigentlich das Urbild des netten Jungen, der selbstverständlich ein vorbildlicher Pfadfinder war, wird John William von depressiven Schüben heimgesucht und sucht nach einem Ausweg aus der 'Unglücksmaschine' seines Lebens. Einmal hat er ein Aufsatzthema verfehlt und statt über 'Wie es euch gefällt' über den finsteren Gott der Gnosis geschrieben, 'den man nur durch Missachtung seiner Gebote überwinden konnte'. Jetzt verkündet er in seiner Klause: 'Ich schmuggle mich an Gott vorbei', und fügt hinzu 'zu unserer aller Mutter', aber das registriert sein Freund nur am Rande.

Was John Williams leibliche Mutter ihrem Sohn in dessen früher Kindheit angetan hat, erfährt man erst gegen Ende aus der späten Beichte seines greisen Vaters. David Guterson nutzt die Unerfahrenheit, die er seinem Ich-Erzähler zuschreibt, um dessen Geschichte subtil auszubremsen. Auf den Paukenschlag der Millionenerbschaft folgt so ein langer Mittelteil, der die Jugend der beiden Freunde umfasst, doch manches erst spät und am Rande durchblicken lässt.

Neil Countryman finanziert sein Studium durch den Verkauf von Kaminholz, macht eine - ausführlich beschriebene - Europareise und lernt dabei seine spätere Frau kennen. Sein Leben findet in der von John William verspotteten 'Hamburger-Welt' statt. John William wiederum gerät auf der Seite der frühen Öko-Aktivisten mit dem Gesetz in Konflikt, und zieht sich schließlich an einen fast unzugänglichen Ort in der Wildnis zurück, wo er nahe einer heißen Schwefelquelle seine Einsiedlerhöhle aus dem Kalkfelsen schlägt. An jenem Ort, der nur den beiden bekannt ist, wird John Williams Leben zu Ende gehen.

Es gibt unbeschwerte Jugendszenen, wenn der Einsiedler und sein Besucher mit manischem Eifer auf die Wände der nur langsam wachsenden Kalkhöhle einschlagen, um dann zur Entspannung beim Bad in der heißen Quelle die aktuellen Hits der 1970er-Jahre zu hören, über Literatur zu philosophieren, Joints zu rauchen und Schokokugeln zu essen. John William weiß nicht nur manche Produkte der 'Hamburger-Welt' zu schätzen; er hat seinem Freund auch geholfen, sich kommod darin einzurichten. Neil wiederum fühlt sich jenen indischen Dorfbewohnern verwandt, die in Rudyard Kiplings Erzählung 'Das Wunder von Purun Bhagat' einen seltsamen Heiligen versorgen.

John Williams Einsiedelei bleibt geheim - die beiden Doppelgänger haben das mit Blut besiegelt. Dann kommt ein Winter, in dem ein verletzter Knöchel Neil an einer Versorgungsfahrt hindert. 'John William starb', heißt es: 'Ich konnte mir vorstellen, wie er lesend am Feuer gesessen hatte und dann aufgestanden und vielleicht ohnmächtig geworden war, weil neben seinen Beinen eine Wasserflasche lag und bei seinen ausgestreckten Händen im Dreck Einhundert Gedichte aus China. Selbst jetzt konnte ich nicht weinen, bei dem Gedanken, dass John William kurz vor seinem Tod Tu Fu oder irgendeinen anderen chinesischen Lyriker gelesen hatte, der schon seit eintausend Jahren tot war.'

Rund um diese Sätze entfaltet Guterson eine der eindringlichsten Todes- und Grablegungsszenen der amerikanischen Literatur - so beklemmend in ihrer Sachlichkeit, dass einem jener Satz leicht entgehen kann, der unmittelbar auf die lakonische Todesmeldung folgte: 'Ich werde hier niemandes Interesse an forensischen Details befriedigen.' Man kann das als Absage an die populären literarischen Leichenschauen verstehen, aber der Ausdruck 'forensisch' bezeichnet kriminalistische Verfahren.

Hat der talentierte und von seinem Gewissen geplagte Mr. Countryman seinen reichen Freund nicht nur im Stich gelassen, sondern dessen Tod mitverursacht? Hat er den psychisch labilen John William mit subtilen Manipulationen an einen Ort gebracht, wo er von ihm abhängig war? Je genauer man die Geschichte unter die Lupe nimmt, desto stärker treten solche Verdachtsmomente zutage - aber auch deren Widerlegung. 'Der Andere' ist kein Kriminalroman. Einsam in der Wildnis zu leben, heißt auch, einsam in der Wildnis zu sterben. Und einen Freund einsam in der Wildnis leben zu lassen, heißt auch, einen Freund einsam in der Wildnis sterben zu lassen.

John William ist als Doppelgänger des Erzählers die Verkörperung romantischer Lebensentwürfe. Er ist reich und zugleich Aussteiger, gebildet und zugleich Naturbursche. Dann ist er tot, und sein Erbe gesteht: 'Natürlich bin ich ein Heuchler und lebe damit, aber ich lebe.' Das ist nicht das hohe Lied des amerikanischen Mittelstandes und des Erwachsenwerdens. Es ist die Bilanz eines Amerikaners, der sein besseres Ich in der Wildnis zurückgelassen hat, wo es nach einigen wunderbaren Jahren immer dünner und blasser geworden und endlich ganz verblichen ist. Was er nun mit all dem Geld anfangen soll, weiß Neil nicht so recht. Seine Jugend mit ihren raren Momenten der Unbeschwertheit liegt hinter ihm, begraben in einer Kalkhöhle und einem Buch.

David Guterson: Der Andere. Aus dem Englischen von Georg Deggerich. Verlag Hoffmann & Campe, Hamburg 2013. 352 Seiten, 22,99 Euro.

Die Nerd-Nazis

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Sie lehnen Kameradschaften und die NPD als schlicht und lasch ab. Die neuen Rechten sind gut geschult und im Internet aktiv. Aussteiger berichten über Entwicklungen der rechten Szene.

Dresden - Der NPD-Chef gewährte Audienz, und die rechtsradikalen Kameraden aus Dresden durften dazu in Holger Apfels Privathaus im sächsischen Riesa kommen. Was Robert dort sah, gefiel ihm ganz und gar nicht. Wie 'eine Bonzenvilla' kam ihm das Haus vor, in dem Apfel mit seiner Familie wohnt, und 'einen dicken Mercedes' will er davor bemerkt haben. Tatsächlich hatte die NPD-Fraktion im sächsischen Landtag, der Apfel vorsteht, damals zwei Limousinen der Stuttgarter Marke als Dienstwagen geleast. Das aber passte zu dem Bild, das sich der junge Extremist von den Repräsentanten der wichtigsten rechtsradikalen Partei im Lande gemacht hatte. Als 'arrogant' und 'intrigant' empfand er den damaligen Bundesvize und heutigen Vorsitzenden. Die Verachtung, mit der Robert und seine rechten Kameraden auf die NPD und ihren Chef blicken, verdichtet sich in einem Satz: 'Der Apfel lebt den NS nicht.'



Außen Nerd - innnen Nazi. Die neuen Rechten sind gut geschult und nutzen das Netz.

Der NS - so heißt der Nationalsozialismus im Jargon der jungen Ultraradikalen. Und Robert hat ihn bewundert, verehrt, gelebt, diesen NS. '16 Jahre lang', sagt der heute 25-Jährige. Seit er ein Kind war also, und noch bis vor wenigen Wochen. In der Adventszeit ist er ausgestiegen. Oder vielmehr: Seit damals steckt er in dem mühseligen Prozess des Ausstiegs aus einer Szene, die sein ganzes Leben bestimmte. 'Der NS ist so etwas wie eine Droge', sagt er, 'ich bin auf Entzug.'

Darum redet Robert, der natürlich ganz anders heißt, sogar mit Leuten, denen er - jedenfalls noch bei einem ersten Treffen zwei Wochen nach seinem Ausstiegsentschluss - als 'Systemjournalisten' misstraut. Doch er scheint das Gespräch gerade darum zu suchen, um sich den Weg zurück zu verbauen. Deshalb gibt er jenen, die den Rechtsradikalen als Feinde gelten, Einblick in das Innenleben einer Szene, die sich sonst gerne abschottet - in das Milieu der neuen Neonazis jenseits der schrumpfenden NPD. Diese Szene hat nach den Eindrücken der staatlichen Verfassungsschützer in den vergangenen Jahren zusehends mehr Anhänger und Einfluss am rechten Rand gewonnen. So zählte das Bundesamt für Verfassungsschutz 2009 noch 5000 Neonazis in der Republik, zwei Jahre später waren es schon 6000.

Robert war einer von ihnen. Er war fast immer dabei, wenn sich die führenden Kameraden aus der Dresdner Umgebung monatlich in ihrem Club'Baubude' im Stadtteil Reick zum Stammtisch trafen. Er kam zu den regelmäßigen Vorträgen und Seminaren, zwei Mal im Monat reiste er zu Aufmärschen und Kundgebungen in ganz Sachsen und auch mal darüber hinaus. Und in seinem Heimatort nahe Dresden machte er regelmäßig bei den Aktionen der Kameraden mit. 'Tags haben wir Flugblätter verteilt, nachts ging es zum Sprühen' - nämlich von Nazi-Parolen an Hauswände. 'Es gab keine Woche', sagt er heute, 'in der man nicht mindestens zwei, drei Tage mit dem NS beschäftigt war.'

Nur an Gewalt - 'gegen Zecken, gegen Türken, gegen Juden', wie er sie nennt - will er sich nie beteiligt haben. 'Keine Straftat, nicht einmal eine Anzeige' habe er auf seinem Konto, sagt er und nippt an seinem Mineralwasser. Selten trinke er Alkohol, 'mal ein Bier', aber 'betrunken war ich eigentlich noch nie'. Dem Klischeebild von Kameradschaften, das in der Außenwelt immer noch besteht, wollen die neuen Neonazis nicht mehr entsprechen. Glatzen, Springerstiefel, Bomberjacken - die Zeiten, in denen sich Nazis schon an ihrem Äußeren erkennen ließen, sind längst passé. Robert trägt einen Kapuzenpulli, mit dem er auch unter Linksautonomen nicht auffallen würde. Von martialischem Auftreten hat er nie etwas gehalten: 'Da hatten Kinder und Mütter Angst vor uns, das Ziel bringt so etwas nicht voran' - das Ziel NS, versteht sich.

Natürlich gibt es sie noch, die 'Doof-Kameradschaften', wie Robert sie nennt. Die Gruppen, die sich in tristen Garagensiedlungen zu ohrenbetäubender Nazi-Musik mit Bier und Schnaps zulaufen lassen und am Wochenende im Stadion Hooligan spielen. 'Es gibt viele Idioten in der Szene', sagt er. 'Laufburschen' nennt er solche Typen. Oder auch: 'Kanonenfutter'. Die wurden dann vorgeschickt, 'wenn die Zecken kamen', wie in der Szene alle heißen, die dem rechten Mob entgegentreten. Doch die Leute, die bei den neuen Nazis das Sagen haben, bleiben im Hintergrund.

'Das sind nicht alles Dummies und Brutalos', sagt Robert, 'die sind straff organisiert.' Allerdings längst nicht mehr in festen, überschaubaren und dadurch kontrollierbaren Strukturen wie Parteien, Vereinen oder Kameradschaften. Neue Nazis bilden Netzwerke im Internet und unterhalten so engste Verbindungen mit Kameraden im In- und Ausland. Blitzschnell lassen sich aus dem Netz Aktionen organisieren wie ein Fackelzug von 350 mit weißen Masken verkleideten Neonazis durch das nächtliche Bautzen, kurz darauf schon netzöffentlichkeitswirksam als rasant geschnittener Clip auf YouTube zu sehen: 'Die Rechten', sagt Robert, 'sind extrem professionell geworden.'

Und wenn die Innenbehörden einzelne Gruppen wie die brandenburgischen 'Spreelichter' verbieten und ihre Netzseiten sperren, sind die gleichen Leute unter neuem Namen und neuer Adressen kurz darauf wieder online.

In den bisweilen beunruhigend kreativen Köpfen der Szene wie 'Spreelichter'-Chef Marcel Forstmeier sieht Robert die Ikonen dieser neuen Nazis, die sich als Elite der Bewegung gebärden. Bei den Treffen von Dresdens 'Netzwerk Mitte' in der 'Baubude', die Robert regelmäßig besuchte, standen nicht Saufen und Rüpeln, sondern vor allem Schulungen - von Rhetorik bis zum Umgang mit Behörden - auf dem Programm. So genannte Lesezirkel betrieben die Exegese nationalsozialistischer und revisionistischer Literatur. 'Asoziale', sagt Robert, 'haben da keinen Platz.'

Auch er selbst ist über das Lesen 'zum NS gekommen'. Die Eltern arbeiteten in Schichtarbeit und merkten nicht, dass der Sohn in der dritten Klasse große Schwierigkeiten hatte. Der große Bruder eines Sandkastenfreundes aber wurde aufmerksam: 'Er hat mir Lesen und Schreiben beigebracht' - und zwar anhand von Texten, die Wehrmacht und Nationalsozialismus verherrlichten. Schnell lernte der Bub Runen zu lesen und germanische Mythologie kennen. So zogen die Führer der Kameradschaft in seinem Heimatort den Teenager immer tiefer in die Szene. Wandern, Sommerlager, Überlebenstraining, Kampfsport, mal auch eine Schießübung mit alten Karabinern, vor allem aber immer wieder Schulungen - so wurden und werden junge Leute in die Ideologie eingesponnen.

Mit denselben Methoden hat Robert später seinerseits Jüngere geworben. Da er für Szeneverhältnisse gut reden kann, war er mit einer Sonderaufgabe betraut: potenzielle Führungskräfte zu finden. Akquise an Gymnasien hieß das: 'Die Gebildeten brauchen wir, damit der Laden läuft.'

Einer, den er rekrutiert hat, ist Martin. Er ist 17 Jahre alt, trägt modischen Cord und akkuraten Haarschnitt. Er besucht das Wirtschaftsgymnasium und schloss vor zwei Jahren die Regelschule als Klassenbester mit Note 1,6 ab. Martin, der natürlich auch anders heißt, will Jura studieren. Er wohnt im Nachbardorf von Robert. Vor etwa zwei Jahren lernten sich die beiden kennen. Martin interessierte sich damals besonders für Geschichte und hatte eine Vorliebe für den Nationalsozialismus. Im Laufe der Zeit verinnerlichte er die NS-Propaganda, jetzt hat er sich zusammen mit Robert für den Ausstieg entschieden.

Vom Ausländerhass sei er weg, erzählt er, einer seiner besten Freunde ist Araber. Döner esse er, und auch bei McDonalds, beides für die rechten Ultras ein Tabu. Doch die Ideologie sitzt tief. 'Ich weiß, dass es falsch ist. Aber dieser Antisemitismus ist noch drin', sagt Martin, und im nächsten Moment spricht er von der 'roten Blutspur des Zionismus' und dem 'Trieb der Juden, Kriege anzuzetteln', wenn er erklären will, was ihn nach rechtsaußen getrieben hat. Dann hält er inne. 'Wir haben eine Klippe übersprungen, aber einen NS-Rucksack tragen wir immer noch mit uns rum.' Martins Schwester hatte Hilfe gesucht. Und der Ausstiegshelfer Michael Ankele schaffte es, mit dem Jungen ins Gespräch zu kommen. 'Er ist sehr intelligent und wäre für die Szene Gold wert', sagt Ankele.

Mit der NPD haben die Extremradikalen längst gebrochen. Die Partei ist ihnen zu lasch, von Ausnahmen abgesehen: NPD-Vize Udo Pastörs genießt noch Ansehen, weil er in Mecklenburg-Vorpommern offen antisemitische Hetzreden hält. Angewiesen auf die NPD sind die Freien Kameradschaften und Autonomen Nationalisten nicht mehr. Der betriebene Handel mit Neonazi-Musik spült reichlich Geld in die Kassen der Bewegung. Manchmal, so erzählt Robert, veranstalten Neonazis sogar Techno-Partys ganz ohne rechte Musik.

Bleibt die Frage nach dem Verhältnis der neuen Nazis zur Gewalt. Die Morde des 'Nationalsozialistischen Untergrunds' seien unter ihnen 'nie ein Thema gewesen', behauptet Robert. Sie seien allenfalls verschwörungstheoretisch als vom Verfassungsschutz gesteuertes Phänomen gedeutet worden. Die neue Generation, so der Aussteiger, halte Terror für kontraproduktiv - allerdings nur für den Moment: 'Wenn die Revolution kommt, wird es viele geben, die bereit sind, Leute umzubringen, Linke, Ausländer, Schwule.'

Er selbst, sagt Robert, habe nie eine Waffe besessen, und die 16000 Titel an rechtsradikaler Musik, die er gesammelt hat, will er gerade nach und nach 'abfackeln'. Zum Ausstieg gebracht haben ihn seine Zweifel und Depressionen, die in der NS-Welt, in der nur Stärke zählt, als Zeichen nicht zu duldender Schwäche gelten. Und eine 16-jährige Freundin, die ihn 'ohne jeden Vorwurf' gefragt habe, was ihm sein Leben im NS gebracht habe: 'Eigentlich', so seine Antwort, 'nur Hass und Wut.'

Obamas Agenda 2014

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Nach der Wiederwahl im November ist das Regieren in Washington nicht leichter geworden. Statt Reformen gibt es politische Erstarrung. Doch es mehren sich die Anzeichen, dass Obama dies nicht hinnehmen will.


  Vor ein paar Wochen hat John Boehner gesagt, Präsident Barack Obama wolle die Republikaner 'vernichten'. Der Chef der Republikaner im Parlament übertreibt oft, wenn er sich ärgert. Tatsächlich möchte Obama die Rechte wohl nicht gerade vernichten, doch wäre sie für den Rest seiner Präsidentschaft geschlagen, käme ihm das sehr gelegen.



Mit der Wahl im November nämlich ist das Regieren in Washington nicht leichter geworden. Obama ist Präsident geblieben, die Republikaner haben die Mehrheit im Abgeordnetenhaus behalten, und das Ergebnis ist politische Erstarrung. Doch mehren sich die Anzeichen dafür, dass Obama dies nicht hinnehmen will: Offenbar hat er sich das strategische Ziel gesetzt, bei der Zwischenwahl Ende 2014 die Mehrheit für seine Demokraten in der ersten Parlamentskammer zurückzugewinnen.

Sollte dies gelingen, wäre er in einer selten glücklichen Lage. In ihren letzten Jahren an der Macht gelten Präsidenten mit zwei Amtszeiten meist als 'lahme Enten'. Sollte Obamas mutmaßlicher Plan aber aufgehen, könnte er gerade dann all jene Reformen umsetzen, die er bisher nur ankündigen kann - zum Beispiel ein neues Waffen- und Einwanderungsrecht, mehr Klimaschutz oder ein langfristiges Konzept zur Sanierung der Staatsfinanzen.

Obama hatte seine Präsidentschaft Anfang 2009 mit großer Machtfülle angetreten, in beiden Parlamentskammern waren die Demokraten in der Mehrheit. Damals setzte er etwa seine historische Gesundheitsreform durch. Im Herbst 2010 aber eroberten die Republikaner die Mehrheit im Abgeordnetenhaus zurück. Seitdem liegen Präsident und Parlament in einem lähmenden Dauerkonflikt, vor allem um Staatsfinanzen und Steuerrecht.

Eine Reihe von Indizien legt allerdings nahe, dass sich Obama mit diesen unklaren Verhältnissen nicht abfinden möchte. Am vergangenen Freitag erklärte er: 'Ich kann den Kongress nicht zwingen, das Richtige zu tun. Das amerikanische Volk aber mag dazu in der Lage sein.' Anders als in seiner ersten Amtszeit versucht Obama kaum noch, mit den Republikanern zu verhandeln. Stattdessen reist er scheinbar wahlkämpfend durchs Land, umgibt sich mit normalen Bürgern und klagt den Kongress an, selbst die populärsten Reformprojekte zu verhindern. Immer beharrlicher drängt Obama die Rechte in die Ecke der Neinsager, Verhinderer, Spielverderber.

'Der Präsident weiß, dass er eine Mehrheit der Demokraten im Abgeordnetenhaus braucht, wenn er etwas erreichen möchte', sagte der demokratische Abgeordnete und Stratege Steve Israel jüngst der Washington Post. 'Wenn er 2016 ein Vermächtnis haben will, braucht er 2014 eine Parlamentsmehrheit, und diese Arbeit muss jetzt beginnen.'

Obamas Rede zur Lage der Nation vor wenigen Woche klang bereits wie eine linke Parteitagsrede. In diesem Jahr wird Obama an acht Fundraisern teilnehmen, um Geld für demokratische Kandidaten zu sammeln; 2009 hatte er nur zwei dieser Veranstaltungen besucht. Auch möchte er seine hocheffiziente Wahlkampfmaschine, die jetzt 'Organizing for Action' heißt, für Parteifreunde einsetzen. Noch in der Wahlnacht im November, kurz nach der Siegesrede, soll Obama seinen Parteifreund Steve Israel angerufen und ihm versprochen haben, von nun an für die Parlamentsmehrheit zu kämpfen.

Das Anliegen ist ehrgeizig. Seit Franklin D. Roosevelt ist es nur einem Präsidenten gelungen, bei der Zwischenwahl in seiner zweiten Amtszeit neue Sitze zu gewinnen: Bill Clinton im Jahr 1998, damals war er deutlich beliebter als Obama jetzt. Meist nutzen die Bürger Zwischenwahlen, um ihrem Präsidenten eine Lektion zu erteilen. Die Demokraten müssten im kommenden Jahr 17 Sitze dazugewinnen, um wieder die Mehrheit zu stellen. Amerikas Statistik- und Prognose-Guru Nate Silver sagte schon im November voraus, dass es den Demokraten kaum gelingen werde, so viele Mandate zurückzuholen. Im Jahr 2014 werde das politische Klima neutral sein oder allenfalls die Rechte begünstigen.

Das Weiße Haus dementierte Anfang der Woche, dass sich der Präsident schon wieder im Wahlkampf befinde. 'Natürlich wünscht der Präsident seinen Parteifreunden Erfolg, aber darin liegt im Augenblick nicht sein Schwerpunkt', erklärte sein Sprecher Jay Carney. 'Er bemüht sich um einen überparteilichen Konsens.' Wer den Präsidenten beobachtet, sieht allerdings etwas anderes, und schwache Dementis wie dieses bestätigen oft das, was sie eigentlich widerlegen sollen.

Des Diktators kleine Hose

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Ein Silberteller von der CIA, Handschellen des Palästinenser-Führers Marwan Barghuti und ein Bild mit Ex-Bundespräsident Roman Herzog: Jemens Ex-Machthaber verewigt sich in einem eigenen Museum


Gaddafi ist tot, Mubarak im Gefängnis, Ben Ali im Exil. Und wie die Dinge liegen, wird es auch mit Baschar al-Assad kein gutes Ende nehmen. In Jemen aber eröffnet der gestürzte Diktator Ali Abdullah Salih demnächst sein eigenes Museum. Verglichen mit seinen Kollegen in Libyen, Ägypten, Tunesien und Syrien hat er die Wut seines Volkes teflonartig abperlen lassen, hat nicht gar so viel Blut vergossen und sich seinen Abschied durch Immunität versüßen lassen. Deshalb kann er sich öffentlich von Anhängern bejubeln lassen. Deshalb hat er als einziger Ex-Autokrat des arabischen Frühlings ein eigenes Museum eingerichtet, im ersten Stock einer Moschee, die seinen Namen trägt.



Unter ästhetischen Gesichtspunkten ist sein Museum eine Kollektion von ausgesuchter Geschmacklosigkeit - goldene Standuhren aus Kamelen, ein Berliner Bär, krumme und krummste Dolche, ein Gemälde, auf dem Salih ein Holzboot durch bewegte See steuert. Politisch aber ist es ein Meilenstein, sagt Museumsdirektor Abbas Mohammed al-Nuera: Dies nämlich sind Geschenke von Staatschefs aus der ganzen Welt, gesammelt in Salihs über dreißigjähriger Amtszeit, die dann mit einem Aufstand endete. 'Aber die Gaben zeigen, dass unser Präsident in der ganzen Welt respektiert wird. Alle sind wunderbar mit ihm ausgekommen.'

Neben einem Silberteller von der CIA, den Handschellen des Palästinenser-Führers Marwan Barghuti und einem Bild Salihs mit Ex-Bundespräsident Roman Herzog, das irrtümlich in der Frankreich-Vitrine hängt, findet sich als Herzstück ein Exponat von makabrer Sensation: Hinter Glas ist dort die verbrannte, aufgerissene, ziemlich kleine Hose ausgestellt, die Salih trug, als er 2011 beim Gebet in der Moschee seines Palastes Opfer eines Bombenanschlags wurde. Der Gebetsteppich - wundersam unversehrt - hängt neben dem Fetzen, darunter in Glasflaschen die Splitter, die saudische Ärzte aus Salihs Leib operierten.

Abgesehen von den politischen Umständen ist die Idee nicht ungewöhnlich. Auch Ägyptens Hosni Mubarak ließ Liebesbeweise aus aller Welt in seiner Kairoer Residenz ausstellen. Wie bei Salih zählten zu seinen Geschenken haufenweise Waffen, vor allem von befreundeten Diktatoren. Und natürlich ließ Gaddafi die Geschichte der libyschen Revolution als persönliche Leistung abbilden. Interessanterweise enden nicht alle Huldigungen mit dem Ende der Diktatur. Zwar wurde im albanischen Tirana das Enver-Hodscha-Museum dekontaminiert, Rumänien aber eröffnete vor einigen Jahren ein Haus zu Ehren Nicolae Ceausescus. Dort soll unter anderem ein Bärenfell ausgestellt worden sein, das dieser selbst erjagt hat. Ein Klassiker war jahrzehntelang das Stalin-Museum in der georgischen Heimatstadt des Diktators, das erst jetzt zur Gedenkstätte für seine Opfer werden soll.

Überhaupt ist ja immer die Frage, ob die Aufarbeitung einer Diktatur unverzüglich mit deren Ende beginnen kann oder erst später. In Jemens Hauptstadt Sanaa jedenfalls bezweifeln viele, dass Salih überhaupt entmachtet wurde, wo er doch nicht mal den Vorsitz seiner Partei aufgegeben hat. Damit immerhin stünde der Eröffnung seines Museums nichts im Wege. Salih, der Fuchs, wird den idealen Zeitpunkt finden.

Angriff mit dem Fleischermesser

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Nach der Ermordung einer Angestellten im Jobcenter Neuss steht der mutmaßliche Täter vor Gericht - sein Motiv ist unklar

Ahmed S. ist 52 Jahre alt. Er ist in Marokko geboren, im Jahr 2001 kam er nach Deutschland, wo seine Eltern schon seit 20 Jahren lebten. Auch seine Brüder und eine Schwester leben hier, er selbst hat fünf Kinder. Ahmed S. hat ein sehr schmales, langes Gesicht, seine vollen, dunklen Haare fangen an, sich grau zu färben, aber die Augenbrauen und der Schnurrbart sind noch pechschwarz. Er hat sich, soweit man weiß, noch nie etwas zuschulden kommen lassen. Aber jetzt ist er wegen Mordes angeklagt. Am 26. September 2012 hat er im Jobcenter in Neuss die 32-jährige Angestellte Irene N. erstochen. Am Mittwoch begann vor dem Landgericht Düsseldorf der Prozess gegen S..



Es gibt einen Augenzeugen der Tat. Salvatore T. hatte an diesem Vormittag um neun Uhr einen Termin bei Irene N. im Jobcenter. Salvatore T. ist Italiener, er lebt von Hartz IV, und mit seinen 60 Jahren macht er sich nicht mehr viel Hoffnung auf einen Job. Er hatte bei Frau N. angeklopft, aber sie telefonierte. Also wartete er auf dem Flur. Da kam dieser Mann den Flur entlang, es war nichts Auffälliges an ihm. In diesem Moment öffnete Frau N. die Tür, um Salvatore T. hereinzubitten. Sie sieht den anderen Mann, bittet Salvatore um einen Augenblick Geduld, es gehe nur um zwei kurze Fragen. Salvatore setzt sich wieder. Dann hört er einen Schrei. Er weiß nicht genau, woher der Schrei kommt. Dann ein zweiter Schrei. Jetzt ist klar: Es ist Frau N., die schreit. 'Ich öffne die Tür', sagt der Zeuge, 'ich sehe Frau N. mit dem Rücken zum Fenster, der Mann steht vor ihr, er macht eine Bewegung mit der Hand zu ihrem Bauch. Er dreht sich um, da sehe ich das Messer. Das Messer ist blutig, seine Hand auch. Er macht einen Schritt auf mich zu. Da laufe ich aus dem Zimmer, ich hatte Angst.' Salvatore stürzt in ein benachbartes Büro, er sagt der Frau, die dort arbeitet, sie müsse die Polizei rufen.

Es dauert nur wenige Minuten, bis drei Streifenwagen am Tatort eintreffen. Das Polizeirevier liegt ganz in der Nähe des Jobcenters. Etwa fünfzig Meter vom Eingang des Amtes entfernt sehen die Beamten einen Mann stehen, auf den die Personenbeschreibung passt: schmal, südländisches Aussehen, Lederjacke. Der Mann hebt die linke Hand, als wolle er auf sich aufmerksam machen. In der rechten Hand hält er noch das Messer, ein Fleischmesser, 20 Zentimeter Klingenlänge. 'Messer weg', schreit der Polizist, und der Mann lässt das Messer fallen. Er wird zu Boden gebracht, gefesselt, er leistet keinen Widerstand. Er klagt nur andauernd, weil sein Knie schmerzt. 'Das konnte ich nicht begreifen', sagt der Polizeibeamte. 'Wieso beschwert er sich ständig wegen seinem Knie, wenn er ein paar Minuten vorher jemandem ein großes Messer in den Körper gerammt hat'.

Mit welcher Wucht das geschah, schilderet der Gerichtsmediziner. Irene N. wurde von vier Stichen getroffen, einer in die Brust, zwei in den Oberbauch, einer in den Oberschenkel. Der Stich in die Brust durchtrennte die Hauptschlagader an zwei Stellen, Irene N. verblutete in kürzester Zeit. Einer der Stiche in den Bauch verursachte eine Austrittswunde am Rücken - der Körper wurde vollständig durchstochen. Der Täter hatte zwei Messer dabei. Das erste brach ab, weil es den Fensterrahmen traf.

Ahmed S. machte am ersten Prozesstag noch keine Angaben, aber seine Verteidiger kündigten an, dass er sich an einem der nächsten Verhandlungstage äußern werde. Vielleicht gibt es dann eine Erklärung für die rätselhafte Tat. Das Motiv, das Ahmed S. bei der Polizei angegeben hat, steht in keinem Verhältnis zu der mörderischen Aggression. Er soll aus Wut gehandelt haben, weil er sich durch eine Datenschutzerklärung, die er als Arbeitssuchender unterschrieben hatte, getäuscht fühlte. In der Erklärung, sagen seine Verteidiger Gerd meister und Horst Ruthmann, gehe es um die Weitergabe von Daten innerhalb der Behörde oder an potenzielle Arbeitgeber. Ahmed S. habe eine Fernsehsendung zum Thema Datenschutz gesehen, und er habe befürchtet, irgendjemand könne mit seinen persönlichen Daten illegale Geschäfte machen. Nächtelang habe er deshalb nicht schlafen können. Heute, sagt Meister, könne sein Mandant sich die Tat selbst nicht mehr erklären.
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