Quantcast
Channel: jetzt.de - SZ
Viewing all 3345 articles
Browse latest View live

EU beharrt auf Frauenquote

$
0
0
Trotz Widerstands aus Berlin hält die Kommissarin an Plänen für europaweite Frauenquote fest.

Wegen des Widerstands der Bundesregierung gegen eine europaweite Frauenquote in Aufsichtsräten droht das Vorhaben der EU-Kommission jetzt insgesamt zu scheitern. Bisher hatten sich Großbritannien, die Niederlande, Tschechien, Ungarn, Schweden, Dänemark, die Slowakei, Estland und Lettland gegen eine EU-weite Quote ausgesprochen. Zusammen mit Deutschland verfügen diese Länder nun über eine stabile Sperrminorität von 127Stimmen im Ministerrat.


Die Diskussion über eine europaweite Frauenquote geht weiter

EU-Justizkommissarin Viviane Reding hatte im November einen Richtlinienvorschlag präsentiert, der eine 'ausgewogene Vertretung' von Männern und Frauen in den Aufsichtsräten börsennotierter Unternehmen vorsieht. Um dies zu erreichen, soll eine sogenannte Verfahrens-Quote in Höhe von 40Prozent eingeführt werden. Danach müssen bis zum Erreichen dieser Quote bei gleicher Qualifikation jeweils die Bewerber des bislang unterrepräsentierten Geschlechts - also praktisch immer der Frauen - in den Aufsichtsrat einziehen.

Die Bundesregierung will jedoch auch diese schwache Frauenquote stoppen. Nachdem Ursula von der Leyens Arbeitsministerium auf Druck des Kanzleramts einen Vorbehalt gegen diesen Kurs zurückgezogen hat, wies die Bundesregierung am Montag ihre Ständige Vertretung in Brüssel an, dafür zu sorgen, dass die geplante Richtlinie keine Mehrheit findet.

Reding gab sich am Mittwoch dennoch zuversichtlich, die Quote durchsetzen zu können. Sie nehme die Position Deutschlands 'zur Kenntnis', werde ansonsten aber an ihrem Vorhaben festhalten, sagte die Kommissarin. Sie hofft dabei auch auf Unterstützung aus dem EU-Parlament. Die FDP-Abgeordnete Silvana Koch-Mehrin sagte, die Verhandlungen über die Quote hätten gerade erst angefangen. Die deutsche Regierung sage aber 'schon mal Nein'. Dies sei 'falsch, dumm und wirtschaftspolitisch ein Rückschritt'. Die CSU-Abgeordnete Angelika Niebler erklärte, aus Sicht der Frauen dürfe es nur eine Botschaft geben: 'Wir brauchen mehr Frauen in Führungspositionen.' Niebler verteidigte deshalb Redings Vorschlag: Schließlich verlange die Kommissarin lediglich 'eine sehr deutlich abgeschwächte Quote'. Die CSU-Abgeordnete sitzt im Rechtsausschuss des EU-Parlaments, der Redings Vorschlag prüft. Zusammen mit dem Frauenausschuss wird das Gremium am 20.März darüber beraten. Am 20.Juni kommen dann erstmals die europäischen Arbeitsminister zusammen, um ihre Standpunkte festzulegen. In der EU-Kommission hieß es am Mittwoch, das Gesetzgebungsverfahren zur Frauen-Quote werde sich mit Sicherheit bis Ende des Jahres hinziehen. Bis dahin stünden noch diverse Parlamentswahlen an. Die Erfahrung zeige, 'dass sich Positionen mit jeder Regierung ändern'.

In Deutschland kritisierte die Opposition die Regierung heftig. Die Spitzenkandidatin der Grünen, Katrin Göring-Eckardt, sagte, die EU sende 'Modernisierungssignale und Frau von der Leyen steckt den Kopf in den Sand'. Jetzt zeige sich, dass deren 'Einsatz für eine Frauenquote nie mehr war als Schaumschlägerei'. Von der Leyen verteidigte ihr Verhalten. Sie habe ihre 'politische Haltung nicht geändert' und sei persönlich weiter für eine Quote, sagte die Ministerin. Im Kabinett vertrete sie damit aber eine Minderheitenhaltung. Und es sei nun mal 'klar, dass sich die Mehrheitsposition durchsetzt'.

Service für die Unsichtbaren

$
0
0
Nirgends in Europa verdienen die Menschen so viel wie in Londons Innenstadt. Die Superreichen bleiben gerne unter sich. Ein Besuch bei ihren Dienstleistern, die ihnen Wohnungen besorgen oder blaue Rosen.

Der Swimmingpool liegt spiegelglatt in unwirklichem Türkis da. Das Heimkino ist in dunklem Holz getäfelt und bietet auf schweren Sofas mindestens 20 Leuten Platz. Nicholas Ayre wischt auf seinem iPhone zu den nächsten Bildern. Der Fitnessraum. Die Personalwohnung. Bilder von einer Stadtvilla, die er sich kürzlich angesehen hat. Ayre ist ein 'Personal Shopper für Immobilien', er sucht für Leute, die zu beschäftigt damit sind, ihren Reichtum zu mehren. Seine Kunden sind die Superreichen Großbritanniens, der globale Jetset, der in der britischen Hauptstadt seinen europäischen Spielplatz hat.

Nirgendwo in Europa verdienen die Menschen so viel wie in der Londoner Innenstadt. Die Superreichen sind dort gern unter sich. Wer wissen will, wie sie leben und denken, muss mit den Menschen reden, die ihnen zu Diensten sind, Menschen wie Nicholas Ayre.


Auch für Champagner-Lieferungen bleibt den Reichen oft keine Zeit

Die Anwesen, von denen er durchschnittlich eines pro Monat vermittelt, stehen in Belgravia, Mayfair, in den teuersten Gegenden der Stadt. Im Bezirk Chelsea und Kensington liegt der durchschnittlich Preis für ein Stadthaus bei 35 Millionen Euro. 2012 wurde ein Penthouse am Hyde Park für 162 Millionen Euro verkauft. Weltrekord. Seit 2009 sind die Preise für Luxusimmobilien um die Hälfte gestiegen. Dass die Erwerbsteuer im vergangenen Jahr von fünf auf sieben Prozent erhöht wurde, tut dieser Entwicklung keinen Abbruch.

Die Menschen, die derartige Summen zahlen, kommen aus der ganzen Welt - und aus der City, dem Finanzdistrikt der Stadt. In der Londoner Innenstadt wird mehr verdient als überall sonst in Europa, das Einkommen ist mehr als dreimal so hoch wie im europäischen Durchschnitt - auch, weil einige wenige mit extrem hohem Verdienst der Londoner Wert nach oben treiben.

Ultrareiche nennt Steve Versano solche Leute. Der US-Amerikaner mit dem Namen und dem Aussehen eines Chicagoer Mafia-Paten lehnt sich in seinem weißen Ledersessel zurück und greift nach den Macadamia-Nüssen auf dem Silbertablett. Vor den Fenstern zieht ein strahlend blauer Himmel vorbei, in den kleine Wattewölkchen getupft sind. In seinen Geschäftsräumen hat sich Versano eins zu eins das Interieur eines luxuriösen Privatjets nachbauen lassen. Heller Hochflor-Teppich, Tropenholz, Champagnerbar und ausfahrbarer Flatscreen. Protziger Luxus, komplett mit Himmel-TV vor den Flugzeugfenstern. Auf einer 28 Quadratmeter großen Videowand lassen sich alle Flieger, die gerade auf dem Markt sind, miteinander vergleichen. Größe, Ausstattung, Alter, Preis. Versano wischt über sein Tablet-PC. Auf dem Monitor erscheint der technische Querschnitt eines Flugzeugs, in Lebensgröße.

'Das Internet hat die Welt für die meisten Geschäftsleute kleiner gemacht', sagt Versano, der seit Jahrzehnten mit Privatjets handelt und früher seine Kunden stets persönlich besuchte. 'Für mich ist die Welt größer geworden. Statt in Amerika sitzen meine Kunden jetzt in Ländern, von denen man früher noch nicht einmal gehört hatte. In der Mongolei, in Nigeria, in Aserbaidschan. Und alle kommen früher oder später nach London'. Es ist ein kleiner Markt, nur etwa 3000 Privatflugzeuge wechseln jedes Jahr ihren Besitzer. Deswegen hat der 56-Jährige seine Ausstellungsräume vor einem Jahr hier eröffnet, den ersten Showroom für Privatflugzeuge weltweit. Direkt am Kreisverkehr von Hyde Park Corner, den alle Luxuslimousinen passieren, die in die exklusiven Viertel im Südwesten der Stadt unterwegs sind. Versano, der zum Abschied eine gravierte Visitenkarte aus glänzendem Metall überreicht, ist wie der Immobilienagent Ayre Teil einer Industrie, die den Menschen zu Diensten ist, denen es an nichts fehlt. Außer an Zeit. Die Agenten, Assistenten und Personal Shopper beschäftigen, um das meiste aus dieser knappen Zeit zu machen. Und das Geschäft mit der Zeit der Reichen boomt. Concierge-Dienste, die für ihre Kunden Tische reservieren, Gästelistenplätze und Diamantringe für die Verlobung organisieren, florieren. Luxushotel um Luxushotel wird neu eröffnet. Das Nobelkaufhaus Harrods richtete kürzlich The Penthouse ein. In dieser Suite können begüterte Kunden auf fliederfarbenen Sofas entspannen und warten, bis die ausgeschwärmten Verkäufer mit den ersehnten Produkten im Arm zurückkehren.

Doch am deutlichsten werden die Dimensionen des Luxussegments beim Lieblingsthema aller Londoner sichtbar: am Immobilienmarkt. Wer durch die Wohnviertel im Westen der Stadt schlendert, kann den obszönen Reichtum gar nicht übersehen. Liam Bailey leitet die Analyse für Wohneigentum beim Immobilienriesen Knight Frank. Die meisten Häuser, die hier für 12 Millionen Euro oder mehr gehandelt werden, sind keine reinen Investment-Produkte. Diese Immobilien kaufen Leute, die darin auch wohnen wollen, erklärt er. Was aber zieht die Superreichen nach London? 'Der Lifestyle natürlich, die Stadt ist weltweit ausgezeichnet angebunden, in der City werden wichtige Geschäfte gemacht', sagt Bailey. 'Viele dieser Leute wollen ihre Kinder hier auf eine teure, gute Schule schicken. Sie sind der Stadt meist schon verbunden, beruflich, oder durch Freunde oder Familie.' Entscheidend jedoch: Eine Trophäen-Immobilie, wie Bailey sie nennt, eine Villa mit Garten in Belgravia, ist eine sichere Kapitalanlage. Das Pfund wirkt für manche sicherer als der angeschlagene Euro. Großzügige Schlupflöcher in den Gesetzen ermöglichen es den Käufern außerdem, Häuser und Wohnungen über Offshore-Firmen steuerfrei zu erwerben. Wie der Guardian enthüllte, flossen so 2011 acht Milliarden Euro in den Immobilienmarkt. 'London ist das Sparschwein Europas', sagt Nicholas Ayre, der Makler mit Designer-Brille. 'Du legst dein Geld hier an, da ist es schön sicher. Wenn du es wiederhaben willst, verkaufst du einfach.'

Die finanzielle Elite fühle sich hier sicher. Wer so reich sei, neige zur Paranoia. Seine Kunden stehen auf Ankleideräume, die zu Panic Rooms werden, auf ausgeklügelte Sicherheitssysteme und Alarmanlagen. Doch sicher allein reicht dem Reichen nicht. Er braucht auch Personal.

'Es ist wie bei einer Partnervermittlung', sagt Annabel Moorsom. Seit acht Jahren rekrutiert sie persönliche Assistenten, PA. 'Wie, Sie kennen niemanden, der eine PA hat?', fragt Moorsom am Telefon. Persönliche Assistenten, die den Menschen ihren Alltag abnehmen, die selbst keine Zeit oder keinen Kopf dafür haben. 'Immer mehr Leute werden sehr schnell reich und berühmt wie Rockstars', sagt Annabelle. 'Denken Sie nur an all die Casting-Shows! Sie alle brauchen Angestellte, die ihnen helfen, den Kopf über Wasser zu halten'. Eine gute persönliche Assistentin müsse ein gut gefülltes Adressbuch haben, müsse flexibel, kreativ und robust sein. Und bereit, oft auf sich allein gestellt zu sein. 'Viele Leute denken, das sei ein glamouröser Job. Das ist es nicht, im Gegenteil. Es ist ein Job, der sehr einsam machen kann.'

Sie kann stundenlang von exzentrischen Wünschen berichten, mit denen ihre PAs konfrontiert waren. Da war jemand, der unbedingt und sofort einen silbernen Wohnwagen auf sein Dach gestellt haben wollte. Ein anderer bestand darauf, dass der Flughafen von Cannes für seine Ankunft komplett gesperrt wurde. Ein dritter verlangte am Sonntagabend blaue Rosen. 'Erstens gibt es keine blaue Rosen', sagt Moorsom. 'Und zweitens ist es am Sonntagabend noch schwieriger, etwas zu finden, das es nicht gibt.' Die PA habe schließlich einen Kulissenbauer gefunden, der ihr helfen konnte. Die größte Herausforderung sei, 'dass Reiche gewohnt sind, dass all ihre Wünsche erfüllt werden. Dass sie kein Nein akzeptieren.'

Dort, wo die Leute wohnen, die kein Nein akzeptieren, direkt neben dem Kensington Palast, steht seit dem Herbst, neben den Bunker eines Luxushotels gekauert, eine Ski-Hütte. Die natürlich keine Ski-Hütte ist, sondern eine Restaurant-Bar-Club-Erlebniswelt für die Reichen und Schönen der Stadt, Bodo"s Schloss.

Drinnen gibt es eine ausgestopfte Gemse, mit der Models in Spitzen-Jumpsuits posieren , und viel Kiefernholz, die das Restaurant in eine Zirbelstube verwandeln. Auf der Speisekarte Schnitzel und Knödel. Das Personal trägt Karnevals-Dirndl und Lederhosen. 'Es ging uns darum, eine eigene Welt zu schaffen, in die unsere Gäste völlig abtauchen können', sagt Antoin Commande, einer der Besitzer. Ein Marketing-Mann, der sein Vermögen im Finanzsektor machte, bevor er beschloss, sich als Edel-Gastronom ins Nachtleben zu stürzen. Der, falls das doch nichts wird, immer noch als Tom-Cruise-Double arbeiten könnte. Und der darauf besteht, dass sein Club nicht sonderlich exklusiv, sondern 'für ganz normale Leute' gedacht sei.

Okay, der Signature Cocktail, eine Eisskulptur, aus der unbegrenzt eine Mixtur aus Champagner, Wodka, Creme de Peche und Maracuja strömt, kostet 5800 Euro. Okay, zu den Gästen zählen Gwyneth Paltrow, Brad Pitt und 'Princess B', wie Commande Prinzessin Beatrice nennt.

An diesem Sonntagabend ist 'Fashion Night' im Schloss, die Gästeschar besteht zum Großteil aus Models. Auf den Toiletten, wo 'Obergurgl' in altdeutscher Schrift an die Wand gepinselt ist, zeigen sich dürre Mädchen ihre Brustwarzenpiercings und sprechen über Ferienhäuser in Malibu. Nirgends in Europa verdienen die Menschen so viel wie in der Londoner Innenstadt. Und nirgends in Großbritannien geht die Kluft zwischen Arm und Reich so weit auseinander. In der Innenstadt von London verdienen die meisten sehr viel - oder sehr wenig. Jeder siebte verfügt über weniger als 1400 Euro im Monat. Jeder siebte müsste vier Monate lang alles sparen, um sich einen einzigen Signature-Cocktail in Bodo"s Schloss zu kaufen.

'Wir müssen uns bemühen, den Bedarf zu senken'

$
0
0
Selbst wenn alle Deutschen Spenderausweise hätten, gäbe es nicht genug Organe, sagt die Gesundheitswissenschaftlerin Alexandra Manzei und plädiert für mehr Prävention

Unüberbrückbar erscheint die Kluft: Den 12000 Menschen, die in Deutschland auf ein Spenderorgan warten, stehen nur etwa 1200 Organspender pro Jahr gegenüber. Seit Langem mühen sich Politiker, Ärzte und Patientenvertreter vergeblich, die Spendenbereitschaft der Bevölkerung zu erhöhen. Es sei an der Zeit, einen ganz anderen Ansatz zu versuchen, meint dagegen die Gesundheitswissenschaftlerin Alexandra Manzei von der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar: Wenn sich das Angebot nicht steigern lasse, müsse man eben die Nachfrage drosseln.

SZ: Künftig werden alle Deutschen regelmäßig aufgefordert, sich für oder gegen die Spende ihrer Organe nach dem Tod zu entscheiden. Wird die Situation für die Patienten auf der Warteliste endlich besser?
Manzei: Ich glaube nicht, dass die Zahl der Organe auf diese Art deutlich höher wird. Nicht nur, weil das Vertrauen durch die Transplantationsskandale erschüttert ist: Die Lücke zwischen Angebot und Bedarf ist ganz grundsätzlich kaum zu schließen.


Zu viele Menschen müssen zu lange auf ein Spenderorgan warten

In Umfragen sagen die allermeisten Menschen, sie seien für Organspende. Warum sollte sich das nicht in den Spenderausweisen niederschlagen?
Viele Menschen sind für die Organspende; viele haben aber auch Bedenken. Diejenigen, die keine Bedenken haben, werden vielleicht einen Organspendeausweis ausfüllen und sich für die Spende entscheiden. Aber wer Bedenken hat, wird heute nicht besser informiert als früher. Das neue Gesetz bedrängt ja nur und klärt nicht auf. Ohnehin wird die Zahl der Spender nie den Anforderungen genügen.

Wie meinen Sie das? Sollten 12000 Organe nicht zu schaffen sein?
Die Zahl der Spender wird schon deshalb nicht reichen, weil nicht jeder Mensch nach seinem Tod Organe spenden kann, selbst wenn er will. Lebenswichtige Organe kann man nur von hirntoten Patienten entnehmen, nicht von normalen Leichen. Mit Leichen-Organen würde man den Empfänger vergiften. Hirntote sind jedoch keine Leichen in dem Sinne, wie wir Leichen kennen: kalt und steif. Es sind vielmehr Sterbende, deren Gehirnfunktionen bereits ausgefallen sind, während ihr Organismus intensivmedizinisch am Leben erhalten wird. Diese Patienten werden beatmet, sie haben einen warmen Körper. Insgesamt gibt es jedoch nur sehr wenige Menschen, die auf diese Weise sterben.

Wie viele Hirntote gibt es denn im Jahr?
Dazu gibt es keine genauen Zahlen. Im Jahr 2010 haben deutsche Kliniken offiziell 1876 Hirntote gemeldet. Allerdings geht man davon aus, dass es auch Hirntote gibt, die nicht gemeldet werden. Schätzungen gehen von 3000 bis 4000 Hirntoten pro Jahr aus. Selbst wenn alle 80 Millionen Deutschen einen Spenderausweis hätten, gäbe es also nicht genügend Organe.

Könnte es nicht doch reichen? Ein Hirntoter kann schließlich bis zu neun Organe spenden: Herz, Dünndarm, Bauchspeicheldrüse, zwei Nieren, zwei Lungenflügel und auch zwei Leberteile.
Theoretisch ja. Das Problem ist jedoch, dass nicht alle Organe verwendet werden können. Viele Spender sind zu alt oder krank, manche haben Krebs oder sind mit HIV oder Hepatitis-Viren infiziert. Gerade von älteren Spendern nehmen Ärzte oft nur einzelne Organe - am ehesten Leber und Nieren. Außerdem steigt der Organbedarf seit Jahren immer mehr an.

Weshalb? Ist die Transplantationsmedizin unersättlich?
Zumindest steigt der Organbedarf aus Gründen, die im System selber liegen. Bei immer mehr Krankheiten, bei denen früher nicht transplantiert wurde, gilt die Transplantation inzwischen als effektivste Therapie. Außerdem werden zunehmend mehrere Organe in einen Patienten verpflanzt. Menschen mit Typ-I-Diabetes erhalten zum Beispiel häufig Niere und Bauchspeicheldrüse gleichzeitig, weil die Heilungschancen dann größer sind. Nicht zuletzt steigt auch die Retransplantationsrate immer weiter an. Wenn ein transplantiertes Organ abgestoßen wird, kommen die Patienten erneut auf die Warteliste und erhalten ein neues Organ. So bekommen manche Patienten vier und mehr Nieren.

Im Ausland gibt es aber erheblich höhere Zahlen an Organspendern.
Viele Länder nutzen Lösungsmöglichkeiten, die für uns aufgrund unserer Geschichte und Moral keine sind. Dort wird quasi versucht, die Grenze zwischen Leben und Tod immer weiter zu verschieben, um an Organe zu gelangen. So werden in Großbritannien Organe schon entnommen, wenn nicht das gesamte Gehirn, sondern nur der Hirnstamm abgestorben ist. Und in den Niederlanden werden Menschen zu Organspendern, wenn ihr Herz stehen geblieben ist. Es gibt heftige Debatten darüber, wie lange Ärzte versuchen müssen, solche Patienten wiederzubeleben, bevor die Organe entnommen werden dürfen. Solche Dinge sind bei uns zu Recht verboten. Auch der gute Zweck heiligt nicht die Mittel.

Soll man die Menschen auf der Warteliste also einfach sterben lassen?
Nein, natürlich nicht! Grade weil es aus den genannten Gründen niemals ausreichend Organe geben wird, müssen wir uns bemühen, den Organbedarf zu senken. Alternativen zur Transplantation müssen in dem gleichen Maße gefördert werden, wie Geld in die Transplantationsmedizin gesteckt wird. Es sollte mehr Forschung geben. Zum Beispiel an Kunstherzen oder auch an biotechnischen Verfahren, die Ersatzgewebe aus Zellen züchten. Nicht zuletzt sollte auch an neuen Arzneimitteln geforscht werden, etwa gegen Hepatitis, und an besseren Suchttherapien, um Organschäden durch Medikamenten-, Drogen- und Alkoholmissbrauch zu mindern.

Sehen Sie auch Möglichkeiten für mehr Prävention als Kuration?
Auf jeden Fall sollten wir Krankheiten zu vermeiden suchen, die zu Organverlust führen. Zu häufig werden beispielsweise Medikamente verschrieben, etwa bei Rheuma oder gegen Schmerzen, die organschädigende Nebenwirkungen haben. Präventionsmaßnahmen müssten sowohl am Verhalten der Einzelnen ansetzen, denn häufig sind es Zivilisationserkrankungen, die zu Organschäden führen, als auch an den Lebens-, Arbeits- und Umweltbedingungen der Menschen. Langfristig ließe sich so der Bedarf an Organen senken, anstatt immer weiter eine Therapie zu fördern, die ihre Patienten aus strukturellen Gründen niemals angemessen versorgen wird.

Kalte Betten

$
0
0
Das Berliner Start-up Hipaway will Hoteliers der gehobenen Klasse auch außerhalb der Spitzenzeiten zu vollen Häusern verhelfen - und Übernachtungsgästen zu günstigen Zimmern. Im Angebot sind mehr als 50 europäische Metropole

Hohe Rabatte für gute und sehr gute Hotels, das klingt verlockend. Das Start-up Hipaway will den Online-Hotelmarkt genau mit solchen Angeboten aufmischen. Das Versprechen: Hotels mit drei oder mehr Sternen gewähren außerhalb von Spitzenzeiten Nachlässe bis zu 50 Prozent.

Die Macher des Berliner Unternehmens sehen ihr Internetportal als Hotel Outlet. Sie wollen also - wie andere im Textilhandel - nicht die Ramschkönige sein, sondern angesehene Marken günstig anbieten. Das geht so: Bundesweit sind höherwertige Hotels oft nur zu 60 Prozent ausgelastet, jedenfalls über das ganze Jahr gesehen. Hier setzt die Idee von Hipaway an. Wenn für den Hotelier absehbar ist, dass einige Zimmer voraussichtlich leer bleiben werden, kann er diese Überkapazitäten über Hipaway anbieten. Mit einem mehr oder weniger hohen Rabatt bis zu 50 Prozent. Adrian Graf, einer der drei Gründer von Hipaway, meint locker und ohne allzu große Bescheidenheit: 'Wir sind das am schnellsten wachsende Online-Travel-Unternehmen in Deutschland.'

Stilvoll sparen - so lässt sich das Geschäftsmodell von Hipaway Travel griffig beschreiben. Auf dem Portal kann der Kunde Stadthotels reservieren, deren ungefähre Lage bei der Beschreibung im Internet zu sehen ist. Den Namen erfährt er aber erst nach der Buchung. So hebelt das Start-up die Bestpreis-Garantie der großen Anbieter wie HRS oder Booking oder Expedia aus. Hipaway verspricht eine Preisersparnis von bis zu 50 Prozent gegenüber anderen Buchungsportalen. Und verdient mit jeder Buchung eine Provision.


Bis zur Hälfte billiger will das Start-Up Unternehmen Hotelzimmer anbieten

Durch die späte Nennung des Namens sollen auch die Nerven von Hotelmanagern geschont werden, die nicht unbedingt öffentlich zugeben wollen, dass sie ein für 230 Euro annonciertes Zimmer auch schon mal für rund 100 Euro weggeben. Angesichts hoher Fixkosten im Hotelbetrieb ist das dann immer noch betriebswirtschaftlich besser, als wenn es leer bleibt.

Drei-Sterne-Häuser sind zwar auch im Angebot, aber richtig sparen kann der Kunde erst bei teureren Hotels. So sind auch etliche Vier- und Fünf-Sterne-Häuser unter den 4500 Herbergen in mehr als 50 europäischen Städten - und New York. Weitere Städte in Nordamerika sollen bald folgen.

Das Angebot finden derzeit vor allem Touristen interessant, die eine Städtereise planen und dafür etwa eine oder zwei Wochen vorher ein preisgünstiges Hotel suchen. Ein Drittel der Hipaway-Kunden sind bereits Geschäftsreisende, für die es mittelfristig maßgeschneiderte Angebote für Buchung und Bezahlung geben soll. Ganzes Bett zum halben Preis, so das Kalkül der Hipaway-Gründer Adrian Graf und Philipp Hahn. Sie entwickelten ihre Idee im Wohnzimmer Hahns. Dann verbündeten sie sich mit dem technikaffinen Sven Loth als drittem Gründer und verlegten Hipaway in dessen Räumlichkeiten. Die ersten zwei Monate führten sie das junge Unternehmen von der Couch aus.

Treffen mit Geschäftspartnern setzten sie im St. Oberholz an, dem berühmten Café am Rosenthaler Platz. Wo einst der Schriftsteller Alfred Döblin seinen Hel-den im Roman 'Berlin Alexanderplatz' Stammgast sein lässt, hockt heute die Boheme der Internetszene von Berlin-Mitte über ihren Laptops. Das Café als Gründerbüro: 'Wir konnten ja unsere ersten Geschäftstermine nicht im Wohnzimmer abhalten', sagt Graf. Gleich um die Ecke in der Ackerstraße geht es heute zu Hipaway. Nach dreieinhalb Monaten stand die erste Finanzierung, und heute führt der Weg durch stilvolle Gründerzeithäuser in den zweiten Hinterhof, wo es erst eine Treppe tiefer zum Fahrstuhl, dann aber klar nach oben geht. Es ist ein lustiges Haus. Auf den Namensschildern stehen so phantasievolle Sachen wie '007 headquarter' oder 'die agenten'. Und eben Hipaway.

Es handelt sich um eine besondere Umgebung, nicht nur wegen der geschätzt 300 anderen Start-ups in der Nähe. Vom ersten Stock aus den Hipaway-Fenstern gut zu sehen ist das Gebäude, wo einst booking.com entstand. In der Büroetage arbeiten 20 Menschen bei dem Start-up, mit dem die drei Gründer im Sommer online gingen. Adrian Graf und Philipp Hahn kennen sich vom Studium an der European Business School in Oestrich-Winkel und an der Handelshochschule Leipzig. Graf war auch in Berkeley und für ein Auslandssemester auf Hawaii, wo er Gefallen am Fallschirmspringen fand. Nun geht er mehr auf Nummer sicher, jedenfalls was riskante Sportarten angeht. Und Mitgründer Sven Loth hatte zehn Jahren Erfahrung in der Informationstechnik von Start-ups wie Lumas/ Whitewall und Möbelprofi (jetzt Home24).

Für den weiteren Ausbau von Hipaway entscheidend war die Finanzspritze von Kizoo Technology Ventures in Karlsruhe Ende November. Das sind die Experten für Frühphasen-Finanzierungen mit Matthias und Michael Greve (Web.de und Lastminute.de) sowie der Master Hedge Kapitalanlagegesellschaft in Frankfurt im Hintergrund. Inzwischen gab es eine zweite Finanzierungsrunde. Das monatliche Reporting beim Investor erfolgt sehr trendy mit dem Videotelefon - via Skype.

Hotelzimmer vermitteln, das machen viele, auch im Internet. Im Gegensatz zu Anbietern von kurzfristigen Coupon-Aktionen setzt Hipaway bei der Vermarktung von Überkapazitäten ('kalte Betten') auf eine langfristige Geschäftsbeziehung zu den Hoteliers. An sich keine schlechte Idee. Auch HRS als Marktführer unter den Online-Vermittlern bietet seit einiger Zeit entsprechende Sonderangebote an.

Die etablierte Konkurrenz schläft nicht. Neugründungen wie Hipaway müssen sich erst durchsetzen und eine Nische finden in einem Markt, der in Deutschland von HRS beherrscht wird. Ein Netzpionier, der als Kölner Familienunternehmen bereits in der zweiten Generation geführt wird. HRS sortiert neuerdings seine Hotels nach einer eigenen Rangliste - an die Stelle oft gefälschter Rezensionen in Online-Communities tritt eine klare Empfehlung des Vermittlers selbst. Hipaway setzt auf die Web-Tradition der Empfehlungen in sozialen Netzwerken, nämlich auf die des Bewertungsportals Trip-Advisor.

Hipaway will die ITB in Berlin vor allem für Kontakte zu den vielen Hotels nutzen, die auf der weltweit größten Touristikmesse mehrere Hallen füllen. Adrian Graf wird in einem Vortrag das Konzept von Hipaway vorstellen. Für das eigentliche Geschäft des Start-ups sind solche Messen und andere Großveranstaltungen eher kontraproduktiv. Denn die besseren Hotels sind oft schon lange vorher ausgebucht. Dann gibt es einfach keine freien Überkapazitäten mehr, die Hipaway vermarkten könnte. Außerhalb solcher Spitzenzeiten steht Berlin aber vor Prag und Wien ganz oben auf der Rangliste der Städte, in die Hipaway bereits erfolgreich Hotelgäste vermittelt.

Mehr Mut

$
0
0
Frauen verdienen weniger als Männer, weil sie weniger fordern. Warum die Bescheidenheit von Frauen ihnen oft im Weg steht.

München - Gedenktage sind dazu da, zu erinnern. An Katastrophen, Kriege und andere historische Ereignisse. Und sie sind dazu da, zu ermahnen: etwa daran, mit Müttern, Kindern und Behinderten besser umzugehen. An diesem Freitag ist Weltfrauentag der Vereinten Nationen. Es ist der Tag, an dem besonders Frauenorganisationen für die Rechte der Frauen eintreten. Immerhin entstand der Internationale Frauentag vor etwa hundert Jahren im Kampf um die Gleichberechtigung und das Wahlrecht für Frauen. Seitdem ist viel geschehen. Aber nicht genug. Weltweit werden Frauen misshandelt und diskriminiert. In vielen Ländern haben sie weniger Rechte als Männer.



Frauen würden mehr Geld bekommen - wenn sie es verlangen würden.

Auch in der westlichen Welt sind Frauen oft benachteiligt. Sie sind seltener in Führungsjobs und verdienen auch weniger als Männer. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) wies am Donnerstag darauf hin, dass in Deutschland Frauen im Schnitt 22 Prozent weniger Lohn bekommen und 105 Minuten mehr unbezahlte Arbeit am Tag verrichten als Männer. Sie verzichten wegen der Familie auch eher auf den beruflichen Aufstieg, wie Zahlen des Statistischen Bundesamts zeigen. Danach ist hier fast jede zweite Frau teilzeitbeschäftigt. Nur in den Niederlanden ist der Anteil höher. Gründe für den Teilzeitjob sind vor allem die Betreuung von Kindern und die Pflege von Angehörigen.

Für Raimund Becker, Vorstand der Bundesagentur für Arbeit (BA) in Nürnberg, liegt genau hier die Crux. 'Die Belange von Familie und Beruf lassen sich nicht immer ausreichend vereinbaren', sagt er. 'Neben fehlender Kinderbetreuung spielen auch unzureichend flexible Arbeitszeitmodelle eine Rolle.' So wichen Frauen immer mehr in Teilzeitarbeit oder Minijobs aus.

Frauen holen am Arbeitsmarkt auf. Dies sei erfreulich, so Becker. Seit 2005 sei die Erwerbstätigenquote von Frauen um 8,1 Punkte auf 67,7 Prozent im Jahr 2011 gestiegen. 'Allerdings wissen wir, dass viele Frauen in Teilzeit-Arbeitsverhältnissen mehr arbeiten möchten', sagte Becker. Gut ausgebildete Frauen seien unverzichtbar für die Unternehmen. Bis 2020 werde das Arbeitskräfteangebot selbst bei weiter steigender Erwerbsbeteiligung und moderater Zuwanderung um etwa drei Millionen zurückgehen. 'Unter anderem zur Sicherung der Sozialsysteme ist es erforderlich, dass ein bestimmtes Beschäftigungsniveau erhalten wird', betonte Becker mit Blick auf den beruflichen Wiedereinstieg von Frauen nach der Familienpause.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) fordert anlässlich des Weltfrauentags einen Rechtsanspruch auf eine Vollzeitstelle, wenn Frauen aus familiären Gründen ihre Arbeitszeit verringert haben. 'So können sie ihre Einkommen steigern und ihre Aufstiegschancen verbessern', sagt die stellvertretende DGB-Vorsitzende Ingrid Sehrbrock. Unternehmen sollten zudem gesetzlich dazu verpflichtet werden, Lücken bei der Bezahlung von Männern und Frauen aufzudecken und zu korrigieren. Und mehr Frauen in Führungspositionen könnten die männlich geprägte Anwesenheitskultur in den Firmen in Frage stellen, sagte Sehrbrock weiter.

Eine Umfrage der Unternehmensberatung Accenture zeigt jedoch auch, dass Frauen ihre Karriere zurückhaltender planen als Männer. Sie fragen wesentlich seltener nach einer Beförderung (26 zu 74 Prozent) oder Gehaltserhöhung (48 zu 72 Prozent) und werden auch weniger oft befördert: Während 50 Prozent der Männer die gewünschte Position erhielten, waren es bei den Frauen nur 38 Prozent. Die Befragung zeigt weiter, dass Frauen ein ausgeglichenes Verhältnis von Arbeit und Freizeit wichtiger ist als Männern. 'Arbeitgeber sind gut beraten, sich zu überlegen, wie sie Führungspositionen auch für Frauen attraktiver machen', sagt Catrin Hinkel, Geschäftsführerin bei Accenture. 'Sonst werden sie den gewünschten Frauenanteil in leitenden Positionen nur schwer erzielen können.' Neben flexiblen Arbeitszeiten ist für Frauen das Arbeiten im Home Office wichtig, so die Studie. Eine deutliche Mehrheit der Frauen ist davon überzeugt, dass sie durch die Technik am Arbeitsplatz flexibler werden.

Ich bin Deko

$
0
0
Bei Otto können Eltern ihren Kindern T-Shirts bestellen, die klischeehafter nicht sein könnten: Mädchen mögen rosa und können nicht rechnen, Jungs wollen nur Baggerfahrer werden.

Mädchen und Mathe, das passt nicht zusammen, weiß man ja. Jungs dagegen können mit Zahlen umgehen. Und weil schon Kinder das oft genug gesagt bekommen, gibt es so viele Lehrerinnen und so wenige Informatikerinnen. Logisch, oder?



Otto verkauft T-Shirts für Mädchen, auf denen steht: "In Mathe bin ich Deko".

Beliebte Klischees von vorgestern sind das, oft wiederholt, lange geglaubt, längst widerlegt - und trotzdem wird man sie nicht so richtig los. Der Versandhändler Otto hat diese und andere nicht übermäßig modernen Rollenbilder auf Kinder-T-Shirts gedruckt. Und dafür im Internet jetzt ziemlich viel Ärger bekommen. Für Jungs beispielsweise im Angebot: 'Ich schlau - du doof' und 'Ich will Baggerfahrer werden'. Für Mädchen: 'Shoppingqueen', 'Designerstück' und - dafür gab es besonders harte Kritik - das hellblaue T-Shirt im Sonderangebot für 4,99 Euro mit dem Aufdruck: 'In Mathe bin ich Deko'. Neben dem Spruch ein Herzchen. Wie süß. Wenn man schon keine Ahnung hat, kann man die ja wenigstens offensiv zur Schau tragen.

Die Idee, berichtet eine Unternehmenssprecherin, sei in einem Team von Frauen entstanden. Die hätten nie die Absicht gehabt, andere mit dem Aufdruck zu verletzen. 'Ja, es werden Rollenklischees bedient', gibt die Sprecherin zu und verspricht: 'Die Diskussion wird sich sicher darauf auswirken, mit welchen Sprüchen wir in Zukunft unsere T-Shirts verzieren.'

Schön ist der Mathe-Spruch sicher nicht. Noch weniger schön allerdings, dass Otto das T-Shirt schon seit über einem Jahr verkauft - bislang durchaus mit Erfolg, wie es aus dem Unternehmen heißt: Die Kunden seien sehr zufrieden gewesen, wie man den Online-Bewertungen entnehmen könne. Es muss also einige Eltern geben, denen es gefällt, ihre Töchter in rosa T-Shirts mit knuddeligen Tierchen (für Jungs: Superhelden, Starwars-Figuren) und Klischee-Sprüchen zu stecken.

Zu Ottos Verteidigung muss man sagen: Ein T-Shirt für Jungs mit dem Aufdruck 'Matheallergiker' verkauft der Händler auch. Wer als Eltern aber garantiert nichts falsch machen will, wählt für seine Tochter die Variante 'Sprücheshirts sind doof'. Das T-Shirt ist zwar auch fliederfarben. Aber man muss es ja nicht übertreiben.

Die Geiseln von Dschamla

$
0
0
Mit der Entführung von UN-Soldaten haben die Rebellen der syrischen Revolution schwer geschadet.

Die Methode ist nicht originell. Wenn Freiheitskämpfer nicht vorankommen, setzen sie gern auf Erpressung im Dienst der vermeintlich guten Sache. Geiselnahmen sind bei innerstaatlichen Konflikten ein wirksames Mittel, Regierungen und Organisationen unter Druck zu setzen und größtmögliche Medienaufmerksamkeit für ihren Kampf zu erzwingen. Die Tschetschenen haben es mit Überfällen auf russische Schulen, Theater und Krankenhäuser getan, die PLO bevorzugte westliche oder israelische Passagierflugzeuge, im Irak und Algerien waren es Ingenieure und Mitarbeiter westlicher Firmen. So wählt jeder Freiheitskämpfer seine weichen Ziele, es gibt derer genug. Oft endet das mit dem Tod der Geiseln.



Der Screenshot eines von angeblichen syrischen Rebellen am 07.03.2013 ins Internet gestellten Videos zeigt bewaffnete Kämpfer, die nach ihren Angaben vor einem UN-Fahrzeug auf den Golanhöhen posieren.

Jetzt sind also die syrischen Rebellen am Zug, die Kämpfer der 'Jarmuk-Märtyrer-Brigade'. Das für gewöhnlich bestens informierte syrische 'Beobachtungszentrum für Menschenrechte' in London machte sich zum Sprachrohr der Geiselnehmer: 'Das Kommando der Jarmuk-Märtyrer wird die Truppen der UN-Friedenstruppe festhalten, bis die Soldaten des Regimes von Baschar al-Assad rund um das Dorf Dschamla abziehen.' Die Blauhelme, die auf dem zwischen Israel und Syrien umstrittenen Golanmassiv stationiert sind, waren am Mittwochabend bei einer Patrouille in die Gewalt von knapp drei Dutzend Bewaffneten geraten. Sie seien nun 'Gäste' der Untergrundkämpfer und sollen sich in Dschamla befinden, hieß es. Ihnen werde nichts geschehen.

Rund um das syrische Grenzdorf stehen aber die Panzer und Soldaten Assads. Die Rebellen wollten die 21 Philippiner daher erst laufen lassen, wenn diese Truppen abgezogen sind. 'Sie stehen so lange unter unserem Schutz, bis wir ihren Transport in ein sicheres Gebiet organisieren können', ließen die Geiselnehmer wissen. Die Vereinten Nationen sollten ihrerseits ein 'Sicherheitskomitee' bilden, um die UN-Soldaten in Empfang zu nehmen. Die UN hat aber keine eigenen Truppen im Süden Syriens, das Gebiet wird derzeit von Assads Truppen bombardiert. Ein unblutiges Ende der Affäre erschien am Donnerstag ohne Zustimmung des obersten syrischen Kriegsherren Assad schwer vorstellbar.

Große Politik steht also hinter dem Kampf um einen syrischen Weiler und das Leben von 21 Soldaten von den Philippinen. Große Politik deshalb, weil die syrischen Golanhöhen seit Jahrzehnten von den israelischen Nachbarn besetzt gehalten werden und der Krieg nun von Syrien nach Israel hinüber schwappen könnte. Große Politik auch, weil die Militanten die Vereinten Nationen und Syriens Diktator - den Oberbefehlshaber der Soldaten rund um Dschamla - im selben Atemzug erpressten. So sind vor allem die UN in eine heikle Lage geraten. Sondervermittler Lakhdar Brahimi wird immer wieder bei Assad vorstellig, sucht Wege für eine Verhandlungslösung. Assads Antworten sind uniform: Mit Terroristen rede er nicht. Und die Kämpfer der Jarmuk-Märtyrer-Brigade scheinen seine Sicht zu bestätigen.

Sie zeigen sich als skrupellose Militante, die Blauhelmsoldaten gefangen halten und deren Schicksal mit unrealistischen Forderungen verknüpfen. Assad kann die UN nun vorführen als Organisation, die nicht einmal für die Sicherheit ihrer eigenen Soldaten bürgen kann - und daher ungeeignet ist, im Bürgerkriegsstaat Syrien für ein Ende der Kämpfe zu sorgen und den Frieden zu sichern.

Wie die Vereinten Nationen oder die philippinische Regierung die Forderung in Damaskus durchsetzen sollten, sagten die Jarmuk-Kämpfer nicht. Stattdessen drohten sie schon zu Beginn, dass aus den Gästen mit den blauen Helmen nach Ablauf von 24 Stunden 'Kriegsgefangene' würden. Diese Klassifizierung kann in Syrien schnell lebensgefährlich werden. Die Menschenrechtsgruppe 'Human Rights Watch' jedenfalls will recherchiert haben, dass Kämpfer der Jarmuk-Brigaden es mit dem Kriegsrecht nicht genau nehmen. Sie sollen mindestens zehn gefangene Assad-Soldaten exekutiert haben; angeblich gibt es ein Video des Massakers in der Nähe von Dschamla. Dennoch hoffte der philippinische Staatschef Benigno Aquino am Donnerstag auf eine rasche Lösung. 'Morgen', sagte er, 'werden die 21 Männer frei sein.'

Mit der Gefangennahme der auf Neutralität und Frieden vereidigten UN-Soldaten haben die Jarmuk-Militanten der Sache des Aufstands einen Bärendienst erwiesen. Die obersten Führer der Rebellen verhandeln derzeit mit den USA und der EU offiziell über Waffen für den Kampf gegen Assad. Der Militärführer der Aufständischen, Salim Idris, hatte die EU um Waffenlieferungen gebeten. Gewehre also genau für die Sorte von Kämpfern, die nun 21 UN-Soldaten festhalten. Das geht schwer zusammen. Ein Anreiz für die rasche Lieferung von Kalaschnikows und Flugabwehrraketen ist der Golan-Zwischenfall sicher nicht.

Zwar wollen einzelne EU-Partner wie die Briten den Aufständischen inzwischen unbewaffnete gepanzerte Fahrzeuge schicken. Aber die Linie der Europäer ist klar, und zum Ausdruck gebracht hat sie der in Sachen Syrien sehr zurückhaltende deutsche Außenminister Guido Westerwelle: Humanitäre Hilfe ja, Waffen nein. Der Golan-Vorfall dürfte der Sache der syrischen Rebellen unabhängig vom Ausgang nachhaltigschaden: bei ihren Unterstützerstaaten, bei den UN, sogar in Syrien selbst. In den Internet-Foren der Revolutionäre finde sich jedenfalls überwiegend Kritik an den Entführern, berichtete dpa. Die Jarmuk-Märtyrer hätten 'dem Ansehen unserer Revolution geschadet'.

Eklat vor NSU-Prozess in München

$
0
0
Vorsitzender Richter verweigert türkischem Botschafter in Deutschland einen festen Platz im Gerichtssaal während des NSU-Prozesses.

Der türkische Botschafter und der Menschenrechtsbeauftragte des türkischen Parlaments werden keinen festen Platz im Prozess gegen die Angeklagten des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) bekommen. Das teilte das Gericht dem NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags mit, der um Platzreservierungen für die politischen Würdenträger gebeten hatte. Der Bitte könne nicht entsprochen werden, schrieb der Vorsitzende des Staatsschutzsenats des Oberlandesgerichts München, Manfred Götzl, nach Berlin. Es stehe dem Botschafter und dem Vertreter des türkischen Parlaments jedoch frei, sich als Teil der allgemeinen Öffentlichkeit zum Gericht zu begeben. Der Platz im Gerichtssaal sei beengt, Ausnahmen würden nicht gemacht.

Beim Prozess gegen die Angeklagten des NSU ist für den türkische Botschafter kein Platz

Der Vorsitzende des NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag, Sebastian Edathy (SPD), bestätigte den Eingang des Briefes und zeigte sich 'verwundert'. Er nannte die Haltung des Gerichts 'nicht nachvollziehbar' und 'unangemessen'. Ohne die Arbeit des Gerichts beurteilen zu wollen, erscheine ihm eine solche Haltung als 'Affront' gegenüber den berechtigten Interessen der türkischen Vertreter. 'Der NSU hat sechs türkische Staatsbürger und zwei gebürtige Türken getötet', sagte Edathy. Die Entscheidung des Senats lasse die notwendige Sensibilität vermissen. 'Soll sich der türkische Botschafter etwa in die Schlange der Besucher einreihen, zusammen mit Neonazis, die zum Prozess wollen?' Der Prozess beginnt am 17. April. Angeklagt sind neben Beate Zschäpe und dem früheren NPD-Funktionär Ralf Wohlleben noch drei weitere mutmaßliche NSU-Unterstützer. Dem NSU werden zehnfacher Mord, mehrere Mordversuche, Brandstiftung und Banküberfälle vorgeworfen.

Der Untersuchungsausschuss des Bundestags hatte im Februar die Türkei besucht. Dort hatte der Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses des türkischen Parlaments darum gebeten, am NSU-Prozess teilnehmen zu können. Edathy hatte zugesagt, beim Gericht um Platzreservierungen für ihn und den türkischen Botschafter zu bitten.

Der Sitzungssaal im Münchner Gericht umfasst etwa 200 Plätze, davon stehen wegen der großen Zahl von Nebenklägern nur 50 für Medienvertreter und 50 für die Allgemeinheit zur Verfügung. Schon gibt es Kritik daran, dass die bayerische Justiz für den großen Andrang zu diesem international bedeutsamen Prozess keine Alternative zum kleinen Sitzungssaal ins Auge gefasst hat.

Edathy kündigte an, er werde die Obleute des Untersuchungsausschusses über die Absage aus München informieren. Er werde sich auch an das Auswärtige Amt wenden. 'Offenbar hat das Gericht die außenpolitischen Implikationen nicht im Auge', sagte Edathy. Bei anderen Staatsschutzprozessen, etwa beim La-Belle-Prozess in Berlin, konnten ganz selbstverständlich ausländische Vertreter dabei sein. Bei dem Bombenattentat in der Diskothek 'La Belle' waren 1986 drei Menschen gestorben, zahlreiche amerikanische GIs wurden verletzt.


Auf der Suche nach Frieden

$
0
0
Auch Jahre nach den Kriegen in Ex-Jugoslawien befinden sich noch immer Hunderttausende auf der Flucht. Ein Besuch bei Familie Jonuzi in Pristina.

Es ist das erste Mal in ihrem Leben, dass Sabedin und Ibadete Jonuzi sich nicht auf den Frühling freuen. Gewiss, wenn es im März oder April wärmer wird, pfeift endlich keine eiskalte Winterluft mehr durch das mit Plastik nur notdürftig verhüllte Loch im Wohnzimmerfenster. Doch je näher der Frühling rückt, desto wahrscheinlicher ist auch, dass die Jonuzis und ihre vier Kinder ihre Wohnung im Zentrum von Kosovos Hauptstadt Pristina verlieren und auf der Straße landen, direkt neben dem Rathaus und nur 200 Meter neben dem glänzenden Neubau des Premierministers.

Die Auswirkungen der Kriege sind noch zu spüren

Die Geschichte der Jonuzis ist nicht ungewöhnlich; jedenfalls nicht in Kosovo und den Nachbarländern, in denen immer noch Hunderttausende Flüchtlinge der Kriege im ehemaligen Jugoslawien auf Rückkehr, ein neues Heim oder den Aufbau einer neuen Existenz hoffen. Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) schätzt ihre Zahl in Serbien, Mazedonien, Montenegro, Bosnien-Herzegowina, Kroatien und Kosovo auf 433437 Menschen. Allein durch den Krieg im Kosovo sind, vierzehn Jahre nach seinem Ende, noch 235000 Menschen Flüchtlinge. Die weitaus meisten sind Serben, die nach dem Eingreifen der Nato ihrerseits von Kosovo-Albanern vertrieben wurden oder aus Angst flohen. Doch auch Albaner hoffen oft vergeblich auf einen Wiederaufbau.

Die Jonuzis sind beide 27 Jahre alt, als sie sich Anfang 1999 das Jawort geben und im Dorf Dumnica nahe Podujevo im Nordosten Kosovos zusammenziehen. Sie leben arm, doch ungestört. Sie haben weder Telefon noch Auto, doch immerhin Strom, bauen etwas Getreide an und verkaufen auf dem Markt von Sabedin geschlagenes Holz. Das Eheglück währt nur kurz: Im Frühjahr 1999 lässt Serbiens damaliger Machthaber Slobodan Milosevic die Albaner aus Kosovo vertreiben. Als im Juni 1999 Nato-Soldaten im Kosovo einziehen, ist der Krieg auch für die Jonuzis zu Ende. Als sie in ihr Dorf zurückkehren, ist ihr Haus nur noch eine Ruine aus Asche, wie rund hundert andere allein in Dumnica. Insgesamt werden in Kosovo mehr als 40000 Häuser zerstört.

Die Jonuzis ziehen nach Pristina, in ein verfallenes, leer stehendes Haus. 2003 wird es verkauft und abgerissen. Die nächste Unterkunft: einer der Metallcontainer, die Russland nach dem Krieg als Notquartiere gespendet hat. Ein Jahr später wird das Containerdorf aufgelöst - freilich ohne vorher für neuen Wohnraum zu sorgen. Sabedin und Ibadete Jonuzi haben Glück im Unglück. Eine Bekannte erzählt, dass in einem Haus im Zentrum von Pristina eine Wohnung frei ist. Die bietet den Jonuzis jetzt seit gut acht Jahren Obdach. Im knapp zehn Meter großen Wohnzimmer stehen immer noch ein weißer Kachelofen und eine verschlissene Sitzgarnitur, die die vorherigen Bewohner zurückgelassen haben. Über dem Sofa hängen gerahmte Fotos der vier Jonuzi-Kinder an der Wand. Abends, wenn die Kinder ihre Hausaufgaben gemacht haben, wird das Wohn- zum Schlafzimmer der sechs Familienmitglieder. Am Tag sitzt Vater Sabedin auf dem Sofa und grübelt.

Kosovo ist das ärmste Land Europas: Der Weltbank zufolge lebt knapp die Hälfte der 1,8 Millionen Einwohner von weniger als 1,55 Euro am Tag. Offiziell zumindest: Inoffiziell bekommen viele Familien Geld von Hunderttausenden Kosovo-Albanern, die in Deutschland, Frankreich oder Italien arbeiten. Doch die Jonuzis haben keine Verwandten im Ausland. Vater Sabedin ist Diabetiker, meistens fehlt das Geld für die Medikamente. Vor achtzehn Monaten entzündete sich sein rechtes Bein - es musste amputiert werden. Arbeiten kann er seitdem nicht mehr. Seit kurzem schmerzt auch das linke Bein. Muss Sabedin Jonuzi zum Arzt, hilft die Besitzerin des Brautmodegeschäftes im Erdgeschoss seiner Frau Ibadete, ihren Mann aus der Wohnung im ersten Stock durch das verfallene, unbeleuchtete Treppenhaus nach unten zu tragen. Die Nachbarn helfen der Familie, wo sie nur können. 'Der Besitzer eines kleinen Supermarktes gibt uns Essen und nimmt nie Geld von uns.'

Das Rathaus von Pristina ist nicht weit von der Wohnung der Jonuzis entfernt. Von der Stadt bekommt die Familie 90 Euro Sozialhilfe - aber keine andere Wohnung. 'Der zuständige Beamte sagte, um dafür berechtigt zu sein, müssten wir erst einmal zehn Jahre Sozialhilfe beziehen', so schildert es Ibadete Jonuzi. Melinda Gojani von der privaten Mutter-Teresa-Stiftung (MTS) kennt die Not der Jonuzis. 'Eigentlich hätten sie längst eine Wohnung bekommen müssen. Aber in Kosovo profitieren von Hilfe längst nicht immer die wirklich Bedürftigen' - eine Anspielung auf die weitverbreitete Korruption bei staatlichen Wohnprogrammen.

Die Stiftung hat den Jonuzis Holz für den Winter gekauft - mehr kann sie nicht tun. 'Allein in Pristina fragen bei uns 800bedürftige Familien um Hilfe', sagt Gojani. 170 Häuser hat die Stiftung im vergangenen Jahrzehnt gebaut - 'ein Tropfen auf den heißen Stein'. Etwa 3000 Familien warten im Kosovo noch vergeblich auf ein neues Haus, schätzt die MTS-Frau. Nicht nur MTS fehlt das Geld - auch UNHCR strich sein Häuserprogramm für Flüchtlinge in den letzten Jahren deutlich zusammen. Im März allerdings startet das Hilfswerk in der Region eine neue Wohnbauinitiative, sagt Mirjana Ivanovic-Melenkovski vom UNHCR-Büro in Belgrad.

Dass die für die Jonuzis schnell genug kommt, ist jedoch unwahrscheinlich. Vor kurzem, so Gojani von MTS, hat die Stadt Pristina Grundstück und Haus, in dem die Jonuzis leben, an einen privaten Investor verkauft. Der will das baufällige Haus abreißen. Bis Ende April muss die Familie raus. Die Antwort auf einen Antrag der Jonuzis, ihr eine andere Wohnung zu geben oder ihr einem Metallcontainer zuzuweisen, ist datiert vom 17. Januar und fällt denkbar knapp aus: 'Wir haben keinerlei freien Wohnraum, um Sie unterzubringen.'

Haftstrafe für Berlusconi

$
0
0
Der Ex-Premier soll für ein Jahr ins Gefängnis, weil er ein abgehörtes Telefonat veröffentlichen ließ. Seine Partei will nun mit 'aller Macht' gegen den Schuldspruch vorgehen. Weitere Urteile folgen

Der frühere italienische Regierungschef Silvio Berlusconi ist zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Ein Mailänder Gericht befand den Politiker und Medienunternehmer am Donnerstag in einem erstinstanzlichen Urteil für schuldig, ein abgehörtes Telefonat veröffentlicht zu haben. Berlusconis als Haupttäter angeklagter Bruder Paolo erhielt zwei Jahre und drei Monate.

Es geht in dem Fall um ein 2005 ohne Genehmigung auf Tonband aufgezeichnetes Gespräch zwischen dem damaligen Chef der Unipol-Versicherung, Giovanni Consorte, und dem heutigen Bürgermeister von Turin, Piero Fassino, der 2005 Vorsitzender der Linksdemokraten war. Die beiden sprachen über die Versuche von Unipol, die Großbank BNL zu übernehmen. Weil die Behörden den Verdacht hatten, bei dieser Übernahme seien Unregelmäßigkeiten im Spiel, wurden ihre Telefonate abgehört. Im Dezember 2005, wenige Monate vor Parlamentswahlen, veröffentlichte Il Giornale, das von Paolo Berlusconi herausgegebene politische Kampfblatt des Medienkonzerns von Silvio Berlusconi, unerlaubterweise die Abschrift des Telefonats.


Es ist fraglich, ob Berlusconi wirklich ins Gefängnis muss

Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass der 76 Jahre alte Berlusconi seine Haftstrafe tatsächlich antreten muss. Er wird voraussichtlich in Berufung gehen. Zudem ist es in Italien nicht üblich, dass Verurteilte, die älter als 75 Jahre sind, ins Gefängnis müssen. Berlusconi, der im März auch noch mit einer Verurteilung im sogenannten Ruby-Gate-Prozess wegen der Prostitution Minderjähriger rechnen muss, reagierte italienischen Quellen zufolge mit einem Wutausbruch auf das Urteil. Der Generalsekretär seiner Partei PDL, Angelino Alfano, sagte: 'Es wird immer klarer, dass dies ein Versuch ist, Silvio Berlusconi auf dem Weg der Justiz auszuschalten, nachdem das auf demokratischem Weg bei der Wahl gescheitert ist.' Auch andere PDL-Politiker bekräftigten, dass die Partei 'mit aller Macht' reagieren werde. Am 23. März solle eine Großdemonstration stattfinden.

Das Urteil fällt mitten in die politisch unsichere Phase, in die Italien nach den Parlamentswahlen von Ende Februar geraten ist. Durch den Richterspruch sinken die Chancen der Berlusconi-Partei PDL noch weiter, bei der Bildung der nächsten Regierung Ansprüche erheben zu können. Die Bemühungen um eine regierungsfähige Mehrheit laufen bisher an der rechtskonservativen Partei vorbei.

Die sozialdemokratische PD, die das im Abgeordnetenhaus als stärkste Kraft hervorgegangene Bündnis führt, lehnt es kategorisch ab, mit Berlusconi und der PDL zusammenzuarbeiten. Um die auch im Senat nötige Mehrheit zu erreichen, strebt sie eine Einigung mit der Protestbewegung '5 Stelle' an. Da deren Führer, der Komiker Beppe Grillo, es jedoch weiterhin ablehnt, eine der Parteien zu unterstützen, ist die Lage völlig unklar. Die Hoffnungen ruhen auf Staatspräsident Giorgio Napolitano - er kommentierte die Situation am Donnerstag so: 'Ich soll der Leuchtturm sein? Das ist im Nebel mühsam.'

Zurück auf Anfang

$
0
0
In der Militärakademie von Caracas hat Hugo Chávez Karriere begonnen, jetzt liegt er dort aufgebahrt. Hunderttausende Menschen nehmen Abschied vom Staatschef, den 'das Volk für immer' behalten soll.

Caracas - Da liegt nun der Heiland, der Venezuela 14 Jahre lang leibhaftig beherrscht hat. Als ob er schliefe. Hugo Chávez ist in der Militärakademie von Caracas aufgebahrt - dort, wo sein Mythos begann. An der weiß getünchten Armeeschule wurde er einst zum Offizier ausgebildet. Davor, an der Allee der Volkshelden, hielt er am 2. Februar 1999 seine erste Rede als Präsident: 'Heute ist der Tag des Vaterlandes von Simón Bolívar!', rief Chávez damals. 14 Jahre später wird seine Leiche hier ausgesegnet. Eine Hälfte des Sarges ist mit einer venezolanischen Flagge bedeckt, die andere gibt durch eine Glasscheibe Kopf und Rumpf frei. Chávez trägt olivgrüne Uniform, schwarze Krawatte und das rote Barrett des Fallschirmjägers. Manche finden, sein Gesicht wirke jünger als 58 und gesünder als während der Krebskrankheit. Ist er wirklich tot?



Hunderttausende Menschen nehmen Abschied von Hugo Chávez.

Wer einen flüchtigen Blick auf ihn wirft, der muss vorher halbe Tage lang in kilometerlangen Schlangen ausgehalten haben. Hunderttausende meist rot gekleideter Verehrer stehen an, seit Chávez am Mittwoch in diesen Saal getragen wurde. Angesichts des Andrangs beschloss die Regierung, die Ehrenwache auf sieben Tage auszudehnen. 'Wir wollen, dass ihn jeder sehen kann, der ihn sehen will', verkündete Chávez" geschäftsführender Nachfolger Nicolás Maduro. Und selbst danach soll der Comandante in keiner Gruft verschwinden. Erst hieß es, er werde auf dem Nationalfriedhof oder dem neuen Mausoleum neben seinem Idol Bolívar beigesetzt. Doch Maduro gab am Donnerstag bekannt, dass Chávez einbalsamiert und ins Revolutionsmuseum im hügeligen Armenviertel 23 de enero gebracht wird. 'Damit ihn das Volk für immer hat. Wie Mao, Lenin, Ho-Chi-Minh.'

Deshalb gab es am Freitag auch kein Staatsbegräbnis, sondern einen Staatsakt ohne Bestattung. Der allerdings war beachtlich. Wahrscheinlich hat es in Lateinamerika seit Evita und später Juan Domingo Perón in Buenos Aires keine solche Trauerfeier mehr gegeben. Mehr als 50 Politgrößen sind an der Karibikküste eingeschwebt, darunter Raúl Castro aus Kuba, die Brasilianer Dilma Rousseff und Luiz Inácio Lula da Silva, Prinz Felipe aus Spanien und Mahmud Ahmadinedschad aus Iran. Am Abend sollte dann gleich der Vize Maduro zum Präsidenten vereidigt werden, obwohl laut Verfassung bis zu Neuwahlen in 30 Tagen eigentlich der Parlamentsvorsitzende Diosdado Cabello übernehmen müsste. Bei seinem Abschied hatte sich der Comandante Hugo Chávez seinen Statthalter Maduro als Erbe gewünscht. Und der Comandante geht gerade in den Zustand des Nationalheiligen über.

'Chávez war unser Führer, unser zweiter Jesus', schluchzt eine Frau in der Menschenmenge. 'Yo soy Chávez', steht auf ihrem roten T-Shirt, 'ich bin Chávez'. Sie heißt Cora Cerena, ist 42 Jahre alte Gemeindefunktionärin und bewegt sich seit acht Stunden im Gänsemarsch auf ihr verstorbenes Idol zu. Das sei ja das mindeste, was man für ihn tun könne. 'Ich will ihn sehen, und wenn es nur eine Sekunde ist.' Sie habe den Herrn gebeten, Chávez möge sich schonen, 'er wird sonst krank', doch Chávez habe nicht einmal Urlaub genommen. 'Er ist für uns gestorben.' Denn, 'schauen Sie: Chávez war etwas Übernatürliches. Es gibt diese übernatürlichen Wesen. Er war ein Prophet Gottes, und jetzt ist er zu Gott hinauf gefahren', klagt die staatliche Aangestelte.

Über dieser Prozession leuchtet ein Kreuz am hauptstädtischen Hausberg Ávila, das gewöhnlich nur in der Adventszeit abgeknipst wird. Der klare Tag hat sich mit rosafarbenen Streifen in eine Nacht der Sterne verwandelt, morgens wird die Sonne unter einem orangefarbenen Band von Smog aufgehen. Caracas ist zwar ein verstopfter und gefährlicher Moloch, besitzt aber ein prima Klima. Das kommt dem Ereignis entgegen. 'Unser Venezuela ist gesegnet', sagt Cora Cerena, meint jedoch eher Chávez als das Wetter. 'Er hat unser Gewissen erweckt.' Sie schwärmt von Erziehung, subventionierten Lebensmitteln und kubanischen Ärzten in den Slums, wo früher kaum eine Krankenstation zu finden war. 'Wir verschenken unser Öl nicht, wie manche behaupten. Wir bekommen etwas dafür. Das ist wie ein Warentausch.'

Vor ihr steht ein junger Techniker des staatlichen Ölkonzerns PdVSA, er reibt sich die müden Augen. 'Chávez hat Venezuela verändert, er hat PdVSA von einem kapitalistischen zu einem sozialen Unternehmen gemacht', sagt er mit erschöpfter Stimme. Das Öl ist das Schmiermittel dieser sozialistischen Revolution, es spült dank seines hohen Preises Milliarden in die Staatskasse. Die beiden Anhänger setzen auf den neuen Staatschef Nicolás Maduro, der die Wahl gewinnen wird, auch wenn ihm das verführerische Talent seines Vorgängers fehlt. 'Nicolás wird nicht tanzen und nicht singen, und ich werde dieses Lächeln vermissen', klagt sie. 'Doch wir verlieren nicht die Illusion. Wir kämpfen weiter.' Ihr Messias wird ja nicht zu Asche oder Staub.

Chávez vive, la lucha sigue, lautet ein Gassenhauer dieser Tage - Chávez lebt, der Kampf geht weiter. Chávez vive, el pueblo está contigo - Chávez lebt, das Volk ist mit dir. Man kann sich pausenlos Parolen und Lobeshymnen auf den Kommandanten anhören, dessen Körper dieser verdammte Tumor dahin gerafft hat. Am Ende war es ein Herzinfarkt, verriet der Chef der Präsidentengarde. 'Ich will nicht sterben, bitte lasst mich nicht sterben', sollen Chávez" seine Lippen gefleht haben. Sprechen konnte er nicht mehr. Auch heißt es, die künstliche Beatmung sei auf Wunsch der Familie abgestellt worden, Chávez litt nach der vierten Operation an diesem Geschwür an der Hüfte auch an einer Lungenentzündung. Aber was spielen medizinische Details noch für eine Rolle. Das Staatsfernsehen spricht von 'physischem Verschwinden' und überträgt das Gedenken in Endlosschleife.

Plötzlich steigen weiße Tauben auf. 'Ein Signal', kreischt eine ältere Dame. Zwischendurch werden Kollabierte zu Krankenwägen getragen. Kinder klettern auf Panzer, die als Dekoration am Wegesrand stehen. Es wird gesungen und doziert, die riesige Landesflagge hängt schlapp auf Halbmast. 'Hier gibt es nur eine Stimme, und das ist die Stimme des Comandante', brüllt ein Mann. Devotionalienverkäufer haben ihr Sortiment dabei. Zu den Hits gehören rote T- Shirts und Käppis, die nur die charakteristische Augenpartie des Verblichenen zeigen. Es gibt Chávez-Puppen und Chávez-Fotos, darunter das allerletzte vom Krankenbett in Havanna mit zweien seiner Töchter. Kostenlos verteilt wird ein Plakat mit seinem Porträt und dem Titel: 'Hasta la victoria siempre, comandante' - Immer bis zum Sieg, Kommandant. Der Spruch ist seit der kubanischen Revolution zum Schlachtruf der Linken geworden. Eine Zeitung hat Chávez" letzte Rede vom 8. Dezember vergangenen Jahres nachgedruckt: 'Patrioten Venezuelas, die Knie auf der Erde.'

Die Chavisten haben enorme Erfahrung mit PR und Großveranstaltungen, der Caudillo brachte zu Lebzeiten immer wieder ein rotes Menschenmeer auf die Straßen. Er gewann abgesehen von einem Referendum alle Wahlen und Plebiszite. Unter ihm wuchs der Staatsapparat zwischen 1999 und 2012 von 1,24 auf 2,63 Millionen Angestellten, auch sind Zehntausende Venezolaner in Armee und Milizen und Kommunen organisiert. Die Pflicht allein allerdings erklärt das Phänomen dieser überbordenden Pilgerfahrt nicht. Die Arbeitslosigkeit sank in seiner Regierungszeit von 14,9 auf 8,7 Prozent, die Armut von 43,9 auf 26,9 Prozent. Die Slums erheben sich auch im Hintergrund der Militärakademie, jahrzehntelang wurde der Reichtum der Republik skandalös ungerecht verteilt. Selbst Kritiker müssen anerkennen, dass Chávez das zumindest ansatzweise verändert hat.

Selbst die Opposition ist derzeit still. Und überlegt sich, ob sie tatsächlich ihren jungdynamischen Henrique Cardiles gegen Maduro verheizen soll. Eine feierliche Starre hat sich über das sonst so laute und geteilte Land gelegt. Der Dank spottbilligen Sprits meistens höllische Verkehr ist ausnahmsweise erträglich. Vorübergehend wird nicht mal Alkohol ausgeschenkt - ein Härtetest für das Heer der venezolanischen Whiskeytrinker. Fürs erste wird obendrein weniger gemordet. Doch die Inflation wuchert weiter, der Schwarzkurs der Währung Bolívar ist trotz Abwertung viermal so hoch wie der offizielle Wechselkurs. 'Bald essen wir nur noch Kartoffeln', fürchtet ein Finanzunternehmer - und entschwindet während der Feiertage ins Ferienhaus am Strand, wo sich die Elite trifft.

Sogar Privatmedien verhalten sich pietätvoll. Die Zeitung El Universal druckt auch eine eigene Todesanzeige. El Nacional titelt: 'Acht Kilometer Liebesbeweise, um Chávez zu verabschieden.' Mehrere Länder haben Staatstrauer ausgerufen, Bolivien und Nigeria wie Venezuela eine ganze Woche lang. Die Region steht geschlossen Spalier, dahinter war tatsächlich so etwas wie Einheit zu erkennen. Bloß mit dem erweiterten Imperium gibt es das übliche Gezeter. 'Chávez" verrottetes Erbe', schreibt der britische Economist: 'Hinter der Propaganda ist Venezuelas hässliche Realität die eines korrupten, zynischen und inkompetenten Regimes.' Maduro wiederum verdächtig Washington, Chávez" Krebs provoziert zu haben, eine bizarre Idee. Zwei US-Diplomaten wurden ausgewiesen. Und Kanadas Regierungschef Stephen Harper gilt als unverschämt, weil er Venezuela 'eine bessere Zukunft' wünscht.

Die Staatsgäste verneigen sich am Freitag vor Hugo Chávez. Brasiliens Dilma Rousseff und Lula, die ihren Krebs besiegt haben. Kubas Castros, Boliviens Evo Morales, Nicaraguas Daniel Ortega, Ecuadors Rafael Correa, Weißrusslands Alexander Lukaschenko, Irans Ahmadinedschad, Äquatorialguineas Diktator Teodoro Obiang. Viele verlieren einen Freund und Verbündeten. 'Er beobachtet uns aus den Himmel', berichtet Ahmadinedschad. 'Umarme Allende und den Che für uns', bat Maduro den toten Chávez. Der chilenische Sozialist Allende und der argentinisch-kubanische Rebell Guevara sind ihm längst vorausgeeilt. Nur ein besonders religiöser Bewunderer hat eine eigene Vorstellung von dieser irdischen Himmelfahrt: Malvin Rodríguez stellt sich als früherer Guerillero vor. Er trägt ein Schild mit Bildern von Jesus Christus und Hugo Chávez und predigt: 'Chávez wird unser himmlischer Krieger, aber erst muss er durchs Fegefeuer. Da müssen wir alle durch.'

Kommentar: Kriegsgeschrei in der dritten Generation

$
0
0
Diktator Kim Jong Un schraubt die Drohungen gegen Südkorea immer höher.

Die Fragen liegen auf der Hand. Und die Antworten sind alles andere als beruhigend. Meint Nordkoreas Machthaber Kim Jong Un seine Drohung mit einem Atomangriff wirklich ernst? Steht die Welt fast sieben Jahrzehnte nach den Bomben auf Hiroshima und Nagasaki vor der sehr realen Gefahr eines Atomkriegs? Nur weil ein offenkundig skrupelloser Gewaltherrscher über ein kleines nukleares Waffenarsenal verfügen könnte?



Nordkoreas Machthaber Kim Jong Un verstärkt seine Drohungen.

Zunächst einmal: Die Gefahr ist sehr real. Nicht, dass Nordkorea tatsächlich eine Rakete mit einem nuklearen Sprengkopf Richtung Amerika schicken könnte, wie es die Propaganda-Maschine des Landes in die Welt hinausposaunt. Dafür fehlt dem Regime ein ausgetestetes Trägersystem. Aber es hat waffenfähiges Spaltmaterial für sechs, vielleicht acht Bomben, die es in Kamikaze-Manier auf der koreanischen Halbinsel Richtung Süden befördern könnte. Auch 'schmutzige Bomben' - also konventionelle Sprengsätze, die bei einer Explosion radioaktives Material verstreuen - hätten im dicht bevölkerten Südkorea verheerende Folgen. Das größte Risiko indes dürfte im Moment ein anderes sein: Dass der Norden Südkorea, und damit auch dessen Schutzmacht, die USA, in eine konventionelle Auseinandersetzung zwingen könnte. Selbst ein regional begrenzter Krieg wäre fatal. Südkoreas Hauptstadt Seoul liegt in Reichweite der schweren Artillerie des Nordens, deren Feuerkraft nicht unterschätzt werden darf.

Gewiss, die Drohung, Seoul dem Erdboden gleich zu machen, ist nicht neu. Sie gab es immer wieder. Auch der heiße Draht zwischen Nord und Süd wurde schon mehrmals gekappt (und wieder in Betrieb genommen). Doch war die Gefahr noch nie so groß, dass der Krieg der Worte in einen Waffengang eskaliert, in dem der Norden Atomwaffen einsetzen könnte. Nicht wahrscheinlich ist das, aber völlig abwegig auch nicht. Denn eine Frage kann keiner im Westen mit Sicherheit beantworten: Wie viel Rationalität steckt wirklich in dem scheinbar irrationalen Getöse Kims?

Das Familienregime in Pjöngjang ist auch in seiner dritten Inkarnation - nach Großvater und Vater regiert nun der Enkel - so undurchschaubar wie eh und je; fast noch unergründlicher. Beim Junior fällt die Diskrepanz zwischen seiner zur Schau gestellten Modernität und der auffälligen Aggressivität seines Verhaltens auf, die direkt aus dem Kalten Krieg zu kommen scheint. Er lässt sich lachend und mit Ehefrau ablichten, als wäre er nicht brutaler Despot, sondern der Genosse Kumpel. Zugleich hat er die Frequenz der verbalen Ausfälle so unheilvoll hochgeschraubt, dass man zweifeln muss, ob er weiß, was er tut.

Wenn er nur ein Provokateur ist, dann würde er die Risiken genau berechnen und im entscheidenden Moment zurückschrecken. Ist er ein Spieler, wäre die Gefahr größer, dass er zu weit geht. Oder ist er von Größenwahn befallen und von seiner Machtfülle so berauscht, dass er die Gefahr nicht sieht? Dann wäre sein Kurs selbstmörderisch. Man kann nur hoffen, dass es Variante eins ist. Schlimm genug.

Zappeln als Distinktion

$
0
0
Wie der Harlem Shake zum Ausdruck einer neuen kulturellen Ordnung wurde.

Man muss genau hinschauen, denn zu sehen gibt es zunächst nur einen dreißigsekündigen Zappeltanz. Seit Anfang Februar ist er zur Kopiervorlage für unzählige Nachtänzer überall auf der Welt geworden. Man spricht bei dem Gezappel von einem Internet-Mem. Damit werden Phänomene beschrieben, die auf der Kraft des Teilens und Verbreitens basieren, die im digitalen Raum viel wirkmächtiger ist, als in der analogen Welt. Denn im Netz können nicht nur Dateien verlustfrei dupliziert werden, es werden auch Moden, Tänze und Bewegungen adaptiert und weitergereicht. Genau das passiert gerade mit dem sogenannten Harlem Shake. Wer die jeweils dreißig Sekunden dauernden Clips dazu genau anschaut, sieht mehr als einen Zappeltanz: Man kann dabei beobachten, wie das Internet gerade im Moment unsere Kultur verändert.



Bunt kostümierte Menschen tanzen am 03.03.2013 an der Leibniz Universität in Hannover den 'Harlem Shake'.

Bis Ende Januar 2013 war der Harlem Shake ein Tanzstil, der ursprünglich als Hip-Hop-Move in den achtziger Jahren im New Yorker Stadtteil Harlem erfunden wurde. Der Musikproduzent Harry Rodrigues, der selber jünger ist als dieser Tanz und aus dem New Yorker Stadtteil Brooklyn stammt, benannte im Mai 2012 einen Song nach den ruckartigen Bewegungen. Der 22-Jährige veröffentlichte seinen 'Harlem Shake' unter dem Künstlernamen Baauer. Anfang des Jahres 2013 hatte dann der 19-jährige Komiker und Video-Blogger Filthy Frank, der ebenfalls in New York zu Hause ist, die Idee, diesen Sound neu in Szene zu setzen. Dazu stellte er einen Video-Clip ins Netz, in dem vier Personen sich in einem Muster zur Musik von Baauer bewegen, das man fortan in Abertausenden Kopier-Clips in unterschiedlichen Kontexten immer gleich zu sehen bekommt: Zunächst wird eine gewöhnliche Situation gezeigt, in der eine Gruppe zu sehen ist. Sobald die Musik beginnt, fängt eine Person aus dieser Gruppe an, sich alleine zu dem Sound zu bewegen. 'Nach exakt 15 Sekunden setzt mit der Textzeile "Do the Harlem Shake" der Bass ein', beschreibt die Internet-Enzyklopädie Wikipedia das Prinzip des Phänomens so treffend, dass man es sich im Zitat erklären lassen sollte: 'Gleichzeitig steigen von einem Moment auf den anderen alle anderen Personen (auch neue) mit unkontrollierten Bewegungen wie Zappeln und Hüpfen in den Harlem Shake ein. Ihr Äußeres ist nun ebenfalls schrill und kontrastierend zur Umgebung. Häufig sind Ganzkörperkostüme, Halbnacktheit und Arbeitskleidung. Der Übergang ist wegen des Videoschnitts hart, seltener auch fließend. Nach weiteren 15 Sekunden ist das Video zu Ende.'

Doch was dann beginnt, ist die Funktionsweise einer neuen kulturellen Ordnung, die auf Menschen, die mit dem Prinzip der Netz-Meme nicht so vertraut sind, ähnlich verstörend wirken muss, wie der Beginn der Popmusik in der Nachkriegszeit. Der Harlem Shake ist nämlich weit mehr als ein Zappeltanz. Menschen überall auf der Welt stellen die beschriebene Szene in ihrem Umfeld nach und laden den Clip ins Netz. In Redaktionen, Büros und Sporthallen wird im immer gleichen Muster gezappelt. Das ist mehr als eine alberne Spielerei, es ist die globale Teilhabe an einem Phänomen, das Sprach- und Landesgrenzen überschritten hat und wie ein geheimer Witz über den Code des gemeinsamen Verstehens funktioniert.

Wer heute am Harlem Shake teilnimmt, agiert wie ein Nerd, der früher eine seltene Vinyl-Pressung eines Popsongs aus Japan importierte: Er schreibt sich in eine Gruppe ein, die sich von den Nicht-Wissenden abgrenzt. Das Besondere daran: es geschieht alles öffentlich, was die Abgrenzungsmuster aber nicht zu beeinträchtigen scheint. Zappeln als Distinktion steht nicht nur als globale Gruppendynamik für eine neue kulturelle Ordnung. Der Harlem Shake verschiebt auch die gelernten Muster von Popularität und Wertschöpfung.

Denn dass so viele Menschen an der Bewegung teilnehmen, gründet sich zunächst darauf, dass sie sich ihrer Masse versichern wollen. Jeder Clip ist wie ein gerecktes Feuerzeug auf einem Popkonzert. Die Fußballer von Hertha BSC, zahlreiche Radio-Redaktionen oder unlängst sogar die Figuren aus der Serie 'The Simpsons' - sie alle strecken ihr Licht in die Wellen des Web. Erst in der Addition entsteht ein Lichtermeer, erst von außen sehen alle, wie viele sie sind. So macht jeder ein bisschen mit und alle profitieren.

Einer hingegen profitiert besonders. Und das liegt vor allem daran, dass Musikproduzent Harry Rodrigues der Versuchung widerstand, sich gegen die Welle zu stellen. Baauer hat nicht gegen die vielfache urheberrechtlich unerlaubte Verwendung seines Harlem Shake geklagt und darf deshalb jetzt auf der Welle surfen, die ihn trägt. Baauer profitiert so sehr von der rechtlich fragwürdigen Nutzung seines geistigen Eigentums, dass er sich schon fragen lassen muss, ob das überhaupt fair sei. Der amerikanische Blogger Mike Masnick rechnete auf seiner Plattform Techdirt vor, dass der erste Youtube-Nutzer Frank Filthy und im Prinzip jeder, der dem Harlem Shake zu Ruhm verholfen hat, Anteil an diesem Erfolg habe. Und natürlich auch diejenigen, die Baauer selber in dem Song gesampelt hat - die Band Plastic Little zum Beispiel, aus deren Song 'Miller Time' die titelgebende Aufforderung 'Do the Harlem Shake' stammt. Oder die Erfinder und Nutzer des charakteristischen 'con los terroristas', das Baauer bei DJ Gregory and Gregor Salto entliehen hat, die es für ihr 'Con Alegria' aus dem Jahr 2010 wiederum bei dem kolumbianischen Reggaeton-Musiker Hector Delgado alias El Father kopiert hatten: der hatte schon 2006 in 'Los Terroristas' gerufen, was heute alle singen.

Baauers zu teilender Erfolg ist in der Tat erstaunlich: 'Sein Harlem Shake ist der erste Song in der Geschichte der Billboard Hot 100, der von einem weitestgehend unbekannten Künstler stammt und auf Platz eins eingestiegen ist', rechnet der Netzautor Andy Baio vor. Der Grund dafür liegt in einer Umstellung der Chartauswertung. Nach dem überwältigenden Erfolg des letzten großen Internet-Mems 'Gangnam Style' aus dem Jahr 2012 entschieden sich die Billboard-Macher dafür, ab diesem Jahr auch die Aufrufe von Youtube-Songs in die Bewertung einfließen zu lassen. Davon profitiert Baauer ebenso wie vom Verkauf seines Songs - um aber wirklich zu verstehen, wie die Geschäfte in diesen Aufmerksamkeitsgipfeln gemacht werden, lohnt sich ein Blick auf Baauers Vorgänger Gangnam Style.

Das Lied des südkoreanischen Rappers Psy schaffte es mit dem passenden Tanz- und Videoclip ins Guinness-Buch der Rekorde und wurde sogar bei 'Wetten dass...?' nachgetanzt. Der nach dem Seouler Stadtteil Gangnam benannte Song wurde so das bekannteste musikalische Mem des Jahres. Der Original-Clip ist heute das populärste Youtube-Video aller Zeiten - bis heute wurde er mehr als 1,3Milliarden Mal angeschaut. In Deutschland ist er allerdings wegen urheberrechtlicher Vergütungsfragen gesperrt. Mehr als acht Millionen Dollar wurden 2012 allein durch die Werbung rund um das Video verdient - nicht vom südkoreanischen Rapper oder einer Plattenfirma, sondern von Youtube. Diese Zahl nannte ein Google-Manager Anfang des Jahres.

Youtube, das zu Google gehört, profitiert von den Erfolgen der Internet-Meme nämlich noch mehr als die vermeintlichen Original-Schöpfer. Das Portal stellt die Plattform zur Verfügung und verdient an der Aufmerksamkeit, die sich dort schlagartig durch die sogenannte virale Verbreitung bündeln lässt. Google fragt nicht danach, wie man die Aufmerksamkeitswellen steuern oder nach klassischen Geschäftsmustern vergüten kann. Google surft einfach mit auf den Wellen, die an Land gespült werden.

Beim Aufkommen der Popmusik gab es im Klischee überzeichnete Plattenbosse, die an den Erfolgen und der Hysterie um ihre plötzlich populären Stars verdient haben. Es ist nicht so, dass heute nichts verdient würde, die Muster und die Nutznießer sind allerdings mittlerweile andere. Der Harlem Shake zeigt auch das.

Der Autor bloggt auf sz.de über 'Phänomeme'. Das Wort ist eine Neuschöpfung aus Phänomen und den sogenannten Internet-Memen, deren derzeit bekanntestes Beispiel der Harlem Shake ist.

'Aber womit verdienen Sie Geld?'

$
0
0
Angela Merkel macht eine Tour durch die Hauptstadt und besucht Internet-Start-Up-Unternehmen. Die Kanzlerin erfährt viel über die IT-Branche und kommt am Ende zu dem Schluss, das werde die Arbeitswelt verändern.

Berlin - Warum will sie denn das so genau wissen? Da sitzt die Kanzlerin vor einem Computer-Bildschirm in einem Hinterhofbüro und fragt und fragt. Ijad Madisch, der Chef von ResearchGate, erklärt ihr eine Jobbörse, die seine Firma im Internet aufbaut. Wie man ein Stellengesuch spezifizieren kann, was das den Wissenschaftler kostet, der nach einer neuen Aufgabe sucht, und so weiter. Fehlt nur noch, dass Angela Merkel ihn bittet, mal zu schauen, ob unter den derzeit 15000 Angeboten vielleicht auch was für eine Physikerin dabei wäre. Macht sie sich Sorgen um ihre Zukunft?



Kanzlerin Merkel besuchte in Berlin Internet-Start-Up-Unternehmen.

Merkel macht sich wohl eher Gedanken um die Zukunft der Firma. ResearchGate, 2008 gegründet, bietet ein wohl einzigartiges globales Netzwerk für Wissenschaftler zum Austausch von Arbeiten und Ideen. Mehr als 20 Millionen Veröffentlichungen verzeichnet die Plattform schon, 100 Mitarbeiter hat die Firma und genau so viele Server sind inzwischen notwendig, um das Netzwerk in Gang zu halten. 'Aber womit verdienen Sie Geld?', fragt die Kanzlerin. Und das nicht nur einmal.

Merkel macht eine kleine Tour durch die Hauptstadt. Sie besucht Internet-Start Up-Unternehmen. Berlin liegt da als Standort in einem internationalen Index nur auf Platz 15. Immerhin aber wächst die Gründerszene, auch weil Computer-Experten gerne nach Berlin kommen. 'Cool' sei die Stadt, hört Merkel im Lauf des Tages von gebürtigen Amerikanern, Chinesen oder Ukrainern, 'aufregend' und 'kreativ'. Es wäre allerdings schön, wenn auf den Ämtern mehr Leute Englisch sprächen.

Später auf einem Empfang trifft Merkel 175 Geschäftsführer von deutschen Unternehmen der IT-Branche, die mittlerweile weit mehr als 100000 Leute beschäftigen. Aber was ist das schon im Vergleich zu den USA? Die vier größten IT-Unternehmen Amerikas, sagt der Investor Lars Hinrichs, der das Netzwerk Xing gegründet hat, brächten es zusammen schon auf 75 Prozent der Kapitalisierung aller 30 Dax-Unternehmen. Ausgerechnet Deutschland mit seiner Kultur von Erfindergeist und mittelständischem Unternehmertum sei 'beim Internet abgeschlagen'.

Ijad Madisch hat in Hannover und an der Harvard Universität studiert. Eines Tages half er einem gewissen Joachim Schoss, der Probleme mit seinem Computer hatte. Es war eine lohnende Begegnung, denn Schoss, Gründer der Scout24-Gruppe, die unter anderem Autos und Wohnungen im Internet vermittelt, gehört heute zu den Investoren in ResearchGate. Auch Matt Cohler ist ein Kapitalgeber, ein junger, fast schüchtern wirkender Mann, der auf die Frage der Kanzlerin, wie er sein Geld verdient habe, schmunzeln muss: Cohler war einer der ersten Mitarbeiter von Facebook und gehört heute zu dessen größten Anteilseignern.

So ein Start-Up ist wahrlich eine eigene Welt. 'Was machen Sie so?', fragt Merkel einen jungen Mann. Er arbeite daran, dass man Wissenschaftler im Netzwerk besser auseinanderhalten könne, antwortet er. Angela Merkels gäbe es nicht so viele, aber bei den Horst Meiers könne das schon anders sein. Dann lernt Merkel noch, dass die Angestellten kommen und gehen, wann sie wollen, eine Feelgood-Managerin Sport- und Freizeitaktivitäten organisiert, und das Essen auf Firmenkosten vom Caterer geliefert wird. Auf die Frage, ob er auch ältere Mitarbeiter habe, antwortet Firmengründer Madisch, na klar, gerade habe er einen 41-Jährigen eingestellt.

Merkel, 58, beweist zumindest Grundkenntnisse. 'Nutzen sie fremde Clouds?', fragt sie. Nein, alles wird auf den Servern gespeichert. Und die stehen in Texas. Aber was ist jetzt mit dem Geldverdienen? Madisch erklärt, erst brauche man ein Netzwerk, eine Community, um dann festzustellen, was sie braucht. Die Jobbörse zum Beispiel. Oder eine Börse für Laborartikel, womit er nicht Pipetten oder Reagenzgläser meint. Vielmehr könnten Wissenschaftler da recherchieren, 'wo man am besten Antikörper' bekommen kann. Man ahnt gemischte Gefühle, als Merkel später vor den Unternehmern sagt, die Digitalisierung werde die Arbeitswelt verändern.

Kommissar Zufall

$
0
0
Noch nie gab es so viele 'Tatort'-Ermittler. Am Sonntag startet Til Schweiger, und so suchen nun 21 Teams nach Mördern. Regionale Eitelkeiten sorgen dafür, dass man kaum noch weiß, wer wo welche Fälle löst.

Man kann in diesem Zusammenhang zum Beispiel lange über Bremen reden und schreiben, übrigens auch sehr viel Positives. Wie gut besucht die Ausstellungen und Konzerte immer sind, Edvard Munch in der Kunsthalle vor einem Jahr oder gerade eine Benefizveranstaltung mit Anna Maria Kaufmann in der Kirche 'Unser Lieben Frauen'. Die Bremer ziehen sich am Wochenende gern ihre besseren Klamotten an - Sonntagsstaat, sagt man im Norden - und genießen das kulturelle Angebot.



Till Schweiger alias Nick Tschiller nimmt am Sonntag die Ermittlungen auf.

Aber wie es in Bremen zugeht, das wissen in Deutschland eher wenige. Die meisten da draußen kennen Bremen von der Durchreise, aber auf jeden Fall vom Fußball und aus dem Fernsehen. Der Tatort und die Bundesliga geben einer Stadt Konturen, wenn sie nicht gerade Hamburg, Berlin, München ist. Und wer nicht weiß, wie der Bürgermeister von Bremen heißt, der kennt sicher die Kommissarin aus Bremen oder schon auch noch den Assistenztrainer von Werder. Die Bremer zum Beispiel mussten vor zwei Wochen erleben, wie Werder ihnen am Samstag Schande machte durch ein 1:6 beim FC Bayern. Während der Bremer Tatort am Sonntag darauf zu den stärksten der vergangenen Monaten gehörte, ein Krimi im amerikanischen Design, schwebende Musik von The XX. 'Fußball könnt ihr zurzeit nicht spielen', schrieb einer bei Twitter, 'aber euer Tatort war bestens.' Ein anderer: 'Der Scharfschütze im Tatort spielt übrigens sonst bei Werder Bremen.' Das war böse gemeint, der Scharfschütze schoss dauernd vorbei.

2013 ist das Jahr der neuen Ermittlerteams im Tatort. Eine junge Belegschaft in Erfurt kommt dazu, in Weimar fahnden Christian Ulmen und Nora Tschirner, dazu Devid Striesow in Saarbrücken, Wotan Wilke Möhring im Norden und Til Schweiger nun in Hamburg - Möhring und Schweiger begegnen sich dabei schon mal da, wo Männer sich vertraut begegnen können, am Pissoir. In der Bundesliga spielen 18 Vereine mit, im Tatort gibt es inzwischen 19 Ermittlerteams, dazu die kooptierten Inspektoren aus Wien und Luzern.

So viele waren es nie. 'Der Tatort ist eine Blase geworden', hat Ulrich Tukur gesagt, als Ermittler Felix Murot spricht er sonst mit seinem Gehirntumor. 'Es gibt ja fast keine deutsche Stadt mehr über 100000 Einwohner, die nicht über einen Tatort-Kommissar verfügt.'

Jeder Sender, jede Region hätte gern einen eigenen Tatort, warum eigentlich? Was Radio Bremen angeht, ist der Tatort das Gesicht eines Senders, dessen Bedeutung geringer geworden ist: zu wenig Geld, zu wenige Ideen. Früher kamen der Beat-Club und die Extratour aus Bremen, Loriot hat da produziert, Carrell, Kerkeling; es gab das revolutionär respektlose Vorabendprogramm buten un binnen und die Talkshow 3 nach 9. Sie brauchten in Bremen keinen Tatort für das Profil des Senders.

Aber wenn sie doch mal einen Tatort machten, 1972 die Episode 'Ein ganz gewöhnlicher Mord', dann war der Beitrag ein Highlight der Reihe, gebaut wie eine Dokumentation. Regisseur Dieter Wedel bot die Stars seiner Semmeling-Dreiteiler auf, Fritz Lichtenhahn, Antje Hagen, Günter Strack. Man sieht den Freimarkt und die alte verräucherte Bahnhofshalle, Wartesaal und Heimathöhle für die Gestrandeten und Versoffenen und für solche, die den letzten Zug nach Oldenburg nicht mehr erwischt haben. Außerdem hat die Bremer Polizei ständig zu wenig Dienstfahrzeuge.

Ein romantisierendes Bremen-Bild wird in dem alten Film also nicht gezeichnet, anders als in den neuen Folgen, die immer auch vom Amt für Stadtmarketing inszeniert sein könnten. Schwenk auf die schönsten Bauten, Kamerafahrten über Häusermeere, gerne bei Nacht, wenn die Städte funkeln. Dortmund und Bremen wurden zuletzt so ausgeleuchtet, auch Hamburg wird am Sonntag unheimlich gut aussehen. Früher war der Tatort nicht zwingend die Visitenkarte der Stadt, in der er spielte, manchmal waren Stadt und Region geradezu anonymisiert. In den Siebzigern ermittelte Hansjörg Felmy als Kommissar Haferkamp in Essen, aber das war nur ein stilisiertes Essen, mit Phantasievororten namens Suddenrath. Und einmal, in der wunderbaren Folge Fortuna III von 1976, führt die Spur auf jenen Fußballplatz in Katernberg, auf dem der Essener Held Helmut Rahn früher gekickt hatte. Das blieb im Tatort unerwähnt, die Regie hatte das reale Vereinsheim der Sportfreunde Katernberg zur fiktiven Vereinskneipe Lindenbruch umdekoriert. Es wurde ja ein Film gedreht, kein Heimatkundebeitrag.

Heute ist jeder Tatort eine Einladung an die Gemeinde: Sie darf beurteilen, ob ihre Stadt vernünftig rübergekommen ist. Die Bewohner sitzen auf einer der zahlreichen Tatort-Partys zusammen, oder sie debattieren in den Internetforen. Die Darstellung der Stadt kann wichtiger sein als die Erörterung der Frage: Wer ist der Mörder? Regionale Bezüge und Sensibilitäten werden wichtiger, nicht nur im Tatort, Forscher sprechen von den Bedürfnissen des glokalisierten Menschen. Im Internet vernetzt mit der Welt, durchs Fernsehen verwurzelt in der Nachbarschaft. Früher kam im Dritten immer Bildungsfernsehen, Mathematiklehrer in hässlichen Pullovern zeigten, wie der Dreisatz geht. Heute ist das Dritte eine Abspielfläche, auf der der jeweiligen Scholle gehuldigt wird, von Dahoam is Dahoam bis zur Leuchte des Nordens. Früher war es peinlich, Dialekt zu sprechen, als Schüler in Norddeutschland trainierte man sich sein rollendes R lieber ab, damit einen die anderen nicht für einen Ostfriesen hielten. Heute ist es sexy, seinen Dialekt auszustellen. Ina Müller. Fettes Brot. Der Fernsehkoch Steffen Henssler dagegen nervt enorm mit seinem norddeutschen Geplärre am Herd. Der Tatort konserviert Eindrücke und definiert Eigenschaften neu. Er ist Heimatmuseum und Imagelabor. Dass Münster inzwischen - von Fremden oder flüchtigen Gästen - als Ort verstanden oder missverstanden wird, an dem vor allem Komiker leben, hat mit dem Tatort-Team Thiel und Boerne zu tun. Kein Wunder, dass bei dieser Wirkung jeder Sender, jedes Land einen Tatort will und sich notfalls der Kritik aussetzt wie zum Beispiel die Schweizer. Gerade war ein sehr getragener Artikel in der Weltwoche, in dem es um Bergbauern ging, die den Investor mit der Mistgabel vertreiben. Und um Mörder, die ihre Opfer mit Tells Armbrust erlegen. 'Wie kommt das Fernsehen dazu, ein solches Bild der Schweiz zu zeichnen?', fragte der Autor und kam ungefähr zur Ansicht, die Schweizer wollten halt den Deutschen gefallen, deswegen machten sie sich in ihren Tatorten selbst zu Witzfiguren, aber das könne auf keinen Fall so bleiben.

Schon 2014 kommt das nächste Team. Es startet der von den Franken - und erst recht dem formidablen Minister Markus Söder - herbeigesehnte Franken-Tatort. Zwischen Ober-, Unter- und Mittelfranken ist ein Streit darüber ausgebrochen, in welcher Stadt das Ganze spielen soll. Im Netz bloggen die Fans, der BR hat eine entsprechende Plattform freigeschaltet. In Würzburg seien Szenen der drei Musketiere gedreht worden, schreibt einer, Hunderte Würzburger Komparsen hätten mit klebrigen Bartattrappen viele Stunden ausgeharrt, das qualifiziere Würzburg für Höheres. 'Mal ein Schwulenmord in Nürnberg, mal eine katholische Leiche in Bamberg, mal ein toter Winzer im Würzburger Weinfass', empfiehlt ein anderer. 'Eindeutig Dadord Würzburch', schreibt ein Dritter.

Was die vielen, vielen Tatorte also beweisen: Die Beschäftigung mit Heimat ist eine sehr ernste Angelegenheit.

Das Prinzip Buntheit

$
0
0
Die Single versprach glamouröse Gebrechlichkeit, die Platte aber zeigt: David Bowie hat unserer bipolaren Epoche nur wenig zu sagen.

Die Leute in Schöneberg summen es vor sich hin, während sie ihre Wolfgang-Müller-Büchlein über die alte Westberliner Subkultur nach Hause schleppen, die sich in den Buchhandlungen neben den Ausgangskassen stapeln: 'Where We Are Now' von David Bowie, Hymne der aktuellen Alter-Westen-Nostalgie. Ein Taxifahrer, angetan von dieser sagenhaften Aufwertung seiner Jugendzeit, erzählte neulich - wir glitten gerade an der fraglichen Bowie-Iggy-Wohnung in der Hauptstraße vorbei - von Begegnungen mit Bowie und Romy Haag in Charlottenburger Oma-Cafés. Seine Frau war damals Punk, er dagegen Blues-Rocker. Und in welcher Mitte habt ihr euch getroffen, bei Dr. Feelgood? Haargenau. Es geht um Synthesen. Nur damit kommt man weiter, aber sie sind ein schwieriges Geschäft - man kann nicht einfach Stile mischen, wie es Bowie mit den Elementen seiner Vergangenheit auf seinem Album 'The Next Day' macht. Man muss die Prinzipien der verfeindeten Genres freilegen, sie auf einander loslassen und dem so gewonnenen neuen Prinzip dann wieder ein Leben einhauchen.



David Bowies Single lies mehr warten, als das Album hält.

Einmal hat David Bowie die Rockmusik vor einer schlechten Alternative bewahrt. Auf der einen Seite stand die körperliche Identifikation mit ihren Effekten. Eine Wahrheitsästhetik, die im Aufheulen der Gitarren buchstäblich das konkrete Leiden, Triumphieren, Ejakulieren des gerade jetzt hier spielenden Rock-Heinis erkennen wollte. Auf der anderen Seite stand eine Theater-Ästhetik, die alle bunten Produktionsmittel des Rock für die bürokratische Ironie des Musicals nutzte. Von vornherein war klar, dass alles eine große, schrille Show ist, dass es etwas zum Lachen, zum Schmunzeln und Zustimmen geben würde. Das war so um 1970. Auf der einen Seite die tödliche Fixierung auf echtes Leben auf der Bühne, der Hendrix, Morrison, Joplin und Al Wilson gerade zum Opfer gefallen waren. Auf der anderen Seite schrille Freak-Operetten in der Nachfolge von 'Tommy' und dem heiter runterdomestizierten, ex-aktionistischen Entäußerungstheater des frühen Zappa.

Bowie führte beides zusammen. Die Authentizität der Rock-Kultur lag doch immer schon in der speziellen Weise, wie die jeweilige Rolle ernst genommen, sich zu Herzen genommen wurde - so sein Argument. Aber es ging um eine Darstellung: nicht um nacktes Sein in Jeans und Tränen. Bowie stellte 1971 in einem mädchenhaft mit Keyboardgirlanden aufgeglamten Folk-Idiom bereits alle folgenden Schritte als Prototypen vor, auf seinem glänzenden LP-Manifest 'Hunky Dory'.

Er bedachte auch die beiden Strategen, die er dafür beleihen wollte, mit eigenen Tribute-Songs ('Andy Warhol', 'Song For Bob Dylan'), den sich entziehenden, artifiziellen Naturalisten und den sehr präsenten, sehr echten Erfinder oft haltlos fiktiver Geschichten. Bowie nannte seine Synthese auf dem nächsten Album dann sehr treffend: 'Rock"n"Roll Suicide'. Das allgemeine Sterben am und für den Rock"n"Roll, das so in der Luft lag um 1970, es sollte bitte ein selbstbestimmter Freitod werden: ein Rollenfach. Ernst, aber von Leuten vorgetragen, die wissen, dass dies nichts Einzigartiges ist, kein Privateigentum eines zufällig anwesenden Körpers: vielmehr ein allgemeines Schicksal, das kein echter Mensch, sondern nur eine Rolle für uns alle verkörpern könnte.

Diese Formel machte ihn groß. Er erfand dann eine Reihe von Typen, die sie verkörpern sollten. Performance-theoretische Halbwesen, die Eigennamen bekamen für ihre Zwischenreichfunktion zwischen Rolle und Selbst. Seitdem wird viel Bohei gemacht um ihre jeweiligen Inhalte. Aber ob sie nun Bowie als Alter Ego dienten (Ziggy Stardust, Alligatoren und andere Reptilien, dünne weiße Adlige, Alladin Sane, der Mieter); ob er nur von ihnen erzählte (Jean Genie, Major Tom, ein Diesel-Transporter-Fahrer, der wie Che Guevara aussah, die Diamantenhunde); oder ob beides in einander überging: die Behauptung des von Bowie erfundenen Genres war wichtiger als die einzelnen Fälle - gerade auch in den musikalische Folgen. Glam-Rock im Sinne des Rock"n"Roll-Suicide-Programms konnte heißen, dass man eine genauso violente, viszerale, aufpeitschende Musik entwarf wie die Authentizisten - und dennoch vorzeigte, dass man Theater machte und über Theater nachdachte; dass man dem Publikum auch andere als kathartische Erfahrungen zudachte. Die Synthese aus Artaud und Brecht, von dem das echte Theater vergeblich träumte - hier gab es sie. Momentweise. Man muss gnädigerweise ein paar der Stilmittel vergessen: die Pantomime-Einlage zu Mick Ronsons Gitarrensolo zum Beispiel. Da fiel dann beides wieder so übel auseinander, dass man sich sofort Zappa und seine ironische Staatstheater-Roadshow zurückwünschte.

Aber es war ein anstrengendes Programm und es lief sich leer, in dem Maße, in dem seine Prinzipien zu offensichtlich wurden und nur die eingeweihte Neugier blieb: Was macht er wohl als nächstes? Der schlaue Bowie begann einen anderen Typus von Pop-Musik-Künstler zu bewundern und sich mit einigen prominenten Vertretern zu umgeben: Studio-Autoren. Leute wie Brian Eno oder Robert Fripp, Post-Performer, die mit einem anderen ästhetischen Zeitmanagement arbeiteten. Aus der konzeptuellen Distanz von Reglern, Kabinen und anderen Tools der Arbeitsteilung aus traten sie als die großen Zusammenführer auf: Regisseure. Synthesen einer anderen Art. Bowie probierte das, indem er einerseits Iggy Pop ins Boot holte, eine Rampensau alter Schule, dem gegenüber er der kalte Planer sein konnte, und sich andererseits für das kühle Gegenüber Brian Eno in einen nachdenklichen, wenn auch dann wieder gewohnt künstlich-pathetischen Performer verwandelte. Das waren die Berliner Tage, denen er auf 'Where Are We Know' als ebenso fragile wie unsterbliche Beckett-Figur in dem viel beachteten Tony-Oursler-Video nachtrauert.

Bei fast dem ganzen Rest der neuen Platte ist es eigentlich umgekehrt: er strotzt vor Kraft und Dringlichkeit. Seine letzte gute Platte war 1980, kurz nach Berlin. 'Scary Monsters' mit ihren verzweifelten Selbstzitaten verströmte eine Panik und Todesangst, die direkt von den abgehalfterten Witzfiguren wie Major Tom ausgehen sollte. Nur Rollen können so eine Angst kriegen, weil sie im Gegensatz zu echten Menschen nicht wissen, ob sie je sterben müssen oder dürfen.

Danach begannen uninteressante Jahrzehnte für Bowie. Immerhin hat Iman zu ihm gehalten, er hat interessante Künstler kennengelernt, mit Drum & Bass experimentiert und auch Berlin hat an ihn gedacht: so gab es unvergessene Gastauftritte bei Didi & Stulle. Seine 1970er Glanzleistungen wurden nicht mehr erreicht, ja oft deutlich verfehlt, aber auch nicht thematisiert oder groß betrauert. Mit 'Scary Monsters' waren sie in den Keller gebracht worden. Lediglich der knapp missratene Versuch, als Anonymus in einer Band namens Tin Machine als bescheidener Dieners des Herren im Weinberg des Klopp-Rock untertauchen zu wollen, konnte in seiner rührenden Fishing-for-Compliments-Strategie noch mal den Performance-Theoretiker Bowie in Erinnerung rufen. Und jetzt soll das alles nicht mehr gelten und das Tor in die siebziger Jahre von hinten geöffnet werden? Durch das kurzatmig, aber heftig engagierte Aufrufen aller Gesten und Posen jener Zeit, weitgehend jugendlich dargeboten und nur selten von dem Mut zu jener glamourösen Gebrechlichkeit getragen, die wir an der ersten Singleauskoppelung dieses Albums zu schätzen wussten?

Bowie erinnert sich an das Prinzip der Buntheit, durch das sein Figuren-Panorama ihm damals erlaubte zu glänzen. Dies war aber auch eine graue Zeit, eine Zeit der Normalität. Ob eine bipolar uffjeregte Epoche wie die jetzige - gekennzeichnet durch Überarbeitung und emotionale Überforderung einerseits und abgekoppelt-anomische Arbeitslosigkeit andererseits - einen Künstler der farbigen Hitzigkeit braucht, ist eher fraglich.

Eher einfarbige Langstrecken-Charaktere wie Neil Young oder Leonard Cohen haben zuletzt den Genossen unserer Zeit etwas zu sagen gehabt; auch einer wie Scott Walker, von Bowie stark bewundert, der dieselben Probleme der Pop-Performance aus ähnlicher Not studiert hat und zu dem Ergebnis gekommen ist, dass man nur in großer Publikumsferne allein mit dem Material weiterkommt, konnte bestehen.

Man könnte einwenden: all die schaurigen Monster aus dem Identitäten-Flohmarkt seien eben Bowies individuelles Material als Künstler. Aber das waren sie nie, nur sein Bühnenbild. Seine Leistung zwischen 'Hunky Dory' und 'Scary Monsters' war die Dringlichkeit des Rock"n"Roll für ein konfliktreiches Erwachsenenleben einzurichten, war der Künstlerroman mit elektrischer Verzerrung. Im Moment scheint er geneigt, selbst an die hässlichen Worte zu glauben, die sie ihm überall nachrufen: Sich selbst neu erfinden, Chamäleon, Madonna.

Aber im Video zu 'The Stars Are Out', neben Tilda Swinton, mit seinem leicht gereizten, angewiderten Strichmund sieht er phantastisch aus.

Noch eine Kettenreaktion

$
0
0
Die Katastrophe von Fukushima hat in Deutschland zum hastigen Atomausstieg geführt, inzwischen verdrängen die Öko-Energien Großkraftwerke - mit eklatanten Folgen

Langsam verblassen die Bilder. Ein Reaktorgebäude, das in der Ferne in die Luft fliegt. Männer in weißen Anzügen. Kinder in der Dekontamination, verlassene Ortschaften. Fukushima, Japan, im März 2011. Genau zwei Jahre ist es her. Überall auf der Welt haben die Ereignisse von Fukushima zu hektischen Selbstvergewisserungen geführt. Ein Tsunami, bei uns? Ein Ausfall aller Notstromsysteme? Rund um den Globus mündeten die Zweifel in Forschungsaufträgen und Expertenkommissionen. Atomkraftwerke wurden "Stresstests" unterzogen, als wären sie kriselnde Banken; nun sind Nachrüstungen fristgerecht abzuarbeiten.

Unter diesen Bedingungen kann alles weiterlaufen wie gehabt. Inzwischen ist zwar manche Schwachstelle enttarnt, aber international wenig geschehen. Auch das gehört zur Geschichte, zur Wahrheit dieses Atomunfalls. Der deutsche Atomausstieg, die waghalsigste Entscheidung dieser Bundesregierung, wird vor diesem Hintergrund umso bemerkenswerter. Zwei Jahre nach Fukushima ist hierzulande eine Kettenreaktion im Gang, die sich dem politischen Einfluss zunehmend entzieht. Sie verändert ein ganzes System.

Wie wenig die Bundesregierung selbst die Eigendynamik ihrer "Energiewende" voraussehen konnte, zeigen die Eingriffe, mit denen sie die Dinge ins Lot zu bringen versucht. Mal zwingt sie Kraftwerke dazu, als Reserve für schwankenden Ökostrom am Netz zu bleiben, mal versucht sie sich an "Strompreisbremsen". Derweil installieren die Deutschen fleißig Solarzellen - allein im Januar und Februar mit der Leistung eines mittelgroßen Kraftwerks. Die Öko-Energien überwinden derzeit jene Schwelle, ab der sie ihrerseits systemrelevant werden. Sie verdrängen das Großkraftwerk.



Manche stören sich an Windkraftanlagen und sprechen verächtlich von "Spargel". Doch erneuerbare Energien wie die Windkraft verdrängen inzwischen die Großkraftwerke. 

Mehr als ein Jahrhundert lang gehörte es zur Industrialisierung wie der Ottomotor zum Straßenverkehr. Kraftwerke entstanden überall dort, wo viel Strom nötig war. Sie garantierten nicht nur die Stromversorgung, sondern begründeten auch den unverhältnismäßig hohen politischen Einfluss von Stromkonzernen, in Deutschland wie auch anderswo. So schuf die schiere Größe der Kraftwerke eine gefährliche Abhängigkeit - auch von der Atomkraft.

Diese Abhängigkeit fällt hierzulande gerade in sich zusammen. Zunehmend stellen erneuerbare Energien das Geschäftsmodell der Kraftwerke auf den Kopf: Bei Wind und Sonne produzieren sie Strom ohne jegliche Kosten. Ein noch so modernes Kraftwerk kommt dagegen nicht an; es braucht Kohle, Gas oder Uran. Das kostet. Die Folge: Immer häufiger stehen die Kraftwerke inzwischen still - es gibt zu viel Ökostrom.

Das bekommen die großen Stromanbieter und deren Belegschaften zu spüren. Vattenfall etwa reagiert mit massiven Entlassungen auf die neue Lage. Der schwedische Versorger gab in der vorigen Woche bekannt, bis Ende nächsten Jahres 1500 von 20000 Stellen hierzulande abzubauen. Neben Vattenfall kämpfen in Deutschland auch die Marktführer RWE und Eon nach der Energiewende mit Einbußen.

Je größer und schwerfälliger die Kraftwerke sind, desto weniger kommen sie mit den neuen Verhältnissen zurecht; auch die Tage alter Braun- und Steinkohlemeiler sind gezählt. Allerdings verlangen die neuen Verhältnisse nach neuen Regeln. Ohne Reservekraftwerke und Speicher wird die Energiewende nicht funktionieren, Wind- und Sonnenstrom schwanken zu sehr. Es wird neuer Formen der Finanzierung dieser Reserve bedürfen; auch Ökostrom-Anbieter selbst werden mehr Verantwortung übernehmen müssen.

Das neue System nun zu organisieren, ist die nächste große Herausforderung für die Energiewende-Republik Deutschland, mehr noch als der schleunige Atomausstieg. Der Streit darüber ist längst in vollem Gange; er wird zum letzten großen Verteilungskampf zwischen Neuer und Alter Welt. Genau deshalb aber auch sind Reformen so schwierig - etwa die laufende Debatte um eine Strompreisbremse. Schon diesen Montag treffen Bund und Länder zusammen, um über kurzfristige Lösungen zu beraten. Mehr als das ist vor der Wahl nicht mehr drin: Die Aufgabe ist einfach zu groß.

Modernisierer gesucht

$
0
0
Auch kurz vor Beginn des Konklaves gibt es keinen klaren Favoriten. Doch die Aussprache im Vorfeld hat gezeigt: Viele Kardinäle wünschen sich offenbar einen durchsetzungsstarken Verwalter, der den Reformstau im Vatikan auflöst

Rom - Gian Lorenzo Bernini, der berühmte Baumeister, hat sie geplant, die ovale und reich geschmückte Sankt-Andreas-Kirche unweit des Trevi-Brunnens, wo der großgewachsene Mann mit den weißen Haaren unter der Bischofsmütze jetzt einzieht, unter dem Applaus der Gläubigen, wobei man nicht weiß, ob es mehr Kameraleute, Fotografen, schreibende Journalisten in der Kirche gibt als Beter, aber hier tritt nun mal einer derjenigen auf, die am nächsten Sonntag Papst sein könnten. Odilo Scherer aus São Paulo hat freundlich und in pastoraler Routine ein paar alte Bekannte aus Brasilien und einige Mitglieder der Gemeinde begrüßt, beim Gottesdienst bleibt er unbrasilianisch sparsam mit den Gesten, ein Gitarrensänger und ein Trommler bringen ein bisschen Exotik in den Marmorbau aus dem 17. Jahrhundert. Il Tedesco, sagen die Italiener über ihn, weil er deutsche Wurzeln hat und eben als organisiert, aber wenig emotional gilt. Zwischendurch kommen die Reporter und gehen auch wieder - nur ein paar Minuten von hier entfernt, an der Piazza Venezia, feiert der andere Favorit seinen Gottesdienst, der Mailänder Kardinal Angelo Scola, so wie alle Kardinäle an diesem letzten Sonntag vor dem Konklave.

Die Leseordnung der katholischen Kirche hat sich ein wunderbares Evangelium ausgesucht für den Testlauf der drei, die an diesem Morgen so viele in die Kirche gelockt hat: das Gleichnis vom verlorenen Sohn, der das Erbe des Vaters verprasst, reuig zurückkommt - und mit Freude wieder aufgenommen wird. Da ließe sich einiges sagen, auch zum Thema Kirche und Umkehr, so wie Joseph Ratzinger vor acht Jahren seinen Gottesdienst nutzte, um mit einer programmatischen Rede die Wähler für sich zu gewinnen. Doch diesmal wagt sich keiner der Kandidaten nach vorn, sie predigen ungefähr das Gleiche: Wir alle brauchen immer wieder Umkehr, manche Verlockung erweist sich als Falle, und Jesus liebt die Sünder, wenn auch nicht die Sünde. Zu viel Risiko dürfte diesmal eher bestraft werden, als dass es dem Betreffenden helfen würde.

Denn es wird sich wohl erst am Dienstagabend im Konklave im ersten Wahlgang zeigen, wohin die Kardinäle tendieren. Es fehlt der alles überragende Kandidat, es hat aber auch keiner in den vergangenen zehn Tagen die Herzen oder Hirne der anderen erobert; am ehesten noch der Kapuzinermönch O'Melley, der aber als US-Amerikaner als schwer in der Welt vermittelbar gilt. "Viele Kardinäle sind bis jetzt nicht entschieden", sagt ein Insider, der mit vielen Papstwählern gesprochen hat. Auch der Mainzer Kardinal Karl Lehmann hat Radio Vatikan gesagt, er habe sich noch nicht für einen Kandidaten entschieden, und gestand eine gewisse Ängstlichkeit angesichts der Frage, "ob man wirklich den Richtigen findet".



Die Papstwahl wird international wie noch nie zuvor: 115 Kardinäle aus 52 Ländern haben sich zum Konklave versammelt. Am Dienstagabend findt der erste Wahlgang statt.
 
Vielleicht bringt dieser Montag mehr Klarheit, wenn das Kardinalskollegium zum letzten Mal tagt und darüber reden soll, welches Anforderungsprofil ein künftiger Pontifex haben sollte. Die Freude über die Sitzungen hat aber offenbar bei vielen Kardinälen stark nachgelassen: Es haben sich zwar viele von ihnen in den vergangenen Tagen zu Wort gemeldet, eine echte Zukunftsdebatte ist aber ausgeblieben, auch weil die Regie der Kurienkardinäle Tarcisio Bertone und Angelo Sodano das geschickt verhindert hat.

Jeder Kardinal durfte, nach Eingang seiner Wortmeldung, fünf Minuten reden, egal zu welchem Thema. Und so redete der eine über die Kurienreform, der andere über die Liturgie, der dritte über Frauen in der Kirche, der vierte über die Vatileaks-Affäre. Der Tagungsraum im Audienzsaal war auf den Vorstandstisch hin ausgerichtet, spontane Reaktionen auf einen Redner waren schwer möglich, so wurde zwar alles irgendwie angesprochen, aber nichts wirklich diskutiert, schon gar nicht tiefergehend inhaltlich.

Den nordamerikanischen Kardinälen verboten Bertone und Sodano eigene Pressegespräche - die Informationshoheit wollten sie schon selber behalten. So setzte sich am vergangenen Donnerstag auch bei denen, die gerne länger geredet hätten, die Einsicht durch, dass nun genug geredet sei. Mit mehr als 80 Prozent Zustimmung beschlossen sie, das Konklave am Dienstag beginnen zu lassen.

Es war vielleicht das letzte Mal, dass die Mächtigen der Kurie in dieser Weise das Vorkonklave organisierten: Der Ruf nach einer Kurienreform durchzog als roter Faden die Debatten. Selbst Kardinäle aus der Kirchenverwaltung gaben zu, dass es erheblichen Reformbedarf gebe - nur einzelne klagten, niemand würde die viele Arbeit würdigen, die sie hätten. Zu offensichtlich sind die Probleme nach der Amtszeit des politischen Visionärs Johannes Paul II. und des Theologen Benedikt XVI., denen beide die Verwaltung fremd blieb. Außer der Glaubenskongregation und dem Staatssekretariat hat keine Abteilung feste Besprechungstermine mit dem Papst, Kabinettsberatungen sind im Vatikan völlig fremd, Entscheidungen bleiben intransparent. Immer wieder sollen, wenn einer die Defizite ansprach, die anderen Kardinäle zu Kardinalstaatssekretär Bertone hingeschaut haben, der als Ursache und Verstärker der Übel gilt.

"Wer sich als Kandidat der Kurie zu erkennen gibt, hat keine Chance", sagt ein Beobachter. Viele Kardinäle wünschen sich offenbar einen durchsetzungsstarken Verwalter, der den Modernisierungsstau im Vatikan auflöst. Auch deshalb gelten Scola und Scherer als Favoriten - sie leiten die beiden größten Bistümer der Weltkirche, ihnen werden Managerqualitäten nachgesagt, wobei Scherer eher den Kurienkardinälen vermittelbar wäre, er ist mit Sodano, dem ehemaligen Kardinalstaatssekretär, eng verbunden. Und er stünde für das gewachsene Gewicht der Weltkirche: Die Kardinäle aus Afrika, Asien, Lateinamerika traten selbstbewusst wie klug auf. Die Zeit des Eurozentrismus ist vorbei, auch wenn der künftige Papst noch einmal aus Europa kommen sollte.

Scola oder Scherer, das dürfte die Frage der ersten Wahlgänge sein - sammelt der konservativ-solide Mailänder die meisten Stimmen oder der wenig brasilianische Gottesmann aus São Paulo? Beobachter vermuten, dass, wer in den ersten Wahlgängen mehr als 40 Stimmen erhält, auch bald Papst ist. Ist das nicht der Fall, schlägt die Stunde der anderen Kandidaten: Von Wahlgang zu Wahlgang dürfte dann zum Beispiel weniger wichtig werden, dass O'Melley Amerikaner ist - oder der Wiener Kardinal Christoph Schönborn Deutsch spricht, wobei der eher als Papstmacher gilt denn als künftiger Papst.

"Beten wir, dass der Heilige Geist seiner Kirche den Mann schenkt, der sie leiten kann", hat Angelo Scola in seinem Gottesdienst gesagt. Ob er dabei an sich gedacht hat - das hat er den Gläubigen und Journalisten natürlich nicht verraten.

Nach der Flut

$
0
0
In den Tsunami-Gebieten kämpfen die Menschen um den Wiederaufbau. Und gegen das Desinteresse im Rest Japans



Trauer in Japan zwei Jahre nach der Katastrophe von Fukushima: In Iwaki reichen sich Trauernde in Gedenken an die Opfer die Hände. 

Wie Fetzen eines Teppichs hat sich der Körper der Tempelglocke um einige Sotoba gelegt, beschriftete Holzleisten, mit denen man in Japan sein Beileid ausdrückt. Die angeschmolzene Krone der Glocke liegt daneben. Die Feuersbrunst, die der Tsunami vor zwei Jahren ausgelöst hatte, äscherte das Städtchen Otsuchi ganz ein, auch den Konganji-Tempel. Es war so heiß, dass die Glocke schmolz und von ihrem eigenen Gewicht zerrissen wurde. Otsuchi liegt an der japanischen Sanriku-Küste, die vor zwei Jahren von Erdbeben und Tsunami zerstört wurde. Jetzt sagt Oberpriester Ryokan Gorayu, er habe nicht damit gerechnet, je wieder eine Tempelglocke zu läuten. Er zeigt auf den Friedhof am Hang. Die zerstörten Gräber seien noch nicht aufgeräumt. Doch an diesem Montag, dem zweiten Jahrestag des Tsunami, werden Überlebende eine neue Glocke einläuten. Der Priester hatte dafür etwa 24 000 Euro gesammelt.

Die neue Glocke hängt in einem provisorischen Glockenhaus; statt des 500 Jahre alten Holztempels steht da jetzt ein Container-Tempel. Gorayu selber wohnt ebenfalls in einem Container über dem Friedhof, "alles ist provisorisch". Vom Hafen dröhnen Baumaschinen, ein gelber Bagger greift in einen riesigen Müllberg, zieht ein halbes Motorrad heraus und schüttelt es, wie ein Raubvogel seine Beute schüttelt, um die Gummi- von den Metallteilen zu trennen. Auf der Straße donnern Lkw vorbei, Arbeiter reißen an diesem Vorfrühlingstag eines der letzten verbliebenen Gebäudeskelette ab.

Ogayu zeigt, wo er zur Zeit des Erdbebens stand. Er habe geholfen, Leute über den steilen Weg durch den Friedhof in Sicherheit zu bringen, sagt er. "Für alte Leute mit Rollatoren war das fast unmöglich steil." Die Hälfte der 700 Mitglieder seiner Gemeinde kamen um. Auch sein Vater Hideaki, damals noch der Oberpriester.

Den ganzen Tag überrollt nun Maschinenlärm die Ebene, die einst Otsuchi war. Dagegen werde er künftig jeden Morgen die Tempelglocke läuten, wie sein Vater früher. "Der Ton trägt weit, solange hier noch keine Gebäude stehen, und das wird noch lange so sein." Das Läuten soll einen Moment des Friedens und etwas Normalität in das provisorische Leben bringen. Immerhin hätten die meisten Menschen wieder Arbeit. "Allerdings jeweils nur befristete Jobs", sagt der Priester. "Dann geht es ihnen drei Monate besser, anschließend fallen sie wieder in ein emotionales Loch." Im Nachbardorf Kirikiri liegen riesige Betonteile des Tsunami-Walls wie vergessene Bauklötze am Strand. Davor lässt ein Baggerfloß seinen Greifer ins Wasser tauchen, immer wieder, seit Wochen. Einmal zieht er ein Lkw-Rad hoch, dann nichts, beim nächsten Mal eine Klimaanlage.

Eine Gruppe Helfer räumt gerade das Seebad auf. Am Abend sitzen die Männer, unter ihnen ein Abiturient aus Reutlingen, in einer Baracke um einen Holzofen. "Wir brauchen noch zwei Jahre zum Aufräumen", schätzt Matsuhika Haga, ein pensionierter Automechaniker, der die Hilfe organisiert. Die Häuserwracks im Dorf sind zwar weg, "aber jetzt muss man die Fundamente abtragen. Dann ist Kirikiri sauber, der Pazifik bleibt jedoch verdreckt, unser Müll wird nach Amerika geschwemmt." Haga konnte sein Haus reparieren, aber drei seiner Männer leben in Containern beim Schulhaus. "Noch lange", sagt einer, "wir haben uns dran gewöhnt." Bauen dürfen sie nicht, es gibt noch keinen Plan für die Zone. "Da reden viel zu viele Dorfbosse mit", klagt Haga. Man müsse differenziert entscheiden, wo gebaut werden dürfe und wo nicht. An einigen guten Lagen, die überflutet worden sind, will man es dennoch wieder erlauben.

Die Sanriku-Küste, der nördliche Teil des 500 Kilometer langen zerstörten Küstenstreifens, ist bergig; die Städte und Dörfer duckten sich in enge Buchten. Hier müsse man wieder bauen, die Hänge seien dafür viel zu steil. Außerdem brauche man nie weit rennen, um sich in die Höhe in Sicherheit zu bringen. Die Debatte, wo gebaut werden dürfe, steckt überall in einer Sackgasse. Bisher wird nichts entschieden. Das verursacht Ungerechtigkeiten: Manchenorts dürfen die ehemaligen Bewohner und Geschäftsinhaber Container auf ihre Grundstücke stellen; in der Hafenstadt Kesennuma gießen sie für ihre Containerhäuser sogar ein Beton-Fundament. Das ist erlaubt. Damit verraten die Behörden unwillentlich, dass man sich auf ein permanentes Provisorium einstellen muss.

In der Bezirkshauptstadt Kamaishi konnten die Rotlicht-Bars, ein Brautmodenhaus, ein Friseur und Restaurants repariert werden, andere Läden und das Bestattungsinstitut Inori dagegen haben sich in Container-Provisorien eingerichtet. Miyako, eine Stadt etwas weiter nördlich, ist aufgeräumt. Aber niemand weiß, wie es weitergeht. Unweit vom Hafen sitzt ein älteres Paar in seinem Kleinstlieferwagen; traurig starren die beiden auf ihr leeres Grundstück. Ins Nachbarhaus, das sich renovieren ließ, ist das Leben zurückgekehrt. Sie selbst wohnen im Haus ihrer greisen Schwiegereltern, sagt die Frau, aber die Ungewissheit sei schwer zu ertragen.

Bevor Miyako seine Bauzonen festlegt, muss entschieden werden, was mit dem bisherigen Tsunami-Wall passiert. Wird er erhöht oder abgerissen? Er hielt den Fluten stand, war aber zu niedrig. Das Wasser schwappte über ihn hinweg und floss dann wie vielerorts nicht mehr ab. Ein Krabbenfischer, der am Hafen eine Reuse flickt, meint, die Mauer müsse weg. Man sollte weiter draußen in der engen Bucht ein Wehr errichten. Wie Haga in Kirikiri finden viele: "Unsere Leute sind Fischer, sie leben mit dem Meer. Wir wollen keinen hohen Wall, der uns vom Meer trennt." Die neue japanische Regierung hat versprochen, den Wiederaufbau zu beschleunigen. "Vielleicht steckt sie ihren Freunden in der Bauindustrie noch mehr Geld zu", spottet Haga. "Wir werden davon nichts sehen." Die Tsunami-Opfer erwarten nichts mehr von Tokio, die Leute an der Sanriku-Küste vertrauen sich nur gegenseitig. Nach zwei Jahren gehe es auch nicht darum, schneller zu sein. Vom Kindergarten, um den er sich auch kümmert, sagt Haga: "Die Kleinen haben sich im Container-Provisorium eingelebt, sie sind zufrieden." Es könne Jahre dauern, bis der neue Kindergarten steht; der soll mit Geld der Schweizer Caritas gebaut werden.

Im übrigen Japan komme das Versprechen der Regierung vielleicht gut an, hatte der Priester in Otsuchi gesagt. "Dort wollen die Menschen unsere Katastrophe vergessen."

Chinesische Sauereien

$
0
0
Erst die Luft, nun das Wasser: In dem Fluss, aus dem Shanghai sein Trinkwasser bezieht, treiben Tausende tote Schweine

Für Freunde der Natur und des gesunden Lebens fing die Woche in China mal wieder nicht gut an. In Peking stellte der Schauspieler Liu Jun Fotos von Hunderten von Fischen online, die tot auf dem Beihai-See trieben, einem idyllischen kleinen See in dem Flecken, der übrig ist von Pekings Altstadt. Nun sind ein Haufen toter Fische Chinas Bürgern nicht völlig unvertraut, ein Giftleck in einem Fluss in der Südprovinz Fujian bescherte ihnen im Jahr 2010 ganze 2000 Tonnen davon. Im Wasser treibende tote Schweine sind dagegen auch für dieses Land eher ungewöhnlich. Tausende Schweine, schmutzige, aufgeblähte, verrottete Kadaver, die im Huangpu-Fluss schwammen, ans Ufer trieben, von Helfern auf Kähnen gewuchtet und an Land geschafft wurden.

Eile war geboten. Die Schweine trieben nämlich in Shanghais Trinkwasser. 900 zählten die Behörden bis Sonntagnacht, 1200 am Montagmorgen, 2813 hatten sie bis Montagabend geborgen. Alle in der Region Songjiang, aus dem Abschnitt des Huangpu-Flusses, dort holt sich die Stadt Shanghai das Leitungswasser für ihre 23 Millionen Bürger. Entdeckt hatte die ersten Kadaver ein Bürger, der schon am Donnerstag Fotos ins Netz hochlud und dazu schrieb: 'Das ist das Wasser, das wir trinken. Hier ist ein Wasserschutzgebiet, und überall treiben tote Tiere. Und das ist nicht das erste Mal.' Tatsächlich trieben Reporter des Staatssenders CCTV Dorfbewohner auf, die das bestätigten: 'Wenn Schweine an einer Krankheit sterben, dann werden sie einfach in den Fluss geworfen', sagte einer vor der Kamera: 'Ständig. Jeden Tag.'



Der Huangpu-Fluss in China. Aus ihm bezieht Shanghai das Trinkwasser für die Bevölkerung.

Aber 3000 auf einmal? Und noch mehr unterwegs? Die Behörden wollten am Montag noch nicht wissen, wer die toten Schweine im Fluss entsorgt hatte, aber einige Medien zeigten mit dem Finger auf den Kreis Jiaxing in der Provinz Zhejiang flussaufwärts. Dort verdienen sich die Bauern den Lebensunterhalt mit der Schweinezucht - und wie am Wochenende bekannt wurde, waren just im Januar und Februar allein im Dorf Zhulin in Jiaxing mehr als 18000 Schweine verendet, mehr als 300 Tiere täglich. 'Mehr als zwei Monate ist das her?' schrieb im Mikroblogging-Dienst Weibo der Nutzer 'Kexie gongzuozhe': 'Gut vertuscht.' Ein anderer schrieb: 'Jetzt sind also Schweinefleisch und Wasser in Shanghai gefährlich.' Letzteres bestritten die Behörden am Montag. Das Shanghaier Wasseramt erklärte, die Qualität des Leitungswasser sei weiterhin 'normal'. Später hieß es dann, man habe im Wasser Spuren des Porcine Circovirus gefunden, ein Virus, das Schweine tötet, aber für Menschen gemeinhin ungefährlich ist.

Und die Fische in Peking? 'Ich glaube, die Luftverschmutzung hat sie umgebracht' meinte Schauspieler Liu Jin. 'Der Sandsturm vom Samstag.' Eine Sorge, die wahrscheinlich mehr über den Gemütszustand von Pekings Bürgern verrät als über die wahre Ursache des Fischsterbens. Städtische Beamte machten jene Bürger verantwortlich, die letzten Herbst viele bei Händlern gekauften Fische in buddhistisch inspirierten 'Gnadenakten' freigelassen hatten. 'Diese Fische sind in Pekings Winter einfach erfroren', sagte eine Beamtin der Zeitung Global Times.
Viewing all 3345 articles
Browse latest View live