Quantcast
Channel: jetzt.de - SZ
Viewing all 3345 articles
Browse latest View live

Griechische Nächte

$
0
0
Der türkische Nordteil Zyperns profitierte bisher vom Geld vieler Gäste aus dem Süden. Nun schlägt die Krise durch

Gold glänzt, und Edelsteine funkeln, was sind dagegen schon die matten Farben auf den Euro-Scheinen. Bei Ali Saygin ziert die wertvolle Ware Wände und Glasvitrinen. Der türkische Schmuckhändler hat einen Laden in bester Lage. Gleich nach den Straßensperren mit der Passkontrolle, an denen jeder vorbei muss, der vom griechischen in den türkischen Teil Zyperns will, gleich da lockt Saygins Laden: Gold, Diamond & Silver. Die Ledra- Straße, die berühmteste Einkaufsstraße im immer noch geteilten Nikosia, ist erst seit fünf Jahren wieder passierbar, nachdem sie fast ein halbes Jahrhundert lang mit Stacheldraht und Betonblöcken verbarrikadiert gewesen war.

Für Ali Saygin war die Öffnung der Flaniermeile ein großes Glück, denn seitdem strömen Tausende Touristen und auch betuchte Griechen aus dem Süd- in den türkischen Nordteil. Der Schmuckhändler kann nun aber eine gewisse Schadenfreude nicht verbergen. 'Wie haben sie über uns gespottet, sie haben gesagt, ihr habt ja nichts, wir verdienen fünfmal so viel wie ihr', sagt Saygin. Den Zypern-Griechen sollte ihr tiefer Absturz 'eine Lehre sein', meint der Mann, der viel versteht von Geld und Gold. Aber der Händler macht sich auch Sorgen. Um 20 Prozent sei sein Umsatz schon eingebrochen, erzählt er, weil die Nachbarn als Kunden ausbleiben.



Geteiltes Zypern: Der Norden gehört zu Türkei. Doch auch hier spürt man nun die Auswirkungen der Euro-Krise.

Wie im griechischen Süd-Nikosia drängen sich auch im Norden viele Menschen vor den Geldautomaten. Die türkischen Banken aber sind freigiebig wie eh und je. Schlange stehen nur die Soldaten der türkischen Armee, für ihren Sold. Rund 40 000 Militärangehörige soll es im türkischen Inselteil geben. Sie tragen in ihrer Freizeit Zivil und treten sich in den engen Gassen fast auf die Füße. Die türkische Armee hatte den Norden der Insel 1974 nach einem kurzen griechischen Putsch eingenommen und ist bis heute geblieben. Viele türkische Zyprer wären den langen Arm Ankaras gern los, sie haben 2004 für die Wiedervereinigung mit den Nachbarn gestimmt. Die Griechen aber lehnten den Friedensplan des damaligen UN-Generalsekretärs Kofi Annan in einem Referendum mit großer Mehrheit ab. Hätten auch die Griechen Ja gesagt, wäre Nord-Zypern kein türkischer Satellit mehr, sondern ein Teil der Europäischen Union - und der Krise.

'Ich habe einen EU-Pass', sagt ein Stoffhändler in Nord-Nikosia und klopft auf seine Jackentasche, in der er das Dokument stets bei sich trägt. 'Aber wir haben auch 70 Millionen Menschen in der Türkei hinter uns', meint der Geschäftsmann, der sich für das Motto entschieden hat: doppelt genäht hält besser. Zumal jetzt, da die Türkei boomt und Nord-Zypern gleich mit. Neue Einkaufszentren sind entstanden und Luxushotels. Die Türkei tritt auf wie ein Riese, der vor Kraft kaum laufen kann. Europaminister Egemen Bagis bot den Zypern-Griechen sogar an, sie könnten vom Euro zur Türkischen Lira wechseln.

Die türkische Währung ist auch das Zahlungsmittel in Nord-Zypern. Ein Kilo sonnengereifte Orangen kostet in der Markthalle in Nikosia eine Lira (umgerechnet etwa 42 Cent). Die historische Halle wurde jüngst hübsch restauriert - mit Geld von der EU. Auf neuen Schildern steht der alte Name: Bandabulya. Das ist die zyprisch-türkische Version des griechischen Wortes Pantopoleio: Lebensmittelgeschäft. Wenn es ums Alltägliche geht, ist man auf Zypern nicht so weit auseinander.

Hasan Kahvecioglu ist 2004 für eine Wiedervereinigung auf die Straße gegangen. 'Wir hatten immer das Gefühl, die ganze Welt hilft nur den Zypern-Griechen, nicht uns', sagt Kahvecioglu, der damals auch einen zweisprachigen Radiosender aufbaute. Der 62-Jährige wünscht sich immer noch die Einheit, 'weil wir hier ja illegal sind'. Kein Staat der Welt außer der Türkei hat die Türkische Republik Nordzypern anerkannt. Kahvecioglu sieht derzeit aber auch 'keinen politischen Willen', die Wiedervereinigung wieder in die Wege zu leiten. 2014 wird eine Pipeline Frischwasser aus der Türkei auf die trockene Insel bringen, und auch Geld fließt von Ankara nach Nord-Nikosia. 'So viel wie nie zuvor', sagt Kahvecioglu.

Auch der Süden Zyperns dürstet, aber Wasser aus der Türkei will die dortige Regierung nicht haben. Offiziell gibt es keine Beziehungen zwischen beiden Hälften. Die Türkei hat ihrerseits mit dem EU-Mitglied Zypern keinen diplomatischen Kontakt. Deshalb blockiert wiederum die griechisch-zyprische Regierung regelmäßig die Beitrittsverhandlungen der EU mit Ankara.

Wie Hasan Kahvecioglu will auch der Grieche Harry Tzimitras die Hoffnung nicht aufgeben, dass der zyprische Knoten irgendwann entwirrt werden wird - zum Vorteil aller. Der Professor aus Athen hat an der Bilgi-Universität in Istanbul gelehrt und in der Türkei die Wirtschaftskrise von 2001 erlebt. 'Da gab es Leute, die haben eine halbe Zigarette gekauft', erinnert sich Tzimitras. Damals wurden Nord-Zyperns Banken schwer gebeutelt. Der Grieche glaubt, das Verständnis für die Nöte der Nachbarn werde auf türkischer Seite letztlich größer sein als die Schadenfreude.

Tzimitras ist heute Direktor des Peace Research Institute Oslo, Zypern, mit Sitz in der von den UN kontrollierten Pufferzone. Während der Debatten um den Annan-Plan spielte das Institut eine wichtige Mittlerrolle. Tzimitras zieht einen großen imaginären Kreis um die Mittelmeerinsel: 'Die jüngste Annäherung zwischen der Türkei und Israel, die Gas-Verträge der Zypern-Griechen mit Israel, die Energienöte der Türkei, die Finanznöte Zyperns' - all das spreche für eine Verständigung. Langfristig zumindest. 'Die Gas-Funde können eine Plattform für eine Annäherung sein', sagt Harry Tzimitras.

Nicht nur Gold glänzt, auch im Spielcasino des Saray Hotels in Nord-Nikosia blinkt und blitzt es. Doch viele Spielautomaten rotieren leer. Der Umsatz sei 'drastisch zurückgegangen', sagt Casino-Chef Mesut Sahin. Türkischen Soldaten ist das Glücksspiel verboten wie auch den Bürgern von Nord-Zypern. Die vielen Casinos im Norden sind für die Griechen, für Türken aus dem Mutterland und für Gäste aus Russland oder Israel. Plakate werben für 'Griechische Nächte'. Wenn die Griechen aber wegbleiben, weil sie schon zu viel verloren haben, werden zumindest in der Spielhölle bald viele Lichter ausgehen.

Klopf, klopf, klopf

$
0
0
Yoann Lemoine ist Illustrator und Grafikdesigner, er dreht Videos für Pop-Superstars und fotografiert Vogue-Cover. Als Woodkid hat er jetzt auch noch sein erstes Album veröffentlicht. Will uns der Mann etwas sagen?


Ein Mädchen steht im Märchenwald, still und stumm, genauer gesagt: die Schauspielerin Elle Fanning, das gelangweilte Kleinkind aus Sofia Coppolas Film 'Somewhere'. Hier, in diesem kurzen Internetvideo, kaut sie an ihren Fingerspitzen, zieht im Gegenlicht an den eigenen Haarsträhnen, streift durch Sumpfwiesen. Ohne Worte, man hört Geigen und Wind, flirrenden Orchesternebel, plötzlich setzen bretternde Militärpauken ein. Klein-Elle hält sich Äste gegen den Kopf, als dramatisches Geweih. Und noch bevor am Ende der echte Hirsch aufmarschiert, das ultimative Symbol für irgendwas, weiß man, dass das alles nur ein Parfumwerbespot sein kann. Weil Menschen und Tiere nur in der Parfümwerbung solche Sachen tun.

Yoann Lemoine, der 29-jährige Franzose aus Reims, der für die Firma Lolita Lempicka diesen Reklame-Clip gedreht und - unter dem Pseudonym Woodkid - auch die Musik dazu gemacht hat, ist nicht nur einer der derzeit begehrtesten Spezialisten fürs dezent-schwüle Bild. Er ist das, was man früher, ganz früher ein Universalgenie genannt hätte. Heute ist er ein cleverer Multimediaschaffender, der sich gegen den Niedergang der Branchen dadurch absichert, dass er auch bei den jeweils anderen einen Fuß in der Tür hat.



Regisseur, Illustrator, Fotograf, Musiker: Multitalent Yoann Lemoine alias Woodkid.

Lemoine führt Regie, bei Werbespots oder großen Musikvideos, für Lana Del Rey oder Taylor Swift. Er ist Fotograf, unter anderem für 'Vogue'-Titelbilder, arbeitet als Illustrator und Grafikdesigner. Neuerdings komponiert, singt und produziert er auch noch Popsongs. So erfolgreich, dass die Leute ihm bei seinen Woodkid-Konzerten die Bude einrennen. Das in diesen Tagen erscheinende erste Album 'The Golden Age' (Island/Universal) gilt als Topthema und Hipster-Acessoire erster Klasse, unter Blog-Gläubigen und allen anderen, denen ein etwas übermotivierter Medien-Workaholic im Zweifel lieber ist als die übernächste Turnschuhgruppe.

Die Woodkid-Musik ignoriert die Gitarren ganz, setzt das Großorchester wie eine Rockband ein, derb und simpel, wie man es selten gehört hat: Nussknackersuite und neoromantische Hollywood-Klassik, Dr. Schiwago meets Dr. Dolittle, mit Balkan-Schwermut, Getrommel, tintendunkler Klavierbegleitung, und Lemoine singt dazu wie ein herzkranker Matrose - auf Urlaub im Mondscheingarten. Wer sich wundert, wieso die jungen Studentinnen darauf so abfahren, muss nur die Videos sehen: 'Iron' zum Beispiel, vor zwei Jahren als Vorhut ins Netz gestellt, ist ein Streufeuer aus Mode-Chiffren, das Model Agyness Deyn tritt als Amazone auf, dazu tätowierte Krieger, Eulen, Wölfe, rätselhafte Schlüssel, die 'Unendliche Geschichte' in Speckstein-Calvin-Klein-Schwarzweiß.

Dass Woodkids eigene Musikfilme eine fortlaufende, wenn auch wirre Geschichte erzählen sollen und der 'The Golden Age'-CD ein illustriertes Märchenbuch beiliegt, das passt ebenso ins Bild wie die Tatsache, dass seine Songs - gemacht für Musikvideos, die wie Modespots aussehen, die als Musikvideos durchgehen wollen, und so weiter - wiederum von Designern aufgegriffen, als Inspirationen genannt, bei Schauen gespielt werden. Unter anderem von Gaultier und Christian Dior.

Das Problem bei Woodkid ist also nicht das Pathos, das auf seinem Album immerhin sehr konsequent, sehr bildstark ausgerollt wird. Es ist etwas, das gar nicht mal in der Musik liegt - sondern darin, wie im Werk eines solchen Mediensupermanns die Werbung und das inhaltlich Motivierte ineinanderzufließen drohen, notwendigerweise, ununterscheidbar. Wie die Trennung zwischen Kunst und Corporate Publishing hier nicht nur wie selbstverständlich aufgehoben, sondern geradezu für sinnlos und altmodisch erklärt wird. Was die Werbung euphemistisch 'Storytelling' nennt, die Übersetzung abstrakter Marken in konkret vorstellbare, natürlich völlig oberflächliche, nur zu Zweck und Schein erzählte Geschichten: Das macht Woodkid mit seinen Stücken. Vom großen Kino bleibt nur noch der Trailer, die Geste, die auf nichts verweist. Und vom Gesamtkünstler: der röhrende Hirsch.

"Wir sind zwei Länder in einem"

$
0
0
In Tunesien ringen säkulare und islamistische Kräfte um eine Verfassung, die das gespaltene Land einen soll. Präsident Marzouki spricht von einem Konsens der Verantwortung. Doch ein großes Problem ist ungelöst: die Armut. Ein Gespräch mit Tunesiens Staastchef.

SZ: Herr Präsident, wo steht Tunesien im Vergleich der arabischen Revolutions-Länder?

Marzouki: Wir haben raue Zeiten hinter uns. Wir haben vier Krisen durchgemacht, die letzte als Chokri Belaïd ermordet wurde. Aber unser Land ist sehr stabil, gemessen an den anderen Ländern der Region. Wir erleben nicht das gleiche Ausmaß an Gewalt, Tunesien ist nicht ins Chaos abgerutscht, der Diskurs zwischen den politischen Parteien ist nie abgebrochen, und die Armee ist diszipliniert und loyal geblieben. Aber: Demokratische Regierungen haben nach einer Revolution immer kämpfen müssen.

Ist das nun eine Stabilität, mit der Sie leben können?

Den Erfolg oder Misserfolg der tunesischen Revolution kann man erst in fünf oder zehn Jahren wirklich bewerten. Wir haben eine chaotische wirtschaftliche Situation geerbt. Eine Diktatur zerstört nicht nur politische Strukturen, sie ändert das Verhalten der Menschen, zerstört das Justizsystem, den Bildungsbereich und das Sozialsystem. Wir erarbeiten gerade eine Verfassung und lösen damit eines der größten Probleme in der arabischen Welt: Wie bringt man Menschen in einer gespaltenen Gesellschaft zusammen?

Wo sehen Sie die Spaltung?

Wir haben eine wirkliche Kluft zwischen den Reichen und den Armen, zwischen den westlichen und den konservativen Teilen der Gesellschaft. Wir brauchen Parteien, die beide Seiten der Gesellschaft repräsentieren. Wir sind zwei Länder in einem. Der eine Teil der Gesellschaft fürchtet um seinen Lebensstil, der andere kämpft für einen minimalen Lebensstandard. Deswegen müssen wir für die Ärmsten Erziehung gewährleisten und Jobs schaffen. Und der andere Teil der Gesellschaft will sicher sein, dass wir Menschenrechte und westlichen Lebensstil bewahren. Es ist ein schwieriger Prozess, aber es ist einer der gewaltfreisten in der arabischen Welt.



Tunesiens Präsident Moncef Marzouki

Was ist das Geheimnis? Was machen Sie besser als andere?

Es beginnt bei der Verfassung. Ich würde zwar nicht sagen, dass die Revolution gescheitert wäre, wenn wir keine Verfassung bekämen. Aber wir hätten wohl wieder eine Art Bürgerkrieg. Wir haben vier Monate lang um ein einziges Wort gerungen: Scharia. Die Islamisten wollen das Wort in der Verfassung, und die Säkularen wollen das auf keinen Fall. Wenn wir uns schon nicht über ein Wort einigen können, wie sollen wir uns dann auf ein politisches System einigen?

Wie haben Sie es gelöst?

Wir haben Ennahda gesagt, dass die Erwähnung der Scharia für einen großen Teil der Bevölkerung nicht akzeptabel ist. Wir müssten ein Referendum abhalten - das wäre sehr gefährlich. Tatsächlich wäre es ein Referendum für oder gegen den Islam, und das würde die Gesellschaft spalten. In Tunesien haben wir glücklicherweise keine islamistischen Tunesier, sondern tunesische Islamisten. Sie halten sich an die Werte der Mittelklassegesellschaft und sind gleichzeitig Islamisten. Ennahda war so klug, nicht auf dem Scharia-Bezug in der Verfassung zu beharren. Sie haben akzeptiert, dass Menschenrechte in der Verfassung garantiert werden müssen. Auf der anderen Seite haben die Säkularen akzeptiert, dass Tunesien eine muslimische Gesellschaft ist. Es ist ein Konsens der Verantwortung.

Ennahda will immer noch Teile der Scharia in der Verfassung. Wie weit können Sie entgegenkommen?

Sie haben akzeptiert, dass das Wort in der Verfassung nicht vorkommt. Und auch nicht die Bedeutung des Wortes.

Aber Teile der Scharia?

... nicht einmal das. Es ist klar, dass wir in einer zivilen und demokratischen Gesellschaft leben. Natürlich steht im ersten Artikel der Verfassung, dass der Islam die Religion in Tunesien ist. Die Gesetze werden dennoch nicht religiös sein.

Wie kann das tunesische Modell Vorbild für andere Nationen sein?

Erst einmal muss sich unser Modell bei uns durchsetzen. In anderen Staaten sehen wir gerade eine harte Konfrontation zwischen Säkularen und Konservativen, wir sehen Gesellschaften auf dem Weg zu echtem Bürgerkrieg. Wenn sie ein erfolgreiches tunesisches Modell sehen, ahmen sie es vielleicht nach. Wir werben dafür bei unseren Nachbarn.

In den vergangenen Monaten wirkten Zustände in Tunesien durchaus chaotisch. Die US-Botschaft wurde angegriffen, die Ligen zur Verteidigung der Revolution jagte Menschen ...

Das muss ich zurückweisen. Niemand jagt in Tunesien irgendjemanden. Wir hatten diesen schrecklichen Mord, auch zwei, drei salafistische Ausschreitungen, aber nicht mehr. Es gibt keine Gefahr. In einer Demokratie haben die Menschen das Recht, zu demonstrieren und ihre Meinung zu sagen. Vielleicht muss man in einer Demokratie sogar ein gewisses Maß an Gewalt akzeptieren. Die Frage ist lediglich, ob die Gewalt für den Staat gefährlich ist - und das ist sie in Tunesien nicht. Sicherlich, wir haben auch Angst vor der salafistischen Bedrohung. Sie haben Waffen aus Libyen. Einige Tunesier kämpfen in Syrien für den Dschihad, und irgendwann kommen sie zurück. Das Problem in Mali könnte gefährlich werden. Es ist eine gefährliche Situation, aber wir haben sie unter Kontrolle.

Ist religiöser Extremismus Folge der wirtschaftlichen Entbehrungen oder handelt es sich um tiefsitzenden Glauben?

Das hat nichts mit Religion zu tun. Das ist eine Bewegung des Lumpenproletariats. Die Salafisten glauben, dass Ennahda sie betrogen hat, denn Ennahda ist eine kleinbürgerliche Partei. Das passt nicht zum Lumpenproletariat. Hinter der Salafisten-Bewegung steckt ein soziales Problem, verborgen hinter einer religiösen Maske. Wer sie auf das religiöse Thema reduziert, der hat nichts verstanden. Die Berichte der Geheimdienste zeigen: Die führenden Figuren in dieser Bewegung sind ehemalige Kriminelle, Drogenabhängige, junge Arbeitslose. Wenn wir dieses Problem bei der Wurzel packen wollen, müssen wir den sozialen und wirtschaftlichen Aufschwung gewährleisten.

Wie hat der Mord an Oppositionsführer Belaïd das Land geändert?

Chokri Belaïd wurde am 6. Februar getötet und am 8. beerdigt, ich konnte die Nacht davor nicht schlafen. Ich befürchtete, dass die Polizei womöglich auf Demonstranten schießen würde, so wie in Ägypten. Aber es ist nichts passiert, keine Ausschreitungen. Aber wir haben gemerkt, dass wir den demokratischen Prozess vorantreiben müssen, bevor es zu spät ist.

Und wie integrieren Sie Extremisten?

Das braucht Zeit. Die Extremisten sind überzeugt, dass sie betrogen wurden. Sie könnten versucht sein, eine neue Revolution zu starten. Aber das wird nicht funktionieren. Die Revolution 2010 wurde aus verschiedenen Gründen ausgelöst: Politische Unterdrückung, die Menschen hatten keine Rechte, das Regime war korrupt und die Armut hoch. Heute gibt es diese Mixtur nicht. Was bleibt, ist die Armut. Die Leute wissen, dass wir keine Wunder vollbringen, aber sie können sehen, dass wir jeden Tag daran arbeiten. Deswegen habe ich keine Angst vor einer neuen Revolution.

Wie wollen Sie den Übergangsprozess organisieren?

Wir haben einen Fahrplan. Wir werden wohl zwischen April und Juni eine Verfassung haben und zwischen Oktober und Dezember Präsidentschafts- und Parlamentswahlen abhalten. Das ganze politische System sollte dann Anfang 2014 fertig sei. Dann werden wir uns den sozialen und wirtschaftlichen Problemen widmen. Das ist die große Herausforderung.

Setzt die neue Verfassung den Extremisten Grenzen?

Ja, natürlich. Glaubensfreiheit und Redefreiheit sind zum Beispiel nicht verhandelbar. Und außer Polizei und Armee soll niemand Waffen tragen. Ennahda wollte auch eine Klausel zu Gotteslästerung in der Verfassung. Aber das ist extrem gefährlich, wo fängt Gotteslästerung an?

Und was passiert mit den Ligen zum Schutz der Revolution, die für Gewalt verantwortlich gemacht werden?

Sie werden aufgelöst. Das Gewaltmonopol liegt bei der Polizei und beim Militär. Diese Gruppen müssen sich in die Zivilgesellschaft eingliedern, sonst werden sie aufgelöst.

Kann der Prozess noch scheitern?

Ganz ehrlich: Ich glaube nicht. Wir haben ein republikanisches Militär und eine republikanische Polizei, wir haben eine aufgeklärte Bevölkerung, wir haben eine vernünftige islamistische Partei, und wir haben zwei Jahre lang diskutiert. Ich bin zuversichtlich.

"Da kommt nur Grütze rüber"

$
0
0
Die bundesweite Demonstrationen gegen die "GEZ-Abzocke" floppen.

Es sollte ein Volksaufstand werden, der bundesweite Protesttag gegen die Gebühreneinzugszentrale GEZ, die sich jetzt 'Beitragsservice' nennt. Knapp 130000 haben im Netz gegen 'Zwangsfinanzierung von Medienkonzernen' protestiert, Tausende wollten am Samstag gegen den 'Beitragsservice' von ARD und ZDF demonstrieren. Seit 1.Januar muss jeder Haushalt 17,98 Euro im Monat aufbringen, egal ob er einen Fernseher besitzt oder nicht. Von Köln über Berlin bis Regensburg wollten Gegner dieser Reform auf die Straße gehen. Es kam aber nur zu eher kläglichen Umzügen und einigen befremdlichen Veranstaltung.



Im Netz war die Beteiligung am Protest gegen die neue GEZ-Gebühr noch sehr rege. Auf der Straße fiel sie dann eher klein aus.

In Berlin etwa finden sich am Samstag gerade mal 400 Demonstranten ein, zwischen Karussells und quietschenden Straßenbahnen am Alexanderplatz. Die Temperaturen sind sibirisch, Polizisten zunächst in der Überzahl, als Pavel Filimonov auf eine Trittleiter steigt. Er ist Student und Vize-Vorsitzender der Partei der Vernunft Berlin. Eine Partei ist das, die sich gegen 'jegliche direkte Eingriffe in das Eigentum' einsetzt, gegen direkte Steuern und 'zentralistische und dirigistische Einmischungen' durch den Staat oder die EU. Im Herbst will sie in den Bundestag, und da die Chancen dafür nicht gut stehen, wird der Marsch gegen die GEZ zur Unterschriftensammlung umfunktioniert. Dafür, dass die Partei der Vernunft auf den Wahlzettel darf.

'Es gibt die GEZ, aber wir haben noch viel größere Verbrecher im Land', ruft atemlos Pavel Filimonov, der daran erinnert, dass die Öffentlich-Rechtlichen 2011 Gebühren von 7,5 Milliarden Euro eingenommen haben. 'Wir haben keinerlei Möglichkeit, darauf Einfluss zu nehmen, wie das verwendet wird.' Abzocke, schimpft das Publikum, wo viele nicht für Leistungen zahlen wollen, die sie nicht brauchen. Gehörlose stehen da, Rentner und Zweiradmechanikermeister Frank Klosig, der seit 20 Jahren keinen Fernseher mehr hat. 'Da kommt sowieso nur Grütze rüber', sagt er. 'Ich zahle nicht. Ich werd"s vor Gericht kommen lassen.' Sascha Feldmann, Student der Medieninformatik, hat früher Polittalks angeschaut, jetzt nicht mehr, 'die verlieren an Qualität'. Fragt man ihn, ob er Information nur noch gratis will, aus dem Netz, sagt er: 'Das wäre natürlich ideal.' Naja, schiebt er noch nach, er sei schon bereit zahlen, 'für eine Zeitung, das ist okay, die suche ich mir aber auch selbst aus'.

Als der Zug vorbei am Hauptstadtstudio der ARD zum Brandenburger Tor zieht, warnt ein Vertreter der europafeindlichen 'Alternative für Deutschland' zwischen vielen 'Ähs' noch vor dem 'Zugriff auf die Konten' - hier wie auf Zypern. Anderswo geht es den Demonstranten nicht viel besser. Frankfurt meldet NPD-Flyer beim GEZ-Protest, Kassel rechte Sprüche, Köln nur 350 Demonstranten, Dresden einen 'Trauermarsch'. Unverhoffte Unterstützung kommt dafür aus dem Norden. Ausgerechnet eine Mitarbeiterin des NDR, so der Spiegel, habe in ihrer Doktorarbeit die neuen Rundfunkfinanzen für verfassungswidrig befunden.

Unter Frauen

$
0
0
Männliche Lehrer an Grundschulen werden zu einer seltenen Spezies. Und das hat Auswirkungen auf den Alltag: Klassische Rollenbilder können sich so verfestigen. Experten halten die Einführung einer Art Quote für angebracht.

Wenn sich Holger Vierke nach Männlichkeit sehnt, geht er gerne mal in den Keller. Dort, im Untergeschoss der Elbe-Grundschule in Berlin-Neukölln, wohnt der Hausmeister, ein ehemaliger Gewichtheber, einer, der den Türrahmen fast ganz ausfüllt, wenn er hindurchgeht. Dann trinken sie zusammen Kaffee und reden. Außer dem Hausmeister hat Vierke nicht viele männliche Kollegen. Kein Wunder, Holger Vierke ist Grundschullehrer. 'Ich arbeite seit 18 Jahren an dieser Schule. Am Anfang gab es noch eine ganze Menge Männer im Lehrerzimmer. Inzwischen sind wir noch zu dritt.' Weil nur wenige Männer Grundschullehrer werden wollen, gibt es Einrichtungen, an denen gar kein Mann mehr arbeitet. In Berlin waren im vergangenen Schuljahr 14 Prozent der Grundschullehrkräfte männlich. Bundesweit sieht es ähnlich aus.

Vor 20 Jahren lag der Anteil männlicher Grundschullehrer noch bei einem Drittel. Heute sind sie eine aussterbende Spezies. Vierke ist zwar schon 18 Jahre im Job, aber er wirkt viel jünger mit seiner Vokuhila-Frisur, seinem Soul-Patch-Bärtchen und dem charmanten Lachen. Überhaupt nicht 'aussterbende Spezies', eher 'geschätzte Minderheit', so sieht er das. Es habe auch ganz klar Vorteile, in einem weiblichen Kollegium zu arbeiten: 'Es gibt keinen Konkurrenzdruck. Wenn eine DVD nicht abspielt, wird man gerufen und gilt gleich als Experte.' Und bei Partys muss man sich eher um das Programm kümmern als um den Abwasch: 'Wenn ich dann trotzdem mal abwasche, ist das Erstaunen groß.' Das gefalle ihm zwar, aber es wundere ihn auch, wie oft man noch auf 'Rudimente der alten Rollenbildern' stoße: 'Wenn wir an den See fahren, wer geht dann mit den Schülern ins Wasser? Natürlich der Herr Vierke!'



Bis zu drei Viertel der Grunschullehrkräfte in Deutschland sind weiblich. Wie wirkt sich das auf die Schüler aus?

Das Interesse von Männern, Grundschullehrer zu werden, ist gering - wohl auch wegen der schlechteren Bezahlung: Ein Berliner Grundschullehrer verdient etwa 400 Euro weniger im Monat als sein Kollege am Gymnasium. Und es gibt kaum Karrierechancen und Aufstiegsmöglichkeiten. Zudem geht es an der Grundschule vor allem um pädagogische Fähigkeiten, reines Fachwissen ist nicht die Hauptsache. Das sind Gründe, warum männliche Studienanfänger sich eher für das Lehramt in der Sekundarstufe entscheiden. Dort ist der Männeranteil deutlich höher, an Gymnasien ist das Geschlechterverhältnis oft ausgewogen. Im Vorschulbereich findet man dagegen fast gar keine Männer.

Die wichtige Frage aber ist: Welche Auswirkungen hat die langfristige 'Feminisierung der Grundschule' für die Schüler? Und, braucht es gar eine Männerquote an Grundschulen? 'Es ließ sich bisher nicht eindeutig nachweisen, dass es eine Benachteiligung von Jungen im Unterricht gibt, hervorgerufen durch das Überwiegen weiblicher Lehrkräfte', sagt Christoph Fantini, Bildungsforscher an der Universität Bremen. Das Problem sei zwar, dass die Bildungserfolge der Jungen seit Langem stagnierten. Nachweislich machen Mädchen heutzutage häufiger Abitur, sie haben auch bessere Noten - laut Untersuchungen selbst in Fächern, in denen sie im Durchschnitt geringere Kompetenzen haben als Jungen, etwa in Mathematik. Für diese viel zitierte 'Jungenkrise' seien mehr Männer an Grundschulen aber allein keine Lösung, glaubt der Forscher. Viel wichtiger wäre eine 'jungengerechte Pädagogik' - egal, ob im Klassenzimmer ein Lehrer oder eine Lehrerin steht.

Denn selbst wenn es männliche Lehrkräfte an Schulen gibt, können Rollenmuster den Alltag beeinflussen. Das weiß auch Holger Vierke. Obwohl er Deutsch und Bildende Kunst als Schwerpunkte im Studium gewählt hatte, wird er für den Sportunterricht eingeteilt - weil er ein Mann ist. Nötige Kenntnisse dafür hat er sich mittlerweile angeeignet. 'Viele Kolleginnen trauen sich die erforderlichen Sicherungsstellungen nicht zu, auch wegen des Alters.' So verfestigt sich in den Augen der Kinder die klassische Rollenteilung: Körpernahe und handwerkliche Fächer werden von den wenigen männlichen Lehrern erklärt, kreative und soziale Fächer dagegen eher von den Lehrerinnen. Das Sichtfeld der Kinder für eine spätere Berufswahl wird so eingeengt.

Und im Unterricht? Werden Jungen von Lehrerinnen anders behandelt als Mädchen? Oder sogar benachteiligt, wie manche Forscher nachzuweisen versuchten? 'Ich glaube nicht, dass es Jungs bei Lehrerinnen schwerer haben. Aber früher wurde halt mehr für die Mädchen getan, damit sie gleichberechtigt werden. Vielleicht wurden die Jungs dadurch vernachlässigt', meint Vierke. Es gibt zum Beispiel Mädchen-AGs an der Berliner Elbe-Grundschule, die Idee von speziellen Jungen-Gruppen wurden mangels Interesse wieder aufgegeben.

Natürlich: Eine Männerquote löst noch nichts. Und trotzdem hält Bildungsforscher Fantini sie in speziellen Fällen für gerechtfertigt: 'Grundschulen ohne männliche Fachkräfte dürfen als Dauerzustand nicht zugelassen werden.' Eine 'Pädagogik der Vielfalt', die auch Gender-Fragen einbezieht, würde sonst unmöglich gemacht werden. Bei mindestens zwei Männern pro Grundschule müsste die Quote liegen, damit ein 'Exotenstatus' vermieden werden könne, sagt Christoph Fantini. Darüber hinaus müssten Lehrerinnen und Lehrer schon in der Ausbildung auf die spezielle Geschlechtersituation im Beruf vorbereitet werden.

'Die Kinder kommen ja bereits mit bestimmten Vorstellungen in der Grundschule an', sagt Vierke. 'Die meisten Jungs hier stammen aus Haushalten, wo Männlichkeit einen anderen Stellenwert genießt. Die Mütter kümmern sich lange Zeit liebevoll um das leibliche Wohl. Wenn das Kind dann in die Schule kommt, heißt es: Zack, jetzt machst du dein Ding.' Mit diesem Bruch zwischen Elternhaus und Schule kämen viele Jungs schwer zurecht und verarbeiteten das Problem mit trotzigem Benehmen. Vierke hat deshalb auch einen 'Väterabend' ins Leben gerufen, um beide Eltern bei solchen Problemen einzubeziehen.

Mit einem Problem müssen männliche Grundschullehrer aber vermutlich leben: sie stehen viel eher im Verdacht, sexuellen Missbrauch zu begehen. 'Mein Vater war auch Lehrer. Sein erster Rat war: Bleib nie allein mit den Schülerinnen', sagt Vierke. Der Mann stehe da unter Generalverdacht, und man müsse höllisch aufpassen. 'Meine Kolleginnen finden es zum Beispiel völlig normal in die Umkleidekabine der Jungs zu gehen. Umgedreht wäre das unvorstellbar.'

Letztlich sei das Engagement das Entscheidende, ist sich Vierke sicher 'Wenn man jederzeit ein Ohr für die Kinder hat und für die Eltern, ist die Quote nebensächlich.' Nun muss er auf den Schulhof zur Pausenaufsicht und kann das gleich beweisen. Als er auf den Hof kommt, hängen sich sofort vier Mädchen an seine Arme. 'Herr Vierke, wo können wir spielen?' Herr Vierke spielt mit, ist doch klar.

Ein starkes Signal

$
0
0
Neubürger aus dem europäischen Ausland dürfen ihren alten Pass behalten. Das sollte auch für Türkischstämmige gelten.

Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger hat angeregt, das Staatsangehörigkeitsrecht zu ändern. Der 'Doppelpass' soll zulässig sein. Neu ist der Vorschlag nicht - aber dringlicher denn je. Er sollte schon 1999 verwirklicht werden, zu Beginn der rot-grünen Ära, als das Staatsangehörigkeitsrecht neu geregelt wurde. Der Versuch scheiterte damals, weil die CDU mit ihrem Spitzenkandidaten Roland Koch im hessischen Landtagswahlkampf in Fußgängerzonen Protest-Unterschriften gegen den Gesetzentwurf sammelte. Koch gewann dadurch die Wahl.

Um das rot-grüne Reformprojekt überhaupt zu retten und im Bundesrat zustimmungsfähig zu machen, wurde mithilfe des sozialliberal geführten Landes Rheinland-Pfalz - übrigens unter tätiger Mitwirkung Rainer Brüderles - ein Kompromiss ausgehandelt. Danach erhalten Migranten nicht erst nach 15 Jahren, wie das ursprünglich vorgesehen war, sondern nach acht Jahren das Recht auf Einbürgerung, für gemischt-nationale Ehen gibt es weitere Erleichterungen. Doch die Mehrstaatigkeit soll weiterhin vermieden werden. Und: Kinder aus der zweiten und dritten Einwanderer-Generation müssen sich im Alter zwischen 18 und 23 Jahren entweder für die deutsche Staatsangehörigkeit oder diejenige des Herkunftslandes ihrer Eltern entscheiden. Dieses 'Optionsmodell' ist die Achillesferse der gesamten Reform, die zum Jahresbeginn 2000 in Kraft trat.





Schon lange kritisieren Migrantenverbände, Wissenschaftler und die parlamentarische Opposition die Optionslösung. Regierungssprecher Steffen Seibert beschwor jetzt angesichts der wieder aufgeflammten Diskussion die 'Vermeidung der Mehrstaatigkeit' als weiterhin geltende Maxime der Koalition. Dabei gab es schon vor 1998 auch in den Reihen von CDU und FDP Abgeordnete, die mit der Tolerierung des 'Doppelpasses' liebäugelten - darunter die sogenannten Jungen Wilden, zu denen auch der heutige Umweltminister Peter Altmaier zählte. Jetzt, sieben Monate vor der Bundestagswahl, wittert die FDP ihre Chance zur Profilierung und Abgrenzung vom Koalitionspartner.

Angesichts dieses Meinungsbildes fragt man sich, warum in den 13 Jahren seit Inkrafttreten der verwässerten Staatsangehörigkeitsreform keine Gesetzesnovelle zustande gekommen ist. Der Grund: Sie gilt als unpopulär. In vielen Deutschen schlummert eine tiefe Missgunst gegenüber anderen, die - vermeintlich oder tatsächlich - ein Privileg genießen dürfen. Ich erinnere mich daran, wie während der Doppelpass-Kampagne in Hessen manche ansonsten durchaus reformfreudige Mitbürger fragten: 'Warum soll ein Ausländer zwei Pässe haben? Ich habe doch auch nur einen!' So redeten beileibe nicht nur CDU-Anhänger, sondern auch SPD-Mitglieder. Doppelstaatler seien 'nicht Fisch und nicht Fleisch', von Loyalitätskonflikten zerrissen.

Der zweite Grund: Zwar wird Integration in der deutschen Politik mittlerweile hoch bewertet, jedoch allein als Bringschuld der Einwanderer verstanden. Dass auch die aufnehmende Gesellschaft Zeichen des Entgegenkommens und des Verständnisses für die Bedürfnisse der Migranten setzen sollte, leuchtet nur wenigen ein. Dabei ist erfolgreiche Integration ein wechselseitiger Prozess der Annäherung mit dem Ziel, friedlich auf der Basis der Werte unseres Grundgesetzes miteinander zu leben.

Es gibt durchaus Menschen wie den aus Marokko stammenden 24-jährigen Younes Ouaquasse (inzwischen Bundesvorstandsmitglied der CDU), der sich bewusst nur für den deutschen Pass entschieden hat. Er wolle sich 'keine Hintertür' offen lassen, sagte er in einem Interview. Für die Mehrheit der Migranten gilt jedoch, dass sie die Bindung zur Kultur, Tradition und Wesensart ihres Herkunftslandes wahren wollen. Eine 18-jährige Berliner Schülerin, Tochter türkischer Einwanderer, antwortete auf die Frage, welche Staatsangehörigkeit sie wählen würde: 'Ich bleibe ja wohl in Deutschland, also: die deutsche. Aber vielleicht gehe ich auch in die Türkei ... Ach, ich möchte doch beide. Und ich bin ja auch beides.'

Mehrstaatigkeit ist kein Wunschziel, sie soll lediglich dem Einbürgerungswunsch nicht entgegenstehen. Und sie ist in Deutschland längst Realität. Es leben unter uns viele Doppelstaatler, der ehemalige niedersächsische Ministerpräsident David McAllister ist beispielsweise einer. Zu ihnen gehören Zuwanderer aus Ländern, die ihre Bürger nicht aus der Staatsangehörigkeit entlassen, zum Beispiel Iran und Marokko; zu ihnen gehören vor allem aber EU-Bürger, die seit 2007 ihre Staatsbürgerschaft nicht mehr aufgeben müssen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes durften im Jahr 2011 rund 50 Prozent der Neubürger ihren alten Pass behalten. All das hat unsere Republik nicht aus den Angeln gehoben. Die Argumente gegen die doppelte Staatsbürgerschaft stehen somit auf schwankendem Boden.

Damit verstärkt sich aber bei den anderen Migranten das Gefühl, als Menschen zweiter Klasse behandelt zu werden. Es trifft vor allem die große Gruppe Türkischstämmiger. Und mit der wachsenden Anzahl von Zuwanderern aus süd- und südosteuropäischen EU-Ländern wird sich die Schieflage noch verstärken. Viele Junge mit türkischen Wurzeln sind drauf und dran, sich von dieser Gesellschaft abzuwenden. Auch solche an der Spitze der sozialen Pyramide, die Repräsentanten der neuen Eliten mit Migrationsgeschichte, hadern mit den ausländerrechtlichen Regularien in Deutschland. Nach neueren Untersuchungen spielen rund 40 Prozent der türkischstämmigen Studierenden mit dem Gedanken wegzuziehen. Keine gute Entwicklung in einem Land, das auf qualifizierte und talentierte Zuwanderer angewiesen ist. Der zweite Pass und der Verzicht auf die Optionspflicht wären ein kraftvollerer Beitrag zu der oft beschworenen 'Willkommenskultur' als die vielerorts schon liebevoll gestalteten Einbürgerungsfeierlichkeiten in Rathäusern und Festsälen.

Und dann ist da noch etwas. Acht von zehn Mordopfern der rechtsextremen Terrorgruppe NSU waren türkischstämmige Einwanderer. Bislang haben die Hinterbliebenen zwar gute Worte der Anteilnahme und der Scham gehört, auch die berechtigte Kritik an der schleppenden Ermittlungs- und Aufklärungsarbeit der Sicherheitsbehörden. Eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechts wäre darüber hinaus ein klares, entschiedenes Signal gegen Fremdenfeindlichkeit. Und sie könnte mehr Gerechtigkeit in der Einwanderungspolitik schaffen. Ich bin sicher: Ein Proteststurm würde diesmal ausbleiben. Die Gesellschaft des Jahres 2013 ist ein Stück weiter als anno 1999. Gottlob.

Die Hochzeitsfrage

$
0
0
Ihre Gegner sehen den Untergang des Abendlandes nahen. Die Befürworter begreifen ihre Sache als die Bürgerrechtsfrage des 21. Jahrhunderts: In Amerikas soll das Oberste Gericht über die Homo-Ehe entscheiden.

In einem Punkt immerhin sind sich beide Lager einig: Es stehe, so bezeugen Befürworter wie Gegner der Homo-Ehe, alles auf dem Spiel, wenn Amerikas höchstes Gericht am Dienstag und Mittwoch dieser Woche prüft, ob schwule und lesbische Paare sich in den USA im Standesamt das Ja-Wort geben dürfen. Konservative Aktivisten warnen, Amerikas abendländisches Erbe und 'die jüdisch-christliche Definition der Ehe' sei dem Untergang geweiht, falls eine Mehrheit von fünf der neun Richter die Homo-Ehe für verfassungskonform hielte. Derweil deuten Befürworter gleichgeschlechtlicher Ehen den Streit als 'die Bürgerrechts-Frage des 21.Jahrhunderts' - und unken, im Falle einer Niederlage drohe allen Minderheiten Amerikas der ein 'Gegenschlag' der Konservativen.



In Amerika steht die gerichtliche Entscheidung über die gleichgeschlechtliche Ehe an.

Amerikas oberste Richter wissen, dass sie mit ihrem im Juni zu erwartenden Urteilen de facto Politik machen - und nicht jedem ist wohl dabei. 'Eine Demokratie sollte bei ihren wichtigen Entscheidungen nicht davon abhängen, was neun nicht-gewählte Menschen mit einem engen juristischen Hintergrund zu sagen haben', mahnte kürzlich Anthony Kennedy, also ausgerechnet jener Richter, der oft das Zünglein an der Waage spielt in einem Gremium, in dem jeweils vier Kollegen verlässlich konservativ oder links-liberal Recht sprechen. Der Streit darum, wer heiraten darf, macht die Nation zum juristischen Flickenteppich: 40 US-Bundesstaaten verbieten die Homo-Ehe, neun Staaten sowie die Hauptstadt Washington erlauben sie. Umfragen signalisieren allerdings eine klaren Trend: Fast drei Fünftel aller Amerikaner befürworten sie mittlerweile (noch 2004 waren es nur 41 Prozent).

Dieser Stimmungswandel erklärt, warum der frühere Präsident Bill Clinton den Richtern heute rät, ein Bundesgesetz für verfassungswidrig zu erklären, das er 1996 mit seiner eigenen Unterschrift in Kraft gesetzt hatte: Der 'Defense of Marriage Act' (Doma, Gesetz zur Verteidigung der Ehe) verbietet der Regierung in Washington, schwulen oder lesbischen Ehepaaren dieselben Vorteile im Steuer-, Versicherungs- oder Sozialrecht zu gewähren, die heterosexuelle Paare genießen. Die Kläger - angeführt von einer 83-jährigen Witwe, die nach dem Tod ihrer Lebenspartnerin 360000 Dollar Erbschaftssteuer zahlen musste - sehen dies als Verstoß gegen das Prinzip der Gleichheit aller vor dem Gesetz. Auch Präsident Barack Obama ließ das Gericht wissen, er wolle Doma abgeschafft sehen. Falls die Richter ihm folgen, würden die Rechte von etwa 120000 homosexuellen Paaren mit Trauschein gestärkt.

Viele Experten orakeln, eine solche Entscheidung des Supreme Court sei auch deshalb wahrscheinlich, weil Clintons seinerzeitiges Ehe-Verteidigungsgesetz die Kompetenzen der Bundesstaaten verletze. Richter Kennedy, der Richter zwischen den Lagern, gilt als leidenschaftlicher Gegner von solcherlei Überregulierung aus Washington. Nur, ein Urteil gegen Doma allein würde wenig ändern: Denn die einzelstaatlichen Regeln, Gesetze und Verfassungen blieben in Kraft, die bisher Homo-Ehen in vier Fünftel aller US-Staaten untersagen.

Deshalb hoffen die Vorkämpfer für die Rechte von Schwulen und Lesben vor allem auf den Prozess, der mit einer Anhörung am Dienstag beginnt: den Streit um Kaliforniens Verfassung, die seit 2008 kategorisch jede Homo-Ehe verbietet. Damals hatten die Bürger an Amerikas Westküste per Volksabstimmung entschieden, nur 'Ehen zwischen einem Mann und einer Frau' anzuerkennen. Die Kläger deuten dies als pure Diskriminierung. Sie verlangen, der Oberste Gerichtshof müsse das Bürgerrecht auf Eheschließung schützen, schließlich gebiete die US-Verfassung, dass kein einzelner Bundesstaat seine Bürger selbstherrlich benachteiligen dürfe. Als Vorbild verweisen die Anwälte der Homo-Bewegung auf die juristischen Kämpfe für die Rechte der Afroamerikaner im Süden der USA und auf einen Musterprozess von 1967, als der Supreme Court alle einzelstaatliche Regeln kassierte, die Ehen zwischen Schwarzen und Weißen verboten.

Fraglich ist freilich, ob die Richter den Mut zu solch einem Grundsatzurteil haben. Kenner des Gerichtshofs mutmaßen, die neun Richter würden sich mit Hilfe juristischer Verfahrensfragen um eine allzu eindeutige Entscheidung drücken - und den Streit um die Homo-Ehe zurück an die Politiker und ihre Wähler verweisen.

"Keine Sorgen gemacht"

$
0
0
Eine NDR-Mitarbeiterin hat ihre Doktorarbeit über die Rundfunkgebühr geschrieben - und kam zu dem Ergebnis, dass sie verfassungswidrig ist.

SZ: Frau Terschüren, Sie arbeiten für den NDR und kommen nebenberuflich in Ihrer Promotionsarbeit zu dem Ergebnis, der Rundfunkbeitrag sei verfassungswidrig. Müssen Sie fürchten, bald mit Doktortitel, aber ohne NDR-Job dazustehen?

Anna Terschüren: Nein. Meine Doktorarbeit und meine Arbeit beim NDR haben rein gar nichts miteinander zu tun, das habe ich stets getrennt. Insofern laufen die Dinge völlig getrennt voneinander ab. Der NDR sieht das genauso. Wir haben jetzt in der Abteilung natürlich Gespräche geführt.



Am Wochenende wurde vielerorts gegen die neue Rundfunkgebühr demonstriert. Anna Terschüren ist wissenschaftlich an das Thema herangegangen. Mit einer Promotion.

Warum haben Sie sich ausgerechnet dieses Thema ausgesucht? Ihnen muss ja vorher schon klar gewesen sein, dass es unter Umständen heikel werden könnte.

Ich habe mir da keine Sorgen gemacht, es gibt auch nach wie vor keinen Grund dazu. Es wirkt wahrscheinlich etwas leidenschaftslos, aber ich habe einfach eine wissenschaftliche Arbeit zu einem gesellschaftlich wichtigen Thema geschrieben - und das sind nun mal meine Ergebnisse. Ich habe übrigens auch ein Modell entwickelt, wie man den Rundfunk verfassungskonform finanzieren könnte.

Wie denn?

Kurz gesagt durch eine Steuer, die zulässig ist - die also die Staatsferne wahrt und das Gleichheitsrecht nicht verletzt.

Können Sie in einfachen Worten erklären, warum Sie zu dem vernichtenden Urteil gegen den Beitrag gelangen?

Es gibt Belastungen, die sich nach meinen Ergebnissen nicht rechtfertigen lassen, zum Beispiel bei nicht privat genutzten Fahrzeugen. Außerdem ist der Beitrag in Wahrheit eine Steuer, und die Länder, die das Gesetz beschlossen haben, dürfen gar keine Steuer einrichten. Es gibt noch ein Problem: Die Belastung müsste sich nach den wirtschaftlichen Möglichkeiten des Einzelnen richten, aber das tut sie nicht. Ich gehe davon aus, dass es einer Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht auf keinen Fall standhält.

Und dann?

Das weiß ich nicht, ich vermute, dass man eine Interimslösung finden, denn der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss natürlich weiter finanziert werden, keine Frage. Vielleicht kommt man auf das Modell zurück, das ich entwickelt habe.

Wer suchet, hat noch lange nicht gefunden

$
0
0
Nach dem Kompromiss zum Atommüll-Endlager ist weiter unklar: Wohin in der Zwischenzeit mit dem Müll?

Der am Sonntag gefundene Kompromiss zu einer bundesweiten Suche nach einem Atommüll-Endlager wirft eine Menge offener Fragen auf. Ungeklärt ist vor allem, wohin der ursprünglich für das Zwischenlager Gorleben geplante Atommüll künftig transportiert werden soll.

Nach Auskunft der Gesellschaft für Nuklear-Service (GNS), die für die Energieversorger zentrale Zwischenlager im niedersächsischen Gorleben sowie im nordrhein-westfälischen Ahaus betreibt, gibt es derzeit deutschlandweit kein weiteres Lager, das eine Genehmigung zur Einlagerung sogenannter verglaster Wiederaufarbeitungs-Abfälle in Castor-Behältern besitzt. Dieser Aspekt sei am Sonntag, als Bundesumweltminister Peter Altmaier (CDU) den Kompromiss verkündet habe, 'wohl ein wenig zu kurz gekommen', sagte ein Sprecher der GNS. Zwar kann grundsätzlich jeder Betreiber eines Zwischenlagers eine solche Genehmigung beantragen. Aber das Interesse daran scheint bislang gering zu sein. Und ob sich das ändert, lässt sich nicht vorhersagen. 'Niemand kann die Betreiber dazu zwingen', sagte der GNS-Sprecher weiter.



Wohin mit dem Atommüll?

Altmaier hatte sich am Sonntag mit Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) und Landesumweltminister Stefan Wenzel (Grüne) darauf verständigt, eine aus 24 Personen bestehende Enquetekommission einzurichten, die bis 2015 die Grundlagen und Vergleichskriterien für die bundesweite Suche nach einem Atommüll-Endlager erarbeiten soll. Bis zur Sommerpause soll dies im 'Standortsuchgesetz' verankert werden. Ein erster Entwurf dessen ist bereits vor einiger Zeit vorgelegt worden. Am 7. April soll eine Bund-Länder-Runde endgültig über den Kompromiss entscheiden.

Niedersachsens rot-grüne Landesregierung hofft, dass über die noch zu erarbeitenden Kriterien für die Endlagersuche der hochumstrittene Salzstock Gorleben ausscheiden wird, der seit 1977 im Fokus steht. Um den Verdacht der Gorleben-Gegner zu entkräften, hinter den Kulissen sei eine Entscheidung für Gorleben bereits gefallen, sollen nach der Verabschiedung des Gesetzes keine weiteren Castoren mit Atommüll mehr in das dortige oberirdische Zwischenlager transportiert werden. Ein Sprecher Altmaiers sagte am Montag, es sei noch keine Vorfestlegung getroffen, wohin der Müll stattdessen gehen solle. Neben zentralen Lagern wie Gorleben und Ahaus haben unter anderem die neun noch laufenden Kernkraftwerke eigene Zwischenlager. Allerdings sind die Genehmigungen immer begrenzt auf konkrete Mengen, Behälter und Arten von Abfällen. Als Altmaier, Weil und Wenzel am Sonntag den Stopp für weitere Transporte nach Gorleben verkündeten, hatten sie lediglich gesagt, dass noch geplante Transporte 'auf andere Zwischenlager verteilt' werden sollten. Dazu sei die Zustimmung der betroffenen Bundesländer erforderlich. Was sie nicht erwähnten: Auch die Betreiber der Zwischenlager - und damit die privaten AKW-Betreiber - müssen dazu Ja sagen.

Das sind die vier großen Energieversorger RWE, Eon, EnBW und Vattenfall. Diese sind grundsätzlich verpflichtet, den von ihnen produzierten radioaktiven Müll auch selbst zu entsorgen. Genau aus diesem Grund sind sie Eigentümer der GNS geworden, die in ihrem Auftrag sowohl die früheren Transporte zu Wiederaufarbeitungsanlagen im Ausland als auch die Rücktransporte von dort nach Ahaus und Gorleben organisiert. Aber unter den vier Energieriesen gibt es wenig Verständnis dafür, dass nun 'allein aus politischen Gründen' eines der Zwischenlager von weiteren Einlagerungen ausgenommen wird.

Die nächsten Transporte nach Gorleben stehen 2015 an. Dann müssen fünf Castor-Behälter aus dem französischen La Hague nach Deutschland gebracht werden. Dazu ist Deutschland völkerrechtlich verpflichtet. Hinzu kommen 21 Behälter mit hochradioaktivem Material aus dem britischen Sellafield. Wohin sie transportiert werden sollen, ist unklar. 'Das wird Teil der Gespräche sein, die jetzt geführt werden müssen', sagte Altmaiers Sprecher. Sollte der Bund die Hoffnung gehegt haben, die nächsten Castor-Transporte könnten zur Not in die staatlich betriebenen Energiewerke Nord in Greifswald geliefert werden, wird er wohl enttäuscht werden. Dort wird auch Atommüll gelagert, aber nur aus staatlichen Reaktoren wie Forschungsreaktoren. Nach SZ-Informationen will das Unternehmen daran nichts ändern.

Trotz der vielen offenen Fragen begrüßte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) den Kompromiss. Sie habe immer gehofft, dass es noch in dieser Legislaturperiode möglich sei, 'diesen wirklich bitteren, jahrzehntelangen Streit ad acta zu legen', sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Auch Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann von den Grünen lobte die Einigung. 'Das ist die Voraussetzung dafür, dass wir einen nationalen Konsens noch in dieser Legislaturperiode erreichen werden.' Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel und Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin hatten nach SZ-Informationen an dem Kompromiss mitgewirkt. Beide hätten ihre zunächst widerstrebenden Parteikollegen in Hannover gedrängt, Gorleben nicht mehr von vornherein auszuschließen, hieß es. Eine Übereinkunft sei angesichts der Kompromissbereitschaft Altmaiers dringend angeraten.

Über den Tigris

$
0
0
Als der Irak-Krieg begann, wussten Journalisten, dass sie Zeugen der Geschichte würden - da war kein Hindernis zu groß. Die Fotografin Yunghi Kim erzählt von ihrer beschwerlichen Reise in das Krisengebiet.

Vor zehn Jahren, Ende März 2003, als der Irak-Krieg ausbrach, lief ich vom Osten der Türkei aus vier Nächte lang durch monsunartige Regenfälle in den Irak. Wir waren eine kleine Gruppe von Fotografen, die an der türkischen Grenze zum Nordirak in den Städtchen Silopi und Cizre im kurdischen Gebiet ihre Zelte aufgeschlagen hatten. Ich dachte, es würde ein Spaziergang werden. Denn alles, was ich tun musste, war, den US-Truppen zu folgen, wenn sie ihren zweiten Einmarsch in den Irak von der Türkei aus unternehmen würden. Doch dann erlaubte die türkische Regierung den Amerikanern nicht, ihre Truppen zu stationieren. Der Norden des Irak war nur sechs Kilometer entfernt, doch die Grenze wurde scharf bewacht und die Lage war schwer einzuschätzen.

Wir verbrachten drei Wochen damit, einen Plan zu schmieden. Alles, was uns in den Sinn kam - sich in einem Kartoffellaster verstecken, einen türkischen Fahrer mit politischen Kontakten anheuern - erwies sich als undurchführbar und kostete Zeit. Zeit, die wir nicht hatten, weil sich die Ereignisse überschlugen. Aus Angst vor einem Zustrom kurdischer Flüchtlinge, schlossen die Türken dann die Grenze und jede Hoffnung, schnell zum Ort der Geschehnisse zu kommen, verflog.

Der einzige Weg, hinüberzukommen war nun, illegal über die grüne Grenze zu marschieren. Der direkte Weg über den Fluss Tigris war zu scharf von türkischem Militär bewacht. Wir mussten einen anderen Weg nehmen, über Syrien. Das hieß, den Tigris zweimal überqueren und dazu noch einige Grenzen. Es war die einzige Möglichkeit - außer, nach Hause zu fahren. Aber ich wollte auf keinen Fall den größten Krieg meines Lebens verpassen.



Das Archivfoto aus dem Jahr 2004 zeigt US-Soldaten vor Falludscha im Gespräch mit Irakern aus Bagdad. Die US-geführte "Operation Iraqi Freedom" begann vor zehn Jahren.

Der Reporter David Turnley, der damals für CNN arbeitete, versuchte mit seinem Team zweimal den Tigris zu überqueren. Beim ersten Versuch riss die schnelle Strömung seine Ausrüstung mit sich fort. Beim zweiten Versuch, nahm er den Umweg über Syrien. Und er schaffte es nicht nur, in den Irak zu gelangen, er fand sogar seine Ausrüstung auf der anderen Seite wieder.

Als wir erfuhren, dass David es geschafft hatte, beschlossen wir, dass es das Risiko wert war. Mit einem Kollegen machte ich mich auf, Turnleys Spur zu folgen, obwohl wir keine Vorstellung hatten, was auf uns zukam oder wie lange es dauern könnte. Wir ließen das meiste zurück. Ich nahm nur zwei Objektive, zwei Fotoapparate, ein Satellitentelefon und meinen Computer mit. Wir verpackten alles zweimal in Plastiktüten, um es vor Regen zu schützen, das war"s. Keine Kleidung zum Wechseln, nichts. Was immer wir brauchen würden, müssten wir auf der anderen Seite kaufen. Wir reisten nur nachts. Die Tage verbrachten wir in sicheren Häusern.

Es sollte eigentlich eine Zweitagesreise werden. Doch der tiefe Schlamm war heimtückisch, wie Treibsand in einem Kinofilm. In unserer zweiten Nacht waren wir schon nahe dem Irak. Wir mussten nur noch an ein paar syrischen Grenzsoldaten vorbeikommen und den Fluss überqueren. Da brach ein Unwetter los. Jeder Blitz erleuchtete das Land taghell. Mit unseren Führern konnten wir nicht sprechen, denn wir hatten keine gemeinsame Sprache. Also nutzten wir das Satellitentelefon, um zurück in die Türkei zu telefonieren und uns dolmetschen zu lassen. Es wurde entschieden, dass wir den weiten, schlammigen Weg zurück zum letzten sicheren Haus gehen und es später noch einmal versuchen würden.

Der Weg durch die Dörfer war riskant. Ich hatte Sorge, jemand würde aus den Häusern kommen, um zu sehen, warum die Hunde bellten und uns entdecken. Jedes Auto, das sich näherte, zwang uns, im nächsten Graben voll gurgelndem unterzutauchen. Hauptsache, wir waren unsichtbar. Ich war vollkommen erschöpft. Trotzdem dachte ich nicht einmal daran, aufzugeben. Wir ruhten uns einen Tag lang aus. Der Regen hörte auf. Das letzte Stück des Weges schien zu schaffen zu sein. Von der syrischen Seite aus, wirkte der Fluss schmal und der Irak nahe.

Es sah einfach aus, aber es war alles andere. Das Wasser war eiskalt und der Fluss gewaltig und breit. Unser Schmuggler-Boot sah aus, als es für Kinder in einem Planschbecken gedacht. Doch anstelle von Kindern waren wir vier Erwachsene, kniend zusammengequetscht, die einen Stock mit einem Stück Sperrholz daran genagelt, als Paddel benutzten. Der Fluss schien immer breiter zu werden. Als wir ungefähr die Hälfte geschafft hatten, wurde auf uns geschossen. Ich wurde panisch. Es schien nun, als hätten wir die Aussicht auf eine von drei Todesarten: Erfrieren, Ertrinken oder Erschossen werden.

Von da an bewegte sich die Welt nur noch in Zeitlupe - bis auf die reißende Strömung und den Kugelhagel. Wir kamen nicht schnell genug voran und nicht dorthin, wohin wir wollten. Wir verpassten die Stelle, an der wir anlegen wollten. Wir mussten unser Boot im hüfthohen Wasser zurücklassen und den Rest durchs Wasser in den Irak waten. An Land machten wir uns auf die Suche nach einem Polizeirevier. Dann, so hofften wir , würden wir in Sicherheit sein.

Wir wussten nicht, wie sie uns empfangen würden. Glücklicherweise wurden wir willkommen geheißen. Die kurdische Polizei war froh, ausländische Journalisten in ihrem Land zu sehen, nachdem Saddam diese Minderheit so lange unterdrückt hatte. Ich zeigte meinen Pass, füllte ein kleines Formular aus, trocknete meine Sachen, schlief ein bisschen und war am nächsten Morgen schon auf dem Weg zur nächsten größeren Stadt Erbil.

Wenn ich heute zurückblicke, war das beunruhigendste während der mitternächtlichen Fluss-Überquerung, dass ich nicht wusste, wie tief meine Füße im Schlamm des Flussbettes versinken würden. Damals begann ich, mich auf das einzige zu konzentrieren, das ich sehen konnte: die weißen Turnschuhe meines Führers, der vor mir lief - ein schwerbewaffneter kurdischer Freiheitskämpfer oder Schmuggler. Ich konnte gerade genug von seinen Füßen sehen, um zu wissen, wie tief sie bei jedem seiner Schritte einsanken.

Würde ich diesen Marsch noch einmal auf mich nehmen? Wahrscheinlich nicht. Bereue ich ihn? Keine Sekunde. Das Leben eines Fotoreporters würde ich um nichts in der Welt eintauschen.

Die Autorin begann ihre Arbeit als Fotoreporterin für den Boston Globe, der sie 1992 nach Somalia schickte, um über die Hungersnöte zu berichten. Dort geriet sie in Gefangenschaft eines Warlords. Später fotografierte sie auch in Ruanda und im Kosovo. Yunghi Kim wurde mehrmals von der World Press Photo Foundation ausgezeichnet.

Teurer langer Winter

$
0
0
Einzelhandel, Bauwirtschaft und Transportgewerbe leiden unter Schnee und Eis - die Tourismusbetriebe profitieren


Berlin - Der lange Winter kostet die deutsche Wirtschaft viel Geld. 'Nach unseren Berechnungen gehen ihr etwa zwei Milliarden Euro verloren', sagt Alexander Schumann, Chefvolkswirt des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK). Besonders die Bauwirtschaft sowie das Transport- und Verkehrsgewerbe litten unter den heftigen Kälteperioden in diesem Winter: 'Wenn Flughäfen gesperrt sind und Straßen durch Schnee und Eis in Mitleidenschaft gezogen werden, wird es kritisch - dann verzögert sich möglicherweise die Lieferkette.' Zwar könnten produzierende Unternehmen Lieferengpässe von bis zu zwei Wochen ausgleichen, aber es würden eben eventuell weniger Autos fertiggestellt als erwartet.



Der lange Winter kostet die deutsche Wirtschaft viel Geld.

Laut Schumann kann nicht alles in den kommenden Monaten wieder aufgeholt werden. Damit wächst die Gefahr, dass sich der erwartete Aufschwung verzögert und das Bruttoinlandsprodukt im ersten Quartal stagniert. Ökonomen, die von der Nachrichtenagentur Reuters befragt wurden, hatten zu Jahresbeginn noch ein Mini-Wachstum von 0,2 Prozent erwartet.

Für die Bauindustrie bedeuten Schnee und Frost erschwerte Bedingungen im Tagesgeschäft: 'Der Tiefbau liegt doch ziemlich brach', sagte ein Sprecher des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie (HDB) der Nachrichtenagentur. Klagte schon im Januar mehr als jedes zweite Bauunternehmen in Deutschland über witterungsbedingte Behinderungen, so seien es im Februar und im März 77Prozent der Betriebe gewesen. Im Straßenbau zuletzt sogar 88Prozent. 'Es ist nicht realistisch, dass das alles wieder aufgeholt werden kann', so der HDB-Sprecher. 'Dazu dauert der Winter einfach zu lange.'

Nicht viel anders die Lage im Einzelhandel. In den Schaufenstern der Republik warten seit Wochen Puppen mit Sonnenhüten auf dem Kopf und Segelschuhen an den Füßen vergeblich auf Kundschaft. 'Der Textil-Einzelhandel leidet', sagt DIHK-Chefvolkswirt Alexander Schumann. 'Die Geschäfte haben keine Wintersachen mehr, was gut ist, aber die Frühjahrskollektion verkauft sich auch nicht.' Wie der Sprecher der Spitzenorganisation des deutschen Einzelhandels HDE, Kai Falk, berichtet, lade die wochenlange Kälte in weiten Teilen Deutschlands einfach nicht zum Einkaufsbummel ein. Auf Straßen voller Schnee und Eis trauten sich in den vergangenen Wochen weniger Kunden in die Stadtzentren. Das merkten auch die Autohändler: 'Die Leute rufen zwar an, aber sie kommen wegen des Schnees nicht hierher', sagt beispielsweise Mustafa Kosak, der einen Autohandel in Berlin betreibt. 'Im Januar und Februar ist der Absatz drastisch gesunken.' Immerhin soll es bis Ostern geringfügig wärmer werden.

Dann ist für den Düngemittel- und Salzhersteller K+S das erfolgreiche Wintergeschäft möglicherweise vorbei. Der Verkauf von Auftausalz hat dem Unternehmen gute Zahlen beschert: 'Der März war ein guter Absatz-Monat', sagte ein Konzernsprecher. Im Unternehmen geht man davon aus, dass das boomende Salzgeschäft 2013 die Rückgänge im schwächelnden Düngemittelgeschäft mehr als wettmachen wird.

An Dünger, Gartengeräten und Balkonmöbeln haben die Deutschen momentan noch wenig Interesse, zum Leidwesen der Baumärkte: 'Die Outdoor-Saison verschiebt sich', sagte HDE-Sprecher Falk. Es reiche vielleicht für einen Spaziergang im Park, an die eigenen Gärten aber trauten sich die Deutschen noch nicht ran. In weiten Teilen Norddeutschlands sind die Böden gefroren und die Nächte klirrend kalt. Diese Kälteverdrossenheit kann Claudia Zapolska, Sprecherin des Zentralverbands Gartenbau bestätigen: 'Wenn es kälter ist, läuft der Verkauf der Frühblühern wie Narzissen, Tulpen und Violen schleppender', sagt Zapolska. Zu Ostern, das in diesem Jahr zudem außergewöhnlich früh liegt, würden aber viele ihre Häuser und Wohnungen bunt schmücken, so ihre Erfahrung. 'Wir sind zuversichtlich, dass sich der Verkauf noch ausgleicht.'

Teuer werden die kalten Nächte für den Gemüseanbau: 'Das Gemüse unter Glas bekommt am Tag zwar genug Sonne und Wärme - in der Nacht muss aber kräftig geheizt werden.' Damit ihnen die Tomaten, Gurken und Paprika nicht erfrieren, nehmen einige Betriebe nun hohe Heizkosten in Kauf.

Was machen nun eigentlich die Deutschen, wenn sie nicht rausgehen, nicht shoppen und keinen Zeh auf ihren gefrorenen Rasen setzen wollen? 'Sie flüchten in wärmere Gefilde', sagt Anja Braun, Sprecherin für Tui Deutschland. Sowohl in den langfristigen als auch in den spontanen Buchungen für die Osterferien habe das Unternehmen enorme Zuwächse bemerkt. 'Vor allem die Fernreisen haben im Vergleich zum Vorjahr um ein Drittel zugenommen', sagt Braun. Dass die Deutschen auch über Ostern nach Thailand, auf die Malediven, in die USA und die Vereinigten Arabischen Emirate reisten, sei ein neues Phänomen, sagt Braun. Ab November wird Tui daher Charterflüge von Hamburg in die Dominikanische Republik, nach Mexiko und Barbados anbieten - mit einer Kapazität von insgesamt 35000 Flugsitzen.

Freundschaftsanfrage

$
0
0
Mark Zuckerberg trommelt für einen besseren Nachwuchs

Wenn Mark Zuckerberg von einer Sache etwas versteht, dann davon, wie man Freunde findet. Eine Milliarde Menschen knüpfen inzwischen auf seiner Plattform namens Facebook virtuelle Bande. Aus dem, was der Nerd vor etwa zehn Jahren in einem Internatszimmer in Harvard ausgeheckt hat, ist längst ein riesiges Unternehmen geworden. Mehr als 4600 Mitarbeiter sind damit beschäftigt, dem digitalen Plaudertreff die notwendige Pflege zukommen zu lassen oder besser noch: ihn etwas aufzupolieren. Und Zuckerberg, 28, sorgt sich offenbar, dass ihm dabei bald schon die Talente ausgehen könnten.



Mark Zuckerberg

Deswegen bricht er nun auf, um sich neue Freunde zu suchen. Mächtige Freunde, versteht sich. Der Jungspund mit dem roten Lockenkopf, der selbst wichtige Termine am liebsten im Kapuzenpulli absolviert, will eine Organisation gründen, die sich für eine Lockerung der amerikanischen Einwanderungsgesetze starkmacht. Bis zu 20 Millionen Dollar soll ihm die Sache wert sein, berichtet der San Francisco Chronicle. Zudem habe er einige Mitstreiter um sich geschart, die noch einmal zwischen zwei und fünf Millionen Dollar beisteuern könnten. Auch ein paar Anregungen zur Bildungspolitik wollen sie den Einflüsterern mit auf den Weg nach Washington D. C. geben. Zwar hatte Zuckerberg erst kürzlich zum selben Zweck einen Brief aufgesetzt. Den Appell an die Kongress-Abgeordneten, sich stärker dafür einzusetzen, dass der wichtigen IT-Industrie nur nicht die Talente ausgehen, hatten mehrere wichtige Manager aus dem Silicon Valley unterzeichnet: Meg Whitman vom Computerkonzern Hewlett-Packard ebenso wie John Donahoe vom Auktionshaus Ebay und Marissa Mayer vom Internetkonzern Yahoo. Aber natürlich kann es nicht schaden, ein paar Lobbyisten ins Regierungsviertel zu schicken und den Worten noch etwas mehr Gewicht zu geben.

In Sachen solide Ausbildung dient Zuckerberg selbst übrigens nur bedingt als Vorbild: Er hat sein Informatikstudium nach nur zwei Jahren geschmissen, um sein Glück im Silicon Valley zu versuchen. Aber, immerhin, von seinem Vermögen, das er dort gemacht hat und das derzeit auf etwa 35 Milliarden Dollar geschätzt wird, hat er bereits vor zwei Jahren 100 Millionen Dollar an ein Bildungsnetzwerk in New Jersey gespendet. Kurz vor Weihnachten ließ er noch mal Aktien im Wert von fast 500 Millionen Dollar für Bildungsprojekte im Silicon Valley springen. Mit etwas Geld lassen sich Freundschaften eben besser erhalten.

Goldene Ostern

$
0
0
2012 wurde der goldene Lindt-Schokohase 60 Jahre alt. Hier kommt er mal selbst zu Wort.

Gestatten, mein Name ist Hase - aber ich weiß eine ganze Menge. Ich verstehe vor allem etwas von erfolgreichem Marketing. Davon, wie man sich selbst am besten verkauft - und zwar weltweit. Es gibt wahrscheinlich kaum mehr ein Osternest zwischen Seattle und Sapporo, Feuerland und Finnland, aus dem nicht meine goldigen, goldenen Ohren heraus lugen. Vergessen Sie das Märchen vom Hasen und dem Igel. Ich bin der Hase, der immer schon da ist.



2012 wurde er 60 Jahre alt: der goldene Lindt-Schokohase

Wenn man mal jede falsche Bescheidenheit beiseite lässt, könnte man mit Fug und Recht sagen, dass ich inzwischen zum Synonym für Ostern geworden bin, selbst in Ländern, wo man Ostern bisher gar nicht kannte. Gut, das Osterlamm war nie eine wirkliche Konkurrenz. Ein Schaf bleibt ein Schaf, ein bisschen langsam und beschränkt eben. Aber auch den traditionellen Osterhasen habe ich längst abgehängt.

Es war ein Geniestreich meiner Erzeuger in der Schokoladenfabrik Lindt & Sprüngli, dass sie mich nicht knallbunt sondern edel golden eingewickelt haben. Und vor allem, dass ich sitze. Über die alten, stehenden Osterhasen hält sich ja noch immer das ruf- und verkaufsschädigende Gerücht, dass es sich bei ihnen tief drinnen um zipfelmützige Weihnachtsmänner handelt, die nicht abgesetzt werden konnten und nun, neu verpackt, recycelt werden.

Ich bin letztes Jahr 60 geworden, ein Alter, in dem andere langsam an den Ruhestand zu denken beginnen. Aber ich kann mir das nicht leisten, denn ich bin bei Lindt inzwischen das wohl beste Pferd im Stall, wenn ich als Hase diesen Vergleich wagen darf. Letztes Jahr wurden 150 Millionen Stück von mir verkauft, und dieses Jahr dürften es noch mehr sein. Ja, wir vermehren uns wie die, nun ja, Karnickel. Mittlerweile gibt es rund doppelt so viele Goldhasen wie Deutsche. Die aber verdrücken eine ganze Menge Schoko-Hasen: 106 Millionen in diesem Jahr, darunter freilich auch welche von der Konkurrenz.

Mein Chef, Lindt-CEO Ernst Tanner, jedenfalls war sehr zufrieden, als er vor kurzem wohlgelaunt und braun gebrannt die Geschäftsergebnisse für 2012 vorstellte: Umsatz plus sieben Prozent auf 2,67 Milliarden Franken, Gewinn plus zehn Prozent auf 272 Millionen Franken, Dividende plus 15 Prozent auf 575 Franken. Ja, 575 Franken. Denn eine einzige Lindt-Aktie kostet 40 000 Franken. Für dieses Geld bekäme man entweder einen C-Klassen-Benz oder sehr viele Goldhasen.

Verständlich, dass man bei Lindt nach einem vergleichbaren Renner suchte, der Weihnachten zum Einsatz kommt, wenn ich Pause habe. Mein Kollege war ein knuddeliger Bär, der ebenfalls in Goldfolie eingeschlagen ist und daher Goldbär heißen sollte. Rund 40 Millionen Stück sind letztes Weihnachten über den Ladentisch gegangen. Er schlägt sich wacker, der Teddy.

Dummerweise gab es jedoch schon Goldbären. Die sind zwar nicht aus Schokolade sondern aus einer Gelatinemasse, und statt goldfarben kommen sie in allen Farben des Regenbogens daher. Aber sie waren nun mal früher da, und deshalb erließ ihr Hersteller Haribo eine einstweilige Verfügung gegen unseren Teddy. Mein Chef Tanner hat kürzlich gesagt, dass er sich mit dem Gummibären-Chef Hans Riegel darauf geeinigt hätte, den Streit durch alle Instanzen notfalls bis zum Bundesgerichtshof durchzufechten. In aller Freundschaft, versteht sich.Wenn er verliert, hat er dann noch gesagt, würde er den Gummibären 'eine geringe Lizenzgebühr' dafür bezahlen, dass er ihren Namen verwenden darf. Was ich nicht verstehe: Warum zahlt er sie nicht gleich? Denn Anwälte und Gerichte kosten viel Geld, und die lassen sich nicht mit Schokohasen abspeisen, auch wenn sie noch so lecker sind.

Nur gucken, nicht kaufen

$
0
0
In Australien verlangt ein Laden fünf Dollar Eintrittsgeld. Ein Vorbild für deutsche Einzelhändler?

Düsseldorf/München - Solche Kunden sind vielen Händlern ein Graus. Sie schlendern rein, schauen sich um, stellen knifflige Fragen. Aber kaufen? Nein, das erledigen sie nicht im Laden. Das machen sie im Internet. Ein Lebensmittelladen in Australien setzt sich nun gegen die Schmarotzer zur Wehr. Dort hängt ein Schild im Fenster. 'Dieses Geschäft verlangt eine Gebühr von fünf Dollar pro Person - nur fürs Gucken.' Zurück gibt es das Eintrittsgeld, wenn man etwas kauft.



Zahlen nur für's Anschauen?

Seit es das Internet gibt und erst recht, seit es in fast jeder Hosentasche steckt, wollen die Menschen zu jeder Zeit und an jedem Ort kaufen, was sie eben gerade brauchen. Erst kürzlich kam die Beratungsgesellschaft Accenture in einer Befragung von Konsumenten in acht Ländern zu dem Ergebnis, dass vier von fünf Verbrauchern nur dann zum Portemonnaie greifen, wenn das, was sie haben wollen, sofort zu haben ist. Jeder Dritte nutzt außerhalb der Öffnungszeiten seines Händlers den Online-Shop. Der 55-Jährige unterscheidet sich dabei nicht vom 25-Jährigen.

Was also tun? Geld fürs Gucken verlangen? 'Wir sind doch nicht im Museum', empört sich Andre Kunz, Geschäftsführer beim Verband der deutschen Möbelhändler. Die großen Häuser böten doch gerade deshalb mehrere Tausend Quadratmeter Ausstellungsfläche, um Kunden in die Läden zu locken, um ihnen Anregungen zu bieten. Dass viele Verbraucher sich in den großzügig gestalteten Wohnlandschaften Tipps holen - und dann online bestellen, kann sich Kunz nicht vorstellen. Berufsbedingter Optimismus. Denn Anbieter, die Einrichtungsgegenstände nur online verkaufen, wie etwa Home 24, Kiveda oder Fashion for Home, verzeichnen rasant steigende Umsätze.

Natürlich ärgert man sich auch bei Media Markt und Saturn, wenn sich die Kunden in den Läden schlaumachen und dann anderswo im Internet bestellen. Aber das würden immer weniger, glaubt man in der Firmenzentrale zu wissen. Die Metro-Tochter hatte in den vergangenen Monaten massiv die Preise gesenkt, weil sie im Vergleich zu vielen Internethändlern nicht mehr wettbewerbsfähig war. Auch hat sie ihr eigenes Angebot im Netz deutlich aufgestockt. Trotzdem: Noch gibt es die größere Auswahl in den Märkten. Kunden, die in den Internetshops von Media Markt und Saturn bestellen, bietet das Unternehmen an, die Ware selbst in den Läden abzuholen. Jeder zweite Besteller macht davon Gebrauch, was viele bei Media-Saturn überrascht hat. Die Gründe? Weil es schneller geht, und weil man im Laden noch ein wenig stöbern möchte, sagen viele Kunden. Die Verkäufer freut"s. Denn sind die Kunden erst einmal im Geschäft, nehmen sie meistens auch noch etwas anderes mit.

Händler, die ihre Preise nicht senken können, versuchen es eben auf anderen Wegen. Sie machen es dem Kunden besonders bequem oder besonders schön: Buchhändler fernab der großen Einkaufsstraßen nehmen eine Bestellung auch schon mal per E-Mail entgegen, laden zur abendlichen Lesung mit Rotwein und Kerzenlicht, damit die Kunden ihnen die Treue halten und nicht bei Amazon ordern. Manchmal lohnt sich solch eine Investition. Manchmal aber auch nicht.

Ein Laden ist eben mehr als nur eine Verkaufsfläche. Er ist auch: ein Erlebnis. Apple zeigt das mit seinen schicken Läden und teurer Lage. Und erst der Modehändler Abercrombie & Fitch: Selbst wenn dies nicht jedermanns Geschmack ist - Moschus (ziemlich viel), Musik (ziemlich laut) und Muskelmasse (ziemlich unverpackt) haben schon einiges an Anziehungskraft. Andere Läden wiederum machen sich ausgerechnet die neuen Möglichkeiten des Netzes zu eigen: Bei Adidas können die Kunden direkt neben der Umkleidekabine Fotos machen und ihre Freunde am neuen Outfit via Facebook oder Twitter in der weiten Welt teilhaben lassen.

Der Einkaufszentrumbetreiber ECE testet seit Kurzem in Essen und Hamburg, ob sich der Kunde vom Kauf überzeugen lässt, wenn er, in dem Moment, in dem er den Shoppingtempel betritt, automatisch die Sonderangebote der nächsten Läden auf sein Smartphone geschickt bekommt.

Den Onlinehändler Redcoon, Schwester von Media-Markt-Saturn, inspiriert die Idee, fürs Gucken Geld zu verlangen, aber doch irgendwie: 'Wenn man von all den Menschen, die samstags in den Märkten vor den Fernsehern stehen und Fußball gucken, Geld nähme, käme einiges zusammen.'

Utopia in Las Vegas

$
0
0
Der Internet-Unternehmer Tony Hsieh will die amerikanische Glücksspiel-Metropole zum neuen Silicon Valley machen und im heruntergekommenen Zentrum eine Musterstadt für Start-ups erschaffen.

Las Vegas - Die einst bunten Fassaden des Fremont Casino in Downtown Las Vegas sind längst verblasst. Obdachlose trinken vor dem Eingang schweigend ihren Kaffee. In zerschlissene Daunenjacken gehüllt, die Mützen tief ins Gesicht gezogen, suchen sie hinter einem Mauervorsprung Schutz vor dem Wind, der um die Häuser pfeift und die Stromleitungen flattern lässt. Eine Verkehrsampel blinkt. 'Alcohol is good for you', steht auf einem Plakat, auf dem das Hotel für sich Werbung macht. Es zeigt eine Krankenschwester, die in ein Martini-Glas gefallen ist. In den Fünfzigerjahren war das Hotel-Casino mit 155 Zimmern das größte Gebäude in ganz Nevada. Es war zu einer Zeit, als in Las Vegas das Glücksspiel groß gemacht wurde, mit dem sich die Stadt später ihren Ruf erworben hat. In der sich Geldverleiher, Gangster, Prostituierte und Hollywoodstars trafen. Heute verirren sich nur noch wenige Touristen an die Fremont Street und in ihre Casinos. Die große Show findet jetzt am Stadtrand statt, in Glitzerpalästen am Strip wie dem Bellagio und dem MGM Grand Hotel. Es hat 40-mal so viele Betten wie das Fremont. Und ist nur eine halbe Autostunde entfernt.



So schillernd ist Las Vegas längst nicht mehr - jetzt soll es zum neuen Silicon Valley werden.

In der Mitte von Las Vegas hat sich dagegen Ödnis ausgebreitet. Das Rathaus, in den Sechzigern als Prachtbau erdacht, steht verloren im weiten Rund. Früher umgaben es Verwaltungsgebäude. Bis die Abrissbirne kam. Im Herbst aber wird ein neuer Besitzer in die Vegas City Hall ziehen: Tony Hsieh, Chef des Online-Händlers Zappos. 2000 Mitarbeiter bringt er mit, Ende 2013 will er hier seine Firmenzentrale aufmachen. 'Die Idee stammt aus einer Nacht mit vielen Drinks', sagt der 39-Jährige. Der Computerwissenschaftler, der an der Harvard-Universität studierte, denkt gerne groß: Er kennt sich mit Geschäften im Internet aus - und er hat das nötige Kapital. 1999 hat er, mit gerade 24 Jahren, seine erste Firma, das Werbenetzwerk Linkexchange, für 265 Millionen Dollar an Microsoft verkauft. Seither handelt er online mit Kleidung und Schuhen, auch damit hat er eine Branche umgekrempelt. Inzwischen hat Amazon die Firma übernommen. Hsieh trägt Jeans und ein blaues T-Shirt mit dem Zappos-Logo, so zeigt er sich oft. Er sagt: 'Die Menschen werden hierher kommen, allein schon um sich das alles anzusehen.' Dieses Jahr soll ein wichtiges Jahr für Las Vegas werden. Und für Hsieh, ihren selbst ernannten Stadtplaner.

Mit 350 Millionen Dollar aus privatem Vermögen baut sich Hsieh seine Nachbarschaft einfach selbst. 200 Millionen Dollar sind für Investitionen in Gebäude vorgesehen, für 100 Millionen Dollar sollen Schulen, Restaurants und kleine Dienstleister finanziert werden. 50 Millionen Dollar stecken im Vegas Tech Fund, zusammen mit einer Handvoll Partnern und Zappos-Kollegen hat Hsieh den Fonds aufgelegt, um seine Idee von einem Utopia in der Wüste Nevadas umzusetzen. Damit sollen Technologie- und Design-Firmen gegründet werden, erfolgreiche natürlich. Hsieh will aus den Ruinen des alten Las Vegas eine Musterstadt für Start-ups erschaffen: eine Art Campus ohne Grenzen, auf dem Alltag, Freizeit und Beruf verschmelzen. Das Modell soll zum internationalen Vorbild avancieren. Downtown-Project Las Vegas, DTP, nennt Tony Hsieh sein Revitalisierungs-Projekt.

Die Bauarbeiten am halbkreisförmigen Rathaus kann der Internetunternehmer von seinem Apartment im 23. Stock des Ogden-Wohnkomplexes direkt mitverfolgen. Dazu braucht Hsieh nicht mal ein Fernglas, das Gebäude liegt nur etwa 100 Meter entfernt. Die große Fensterfront des Ogden bietet auch einen Blick auf die leeren Flächen rundherum. Noch. Wo einst Pfandleiher und Filialen der Bank of America residierten, entstehen heute Restaurants, Boutiquen und Bäckereien, weil Hsieh das so will.

Nur wenige Gehminuten von seiner Wohnung entfernt sitzen in einer finsteren Bar in der Fremont Street ein paar Leute vor ihren Rechnern. Sie arbeiten dort, bis um 17 Uhr die ersten Drinks serviert werden. Nur durch eine Tür von dem Bar-Büro getrennt, liegt die Coterie, ein neu eröffnetes Modegeschäft. Die Designerkleider hängen akkurat zwischen alten Bankschaltern. T-Shirts, Hosen und Pullover sind fein säuberlich auf Tischen aufgeschichtet, die mit grünem Filz von Pokertischen bezogen sind. Eine Hommage an die Geschichte des Gebäudes. Im Hinterzimmer der einstigen Spielbank sitzt im grellen Schein der Deckenröhren Tony Hsiehs rechte Hand: Zach Ware. Er hat das 25-köpfige Team des DTP zusammengestellt: eine Art Vorauskommando. Bei Zappos hatte Ware noch das Produktmanagement geleitet. Heute ist er stolz, keinen Jobtitel mehr zu tragen, sagt er. Auf seiner Visitenkarte steht: Zach Ware, Zappos, No Title. Leidenschaft sei besser als Intelligenz und Know-how, sagt Ware. Lieber stelle er Menschen ein, die ihm sympathisch sind, anstatt solcher, die den perfekten Lebenslauf vorweisen können. So sei der Erfolg von Zappos zu erklären - ein Milliardenunternehmen, das bei Fragen nach Umsatz, Gewinn und Gehältern allerdings schnell einsilbig wird. Und so solle auch Las Vegas wieder zu blühen beginnen. Zu einem neuen Silicon Valley, das auch auf einem neuen Konzept beruht.

In seinem Apartment lebt Hsieh so, wie er sich sein eigenes Silicon Valley vorstellt. In der offenen Küche finden sich ein paar leere Flaschen als Zeugen einer feuchtfröhlichen Nacht. Eines der Betten im angrenzenden Zimmer ist noch zerwühlt. Am Vorabend durfte Adobe einige illustre Gäste aus der Tech-Szene in die Wohnung einladen. Am Eingang des Apartments hängt eine Tafel mit Post-it-Zetteln. Darauf werden die Wünsche der Mitarbeiter für die Gemeinschaft gesammelt. In einem demokratischen Abstimmungsprozess hat sich neulich die Forderung nach einer Hundebetreuung durchgesetzt. Thai Massagen und ein indisches Restaurant sind aber erst mal hintenan gestellt.

Auch wenn tagsüber für den Hund gesorgt ist - wer zieht in die Ödnis von Las Vegas? Hsiehs Idee eines Technologie-Utopias weckt vorsichtiges Interesse. Im vergangenen Jahr haben sich zehn Start-ups im neuen alten Vegas niedergelassen. Eine der Firmen ist Wedgies, ihre App ermöglicht Umfragen zu aktuellen Themen auf Diensten wie Facebook und Twitter und wertet die Ergebnisse sekundenschnell aus. Auf die Frage der Zeitung USA Today 'Sollen Sturmgewehre verboten werden?' stimmten 85 Prozent der Menschen, die antworteten, mit nein. Auch im Freundeskreis findet das Tool Anwendung, wenn abgestimmt wird, wo man sich zum Mittagessen trifft. Die Gründer Porter Haney und Jimmy Jacobsen arbeiteten ein Wochenende durch, um Wedgies zu entwickeln. Dann drückte der Vegas Tech Fund ihnen eine halbe Million Dollar in die Hand. Eine Menge Geld für kleine Daten: Die Umfrage-App wird erst von knapp 100 Facebook-Nutzern genutzt. Ein großes Geschäft ist das noch nicht. Jetzt wohnen und arbeiten sie mit vier Mitarbeitern in einem Einfamilienhaus. Dort, eine halbe Meile vom Stadtzentrum entfernt, bleiben sie, bis der Campus fertig ist. Große Träume inklusive.

Einmal in der Woche treffen sich die Gründer mit Gleichgesinnten und anderen, die sich für das Downtown-Projekt interessieren, in der Tech-Bibliothek in einem ehemaligen Ärztehaus. In den kleinen Behandlungszimmern stellen nun Künstler ihre Werke aus. Im Erdgeschoss ist auch der Coffee Shop untergebracht, wohin Tony Hsieh seine Las-Vegas-Gäste lädt, um Geschäftliches zu besprechen.

Hsieh beschreibt sich selbst als einen Menschenfreund, der am liebsten mit Freunden zusammenarbeitet. Er hat ein Buch darüber geschrieben, wie man es anstellt, glücklich und erfolgreich zu werden, 'Delivering happiness' heißt es. Doch der Mann, der mehr als eine Viertelmilliarde Dollar investieren will, ist auch ein kühler Rechner. Und so steckt hinter der Idee einer Stadt voller hungriger Jungunternehmer immer das Kalkül, dass eines Tages Mieten und Immobilienpreise steigen werden - woran Hsieh verdienen wird. Eines nämlich ist Tony Hsieh auch in Las Vegas nicht geworden: ein Zocker.

Was ist ein Tweet wert?

$
0
0
Eine Studie der Ticket-Plattform Eventbrite untersucht die Relevanz sozialer Netzwerke für Unternehmen.

München - Bislang ist es nicht viel mehr als ein Bauchgefühl. Facebook? Na, klar. Twitter? Logisch. Wer etwas zu bieten hat, der sollte es am besten auch dort anpreisen. Das hat sich inzwischen selbst bis zum kleinen Bäcker rumgesprochen. In Euro und Cent können bislang jedoch nur wenige bemessen, was ein Auftritt in sozialen Netzwerken bringt.



Wie wichtig sind soziale Netzwerke für den Verkauf?

Etwas Orientierung bietet dabei immerhin der digitale Ticketladen Eventbrite. Auf dieser Plattform kann jeder Nutzer Eintrittskarten für Konferenzen, Kurse und Konzerte kaufen und eben auch verkaufen. Ohne weiteren Zwischenhändler. Eventbrite lebt davon, im Gespräch zu sein. Eventbrite lebt also von sozialen Netzwerken. Und das amerikanische Unternehmen, das seine Dienste seit dem Sommer vergangenen Jahres auch in Deutschland anbietet, hat nun erstmals weltweit untersucht, wie die Menschen zu dem Ticketladen kommen - und wer dann wie viel Geld dort lässt.

Vier Jahre sei es her, dass erstmals Facebook in die Liste der zehn Web-Sites rutschte, die für Andrang bei Eventbrite sorgen, erinnert sich Tamara Mendelsohn, die die Untersuchung koordiniert hat. Kein Jahr später hatte das soziale Netzwerk sogar den Spitzenplatz erobert. Die Erkenntnis daraus: Die Leute kaufen eine Konzertkarte nicht mehr deshalb bei Eventbrite, weil sie über eine Suchmaschine darauf gestoßen sind, sondern weil es ihnen ein Freund empfohlen hat. Der Kurznachrichtendienst Twitter, so Mendelsohns Erfahrung, sorgt dafür, dass viele Leute zu Eventbrite finden. Der Treffpunkt Facebook hingegen sorgt dafür, dass sie dort auch viel Geld ausgeben.

In Zahlen ausgedrückt, heißt das: Wenn jemand unter einer Veranstaltungsankündigung, für die Eventbrite die Karten vertreibt, den Gefällt-mir-Knopf drückt und diese dann auf seiner Facebook-Seite auftaucht, bringt das dem digitalen Ticketladen im Schnitt 15 zusätzliche Besucher. Wird sie bei Twitter erwähnt, kommen 32. Ein Gefällt-mir-Klick bringe einen zusätzlichen Umsatz von 3,09 Euro, rechnet Mendelsohn vor. Ein Tweet hingegen nur 1,23 Euro.

'Ich gehe nun einmal eher auf ein Konzert, das mir ein Freund empfiehlt, als auf eines, von dem Lady Gaga schwärmt', sagt sie. Wer etwas in sozialen Netzwerken vermarkten wolle, müsse sich deshalb zuvor klarmachen, wen man über welchen Weg erreicht: Wer sich bei Facebook anmelde, suche dort den Kontakt zu Menschen, die einem persönlich etwas bedeuten und zumeist auch in derselben Gegend wohnen. Diese werde man also eher fragen, welches Konzert man wohl am Wochenende besuchen könne. Auf Twitter hingegen schaue man sich eher nach Prominenten oder auch beruflichen Kontakten um - und zwar aus der ganzen Welt.

Mendelsohn räumt ein, dass sich Eintrittskarten zu Konzerten und Kursen in sozialen Netzwerken einfacher vermarkten lassen als vielleicht ein Toaster. 'Wir haben das Glück, dass wir etwas verkaufen, worüber sich die Menschen in sozialen Netzwerken ohnehin unterhalten.' Aber auch für den Verkäufer von Toastern seien soziale Netzwerke hilfreich. Er müsse sich nur etwas mehr Gedanken darüber machen, wie er aus seinem Produkt ein soziales Erlebnis mache.

Dass das selbst bei so banalen Dingen wie Plastikschüsseln klappen kann, hat Tupperware allerdings bereits in der analogen Welt gezeigt. 'Social Media ist mehr als nur Spielkram', betont Mendelsohn, 'Es lohnt sich, genau zurückzuverfolgen, über welche Wege Kunden zu einem finden. Denn dort kann man sie am besten ansprechen.'

Verkehr ohne Geschlecht

$
0
0
Um für mehr Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen zu sorgen, werden Straßenschilder in Zukunft mit neutralen Formulierungen betitelt.

Wenn am 1. April Neuerungen verkündet werden, ist ja grundsätzlich Vorsicht angebracht. Häufig handelt es sich um einen Scherz, mal mehr, mal weniger gelungen. Dass am 1. April 2013 die neue Straßenverkehrsordnung (StVO) in Kraft tritt, ist natürlich kein Scherz. Was sollte auch lustig daran sein, dass ein paar Schilder abgeschafft werden, die sich als überflüssig erwiesen haben. Oder daran, dass es ein paar kleinere Erleichterungen für Radfahrer geben soll. Radfahrer? Diesen Begriff sucht man in Zukunft vergeblich in der Verkehrsordnung. Stattdessen heißt es von kommendem Montag an geschlechtsneutral: 'Wer ein Fahrrad führt.'


Warum nimmt eigentlich immer nur die Mutter das Kind an die Hand?

Auch das Wort 'Fußgänger' wurde ersetzt durch: 'Wer zu Fuß geht'. Umständlich? Überflüssig? Unsinnig? Vielleicht. Aber dafür gerechter. Zumindest wenn es um die Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern geht. Und um eben die ging es.

Der Neuerlass der Straßenverkehrsordnung sei zum Anlass genommen worden, die Vorschriften 'an das Erfordernis der sprachlichen Gleichbehandlung von Frauen und Männern anzupassen', heißt es in der Begründung zu dem Verordnungsentwurf. Was das bedeutet, kann man an unzähligen Stellen nachlesen. Bislang stand beispielsweise in Paragraf 26 StVO, dass Autos an bestimmten Stellen Fußgängern und Rollstuhlfahrern die Fahrbahn überqueren lassen müssten. Künftig müssen sie dies 'den zu Fuß Gehenden' sowie den 'Fahrenden von Rollstühlen' ermöglichen. Durften bislang 'mehr als 15 Radfahrer' einen geschlossenen Verband bilden, dürfen dies bald 'mehr als 15 Rad Fahrende'. Auch gelten die Verkehrsregeln nicht mehr sinngemäß für 'Reiter, Führer von Pferden sowie Treiber von Vieh'. Stattdessen heißt es: 'Wer reitet, Pferde oder Vieh führt', unterliege den Regeln sinngemäß.

Zweck der geänderten Begriffe sei eine 'geschlechterneutrale Formulierung' gewesen, erklärt eine Sprecherin des Bundesverkehrsministeriums. 'Diese ist für Gesetzgebungsverfahren bereits seit geraumer Zeit vorgeschrieben.' Allerdings beschränken sich die sprachlichen Korrekturen nicht auf die Geschlechterfrage. Stand bislang in Paragraf 17, dass Krafträder auch am Tag mit Abblendlicht fahren müssen, so hat man sich mittlerweile besonnen: Natürlich steht nicht das Kraftrad in der Pflicht, sondern dessen Fahrer. Und deshalb heißt es künftig: 'Wer ein Kraftrad führt', müsse auch am Tag das Licht einschalten. Damit sei nun jedes Missverständnis ausgeschlossen, stellt man beim Auto Club Europa erleichtert, aber nicht ganz ironiefrei fest.

Es sei ihm so vorgekommen, als habe der Verkehrsminister 'kurzerhand einen Studienabbrecher im Fach Germanistik' engagiert und ihn beauftragt, die bisherigen Formulierungen in der Verordnung auf die Erfordernisse der Gleichbehandlung von Frauen und Männern zu trimmen, sagt der Verkehrsrechtsexperte des Auto Clubs, Volker Lempp. Sehr konsequent war der mutmaßliche Studienabbrecher dabei allerdings nicht. In Paragraf 36 hieß und heißt es nach wie vor: 'Die Zeichen und Weisungen der Polizeibeamten sind zu befolgen.' Was für Lempp die Frage aufwirft, wie es eigentlich um die Weisungen von Polizistinnen bestellt ist.

In einer Glasvitrine sitzt ein Jude

$
0
0
Das Jüdische Museum Berlin wagt sich mit einer verwirrenden Ausstellung an einen Alltag jenseits von Klischees heran.

Am Eingang zum Jüdischen Museum in Berlin hat sich eine Schlange gebildet, es ist das übliche Bild vor Jüdischen Museen: Die Flughafenschlange. Ein Wachmann bittet, Handy und Schlüssel zum Scannen in einen Korb zu legen, die Besucher passieren eine Sicherheitsschleuse.

Man würde vielleicht nie erfahren, was die Besucher denken, jetzt wissen wir es, dem Jüdischen Museum Berlin sei Dank. Mit einer sensationell verwirrenden neuen Ausstellung, die Klischees persifliert und tradierte Vorurteile attackiert, bringt es die Besucher zum Reden. Die Schau heißt 'Die ganze Wahrheit - Was Sie schon immer über Juden wissen wollten'. Am Ende dürfen die Besucher ihre Gedanken auf Zettel notieren und auf eine Betonwand kleben. Einer hat geschrieben: 'Grenzen sich jüdische Synagogen, Schulen und Museen durch strenge Sicherheitsmaßnahmen nicht selbst aus?'


Das Museum möchte mit der Ausstellung bewusst für Verwirrung sorgen

Hunderttausende Menschen haben das Jüdische Museum Berlin seit seiner Eröffnung 2001 besucht - und Tausende Gedanken online und im Gästebuch hinterlassen. Programmdirektorin Cilly Kugelmann und drei Kuratorinnen haben aus dem Meer an Fragen 32 herausgefiltert und eine Schau konzipiert, in der nicht Juden die Hauptrolle spielen, sondern Fragen über Juden. Ganz banale wie: 'Darf man Jude sagen?' (Na klar.) Oder: 'Darf man über den Holocaust Witze machen?' (Darf man offenbar). Oder: 'Warum lieben eigentlich alle die Juden?' Ist das so? Darauf liefert die Ausstellung keine Antwort.

Nach ein paar Tagen ist die Betonwand übersät mit rosafarbenen Zetteln. 'Ich bin ratloser als vor der Ausstellung', steht auf einem. Genau das will Kugelmanns Museum: Verwirrung stiften. Anregen. Es verlässt den Pfad der Belehrung und die gerne in Jüdischen Museen praktizierte Konvention, die Traditionen des Judentums in verstaubter Ernsthaftigkeit zu beleuchten. Es holt das Leben in seine Räume und tut etwas Unerhörtes: Es stellt lebende Juden aus, Juden zum Anfassen, zum Fragenstellen. In einem Raum steht eine Glasvitrine, in ihr sitzt jeden Tag ein Jude, immer zwischen 14 und 16 Uhr. An einem der ersten Tage trifft man dort Leeor Engländer. Wer sich mit ihm unterhält, erfährt: 'Es gibt Juden, die von Sozialhilfe leben. Es gibt Juden, die nicht in die Synagoge zum Beten gehen, sondern Tai-Chi und Yoga machen.' An einem anderen Nachmittag hat die Münchner Autorin Olga Mannheimer in der Vitrine Platz genommen. Mit einem zauberhaften Lächeln nimmt sie den Besuchern die Scheu, eine Jüdin zu fragen. Einer Frau um die 50 erklärt sie, was mit 'Bananenjuden' gemeint ist, bis die Frau sich einen Ruck gibt und fragt: 'Stimmt es, dass ein Jude, der beschnitten ist und nicht mehr Jude sein möchte, seine Vorhaut wieder annähen lassen kann?'

Koscher. Das Wort hat jeder schon mal gehört, aber weiß auch jeder, was es meint? In einem transparenten Kühlschrank stehen koschere Produkte, darunter: Ketchup, Cornflakes, Ricola-Bonbons und auch: Eine Packung Underberg-Liköre. Man erfährt, dass Sammy Davis Jr. 1955 nach einem schweren Autounfall zum Judentum übergetreten ist. Und man kann auf einem iPad Tweet-Gebete an einen Israeli in Jerusalem senden, der verspricht, die Gebete auszudrucken und in die Ritzen der Klagemauer zu stopfen.

Darf man Witze über den Holocaust machen? Anscheinend ja. An einer Wand hängt ein Comic des irischen Illustrators Dave McElfatrick. Es zeigt einen Jungen, der den Arm eines Mädchens hält, über ihnen steht: 'Das Problem, Mädchen in Konzentrationslagern zu daten, ist...' Der Junge hält den Arm des Mädchens in seiner Hand und sagt: 'Hier, ich schreib Dir einfach meine Telefonnummer auf den Arm. Ah, shit, kein Platz mehr.'

Klischees schwirren durch die Ausstellungsräume, unerhörte Sätze wie 'Juden sind an allem schuld'. Und man wird überrascht. Ein Foto zeigt ein älteres israelisches Ehepaar in ihrer Essecke Zuhause. Erst beim zweiten Hinschauen entdeckt man: Über dem Esstisch hängt ein Foto vom Eingangstor in Auschwitz. Man sieht ein handgeschriebenes Rezept für Reibekuchen, und erfährt, es stammt von Tom Franz, einem zum Judentum übergetretenen Deutschen, der gerade in Israel bei einer TV-Kochshow alle anderen israelischen Konkurrenten ausgestochen hat.

Die Besucher bekommen am Eingang zur Ausstellung Chips in die Hand gedrückt und können Klischee-Barometer damit füllen. 'Juden sind besonders...' steht über den Barometern, und auf ihnen 'tierlieb', 'geschäftstüchtig', 'schön', 'intelligent', 'einflussreich'. Ein paar Tage nach der Eröffnung liegen die meisten Jetons im Barometer 'geschäftstüchtig' und 'intelligent'. Darf eine Ausstellung rassistische Klischees instrumentalisieren? Für ein Spiel?

Es gibt Stimmen, die Ausstellung sei zu flach, zu frech, und zudem befördere es Voyeurismus, Juden in Vitrinen auszustellen. Programmdirektorin Cilly Kugelmann hat geahnt, dass solche Kritik kommt. Aber sie fürchtet sich nicht vor Kritik. Sie findet: 'Eine Ausstellung kann auch mal leicht und spielerisch sein.'

Eine Frage allerdings fehlt in der Ausstellung, räumt Cilly Kugelmann ein. Es ist die Frage, die ihr am meisten gestellt wird. Tausende Menschen hat sie in den vergangenen elf Jahren als stellvertretende Museums-Chefin kennengelernt - und noch immer ist sie erstaunt über eine Frage, die sie fast jeden Tag hört: 'Eigentlich ist es keine Frage: Viele Menschen sind immer ganz überrascht, wenn sie hören, dass nicht alle Mitarbeiter im Jüdischen Museum Juden sind.'

Das graue Eichhorn ist der Feind

$
0
0
Dies ist der 'Ort mit richtigem ehrlichen Schlamm': In der Utopie vom britischen Landleben verbinden sich aufs Merkwürdigste Ökobewusstsein, Treibjagdrausch und das konservative Rebellentum des Landadels.

Der europaweite Pferdefleischskandal hat nirgends mehr Empörung hervorgerufen als in Großbritannien. Das liegt zum einen daran, dass der Verzehr von Pferdefleisch dort ähnlich beleumundet ist wie der von Hundesteak - er erscheint vielen kaum weniger verwerflich als Kannibalismus. Zum anderen ist der Fund von Pferde-DNA in angeblichen Rindfleischprodukten Wasser auf die Mühlen derer, denen ein internationalisierter Lebensmittelmarkt ein Dorn im Auge ist: Man kritisiert, wie andernorts auch, die Industrialisierung der Fleischproduktion und die kaum mehr nachzuvollziehenden, langen Transportwege als unerträgliche ökologische Belastung. Man empfindet Fleischfabriken auf dem Festland als Hauptbedrohung der Existenz lokaler Produzenten. Vor allem aber fühlt man sich durch die Fehldeklarierung von Pferdefleisch bestärkt im Verdacht, dass ausländischen Nahrungsquellen grundsätzlich nicht zu trauen ist - schon gar nicht, wenn das Produkt aus Frankreich kommt.


Die "Countryside Alliance" ist gegen die Hetzjagd von Füchsen

Das umreißt ganz gut die Haltung jener Bewahrer eines 'British Way of Life', den sie mit einem Ideal ländlich-idyllischen Lebens identifizieren. Viele dieser Freunde des Ländlichen sammeln sich im Interessenverband der 'Countryside Alliance'. Die nach eigenen Angaben rund 100 000 Mitglieder starke Organisation verleiht jedes Jahr die so genannten 'Rural Oscars'. Der Preis, eine massive Messingplakette, ist als 'Feier ländlichen Lebens, ländlicher Produkte und Gemeinschaften' deklariert. In diesem Jahr wurde unter anderem eine Farm in Devon ausgezeichnet für ihre 'Förderung des Erbes regionalen Essens und ihre Unterstützung von Bauernhöfen in Familienbesitz, die seit Generationen das Fundament unserer ländlichen Gemeinden und Landschaften bilden.' Andere Gewinner waren eine Metzgerei, die seit 100 Jahren den Ort Glossop in Derbyshire mit Fleisch versorgt, sowie die Fotografin Kay Thompson, die vornehmlich Bilder von Jagdhundrudeln macht.

Mit Thompsons Lieblingsmotiven nähert man sich dem ursprünglichen Daseinsgrund der Countryside Alliance, gegründet 1997. Sie ist eine Lobbygruppe gegen das Verbot der Treibjagd: Der 'Hunting Act' von 2004 untersagt die Hetzjagd von Füchsen mit Hunderudeln. Diese Jagdform wird von Teilen der Landbevölkerung als besonders traditionsreich und bewahrenswert verehrt.

Siegfried Sassoon beschreibt den Rausch der Treibjagd im autobiografischen Roman 'Memoirs of a Fox-Hunting Man' (1928), in dem der Ruf 'Hoick-holler, Hoick-holler!' die Hunde zum 'Ausbruch von Gebell' reizt: 'Bald rasten sie begeistert durchs Dickicht. Und dann hörte ich zum ersten Mal jenes Geräusch, das Generationen von Fuchsjägern bis ins Mark erregt hat. Drüben vom Wald kam das lange, schrille Kreischen, welches anzeigt, dass einer der Treiber den Fuchs aus der Deckung hat kommen sehen. Aber noch bevor ich mir einen Begriff von seiner Bedeutung machen konnte, war Lord Dumborough schon losgaloppiert, und der Rest eilte ihm nach, als sollte nichts sie aufhalten.' Hier werden Pferde geritten, nicht gegessen.

Oscar Wilde fasste das trockener zusammen: 'Der englische Country Gentleman, der einem Fuchs hinterher galoppiert - das Unsägliche auf der Jagd nach dem Ungenießbaren.' Doch für die Mitglieder der Countryside Alliance gilt der 'blood sport' als Inbegriff englischen Landlebens, natürlicher Forstpflege und Tradition. Dahinter steht zunächst das Beharren auf uralten Privilegien: Die Jagd als Privatvergnügen der Reichen und Mächtigen, die auf ihrem Grund und Boden tun können, was sie wollen. Aber im Fetisch der Treibjagd manifestiert sich zugleich eine umfassendere Verlangen nach der vermeintlichen Stabilität geordneter früherer Verhältnisse, als die Untergebenen noch freudig ihre Rollen als Treiber und Hundeführer spielten.

Es ist die Tory-Utopie, die im TV-Landhaus 'Downton Abbey' ihren Wallfahrtsort gefunden hat: In der von Julian Fellowes erdachten Märchenwelt sind die Diener der Herrschaft zutiefst dankbar, weil sie ihnen Lohn und Brot gibt. Die Familie des in 'Downton Abbey' residierenden Earls sieht es ihrerseits als Pflicht an, für das einfache Volk und das Gut zu sorgen. Im Vergleich dazu war die Siebzigerjahre-Seifenoper 'Das Haus am Eaton Place' eine differenzierte Geschichtsbefragung.

Ebenso wichtig ist die Sehnsucht nach Entschleunigung, dem einfachen Leben und der Identifizierung mit Heim, Scholle und einer überschaubaren Gemeinschaft anspruchsloser Selbstversorger. 'Downton Abbey'-Autor Fellowes spricht vom Dorf 'Welt, in der die individuelle Stimme noch gehört werden muss, wo der individuelle Wunsch respektiert werden kann, wo die Verwirklichung des individuellen Traums angestrebt werden darf.' Selbst altmodischer Ansichten sonst unverdächtige Autoren wie Jeanette Winterson lobt die 'Farmer, Hufschmiede, Strohdachdecker und Wildhüter, die die unsichtbare Arbeit tun, damit wir das genießen können, was für viele die Quintessenz Englands darstellt. Menschen, die für eine Daseinsform stehen, in der Geld nicht alles ist, in der andere Werte noch wichtig sind.'

In der hoch-individualistischen Haltung des 'agricultural exceptionalism', der Ausnahmestellung ländlicher Lebensart, vermischen sich unvereinbare Sichtweisen: Vehemente Vertreter einer ökologischen nachhaltigen Landwirtschaft der kurzen Wege, die wissen, woher ihr Rindfleisch kommt, weil sie das Rind selbst zum Schlachter gebracht haben, schimpfen auf steigende Benzinpreise, die standesgemäßes Fahren ihrer nicht umweltfreundlichen Geländewagen immer kostspieliger machen. Sie stemmen sich gegen den Ausbau des Straßennetzes, damit nicht noch mehr Land unter Asphalt verschwindet. Sie ziehen den Neubau von Atomkraftwerken jederzeit der Windkraft vor, weil die Windräder die Landschaft verschandeln. Sie wollen Artenvielfalt, besonders liegen ihnen einheimische Vogelarten am Herzen. Die aus Amerika eingewanderten grauen Eichhörnchen sollen aber als fremde Schädlinge ausgerottet werden.

Da vermischt sich aufs Merkwürdigste die Vorstellung ökologischer Reinheit mit einer von Daily Mail und rechtspopulistischen Parteien wie der UK Independence Party befeuerten Angst vor illegalen Einwanderern. Eine Angst, die graue Nager und 'ausländische Wohlfahrtsschmarotzer' gleichermaßen umfasst.

Sie sind keine geborenen Rebellen, diese Menschen in schlammbespritztem Tweed voller Hundehaare und grünen Gummistiefeln, dem Einheitslook des Landadels, in dem auch die Queen sich am wohlsten fühlt. Doch wenn sie ihren way of life angegriffen sehen, entwickeln sie eine erstaunlich subversive Energie. Die Countryside Alliance organisierte 2004 eine große Demonstration in London, die überraschend schnell in Gewalt umschlug - darin der McDonald"s-Filialen zertrümmernden 'Confédération paysanne' im beargwöhnten Frankreich nicht unähnlich.

Führende Alliance-Mitglieder wie der pensionierte Generalleutnant Sir Barney White-Spunner beschweren sich nicht nur regelmäßig über den 'lächerlichen Hunting Act', der 'unsere Freiheit so unerträglich beschneidet.' Sie weisen auch auf das handfeste Problem der schwindenden Infrastruktur auf dem Land hin: 'Wir haben ein Fünftel unserer Postämter verloren und 600 Tankstellen, und wenn wir jagen gehen, droht uns eine Festnahme im Morgengrauen', klagt White-Spunner.

Man könnte meinen, diese Ruralisten seien eine antimoderne Bewegung. So einfach ist es nicht. Eine stabile Versorgung mit Breitband-Internet steht ebenso hoch auf der Prioritätenliste wie die Erhaltung verträumter Postämter. Denn viele derjenigen, die sich für das simple life einsetzen, verdienen das Geld, das sie für ihren zweiten Wohnsitz in den Cotswolds benötigen, in der Londoner City. Zu diesem Lebensstil gehört es, dass man sonntags nicht nur die Pferde striegelt und Fasane schießt, sondern dabei auch jederzeit checken kann, wie sich die Hegde-Fonds entwickeln.

Für die Verbindung des festen Glaubens fuchsjagender Banker an die Kraft der globalisierten Märkte mit dem Traum unverfälschter Ländlichkeit steht niemand augenfälliger als Premierminister David Cameron. In einem Gastbeitrag für das Countryside Alliance-Magazin preist er die Grafschaften als 'Ort mit richtigem ehrlichen Schlamm, einem echten Gemeinschaftsgefühl und unglaublich hart arbeitenden Menschen, die etwas aus ihrem Leben machen wollen.' Die Landwirtschaft, die de facto großenteils ohne Subventionen der verhassten EU gar nicht aufrecht zu erhalten wäre, ist laut Cameron 'das, was Großbritannien groß macht': 'Sie ist Teil unserer nationalen Seele, wichtig nicht nur für Landschaftspflege, Tourismus und Agrarwirtschaft, sondern auch für unsere Identität und unser Wohlbefinden.'

Eine Art der Selbstversicherung, die kürzlich durch eine fiktive nationale Ikone einen unverhofften Schub erhielt: Der James-Bond-Film 'Skyfall' ist nicht nur nach dem Landsitz in den schottischen Highlands benannt, in dem Bond seine Jugend verbrachte. Der Film erlebt dort auch seine dramatische Klimax. Nachdem sein (angemessen fremdländischer) Antagonist Silva es geschafft hat, in der Metropole London die Geheimdienstzentrale in die Luft zu jagen, stellt Bond sich hier, in ländlicher Abgeschiedenheit, zum letzten Gefecht. Nur mit ein paar Jagdflinten, Gaskartuschen und seinem alten Aston Martin gewappnet, besiegen 007 und der väterliche Wildhüter Kincade eine Armada bis an die Zähne bewaffneter Bösewichter.

So bildgewaltig ist das robuste Ideal selbstgenügsamer britischer Ländlichkeit noch nie gefeiert worden. Gäbe es den 'Skyfall'-Bond wirklich, die Countryside Alliance hätte ihm längst eine Ehrenmitgliedschaft angetragen.

Gegenwind aus allen Richtungen

$
0
0
Das Vorgehen des Gerichts bei der Akkreditierungsvergabe für den NSU-Prozess löst europaweit Empörung aus.

Das Oberlandesgericht (OLG) München wird im In- und Ausland dafür kritisiert, wie es den NSU-Prozess angeht. Unter anderem wirft jetzt auch die EU-Kommission dem Gericht vor, jedes Gespür fehlen zu lassen. Justizkommissarin Viviane Reding sagte der Süddeutschen Zeitung, die Vergabe der Medienplätze für das Verfahren sei 'suboptimal gelaufen'. Sie könne 'gar nicht verstehen, dass man überhaupt eine Diskussion über diese Frage entstehen ließ'. Es sei doch 'das Normalste von der Welt, dass ausländische Medien, erst recht aus Ländern mit Betroffenen, dem Prozess beiwohnen wollen', sagte Reding. Der Menschenrechtskommissar des Europarats, Nils Muiznieks aus Lettland, nannte die Entscheidung des Gerichts 'schwer verständlich'.


Für türkische Medien ist während des NSU Prozesses bisher kein Platz

Wie berichtet, sieht sich das OLG außerstande, Reportern aus Griechenland und der Türkei - den Herkunftsländern der Ermordeten - feste Plätze im Saal zur Verfügung zu stellen. Es gibt dort nur 50 Journalistenplätze, und Medien aus den beiden Ländern waren nicht unter den ersten 50, die sich akkreditierten. Eine Übertragung des Prozesses in einen zweiten Saal lehnt das Gericht ab.

Kritik gibt es auch von der Bundesregierung, wenngleich überwiegend verpackt in verklausulierte Formulierungen - die Regierung will erkennbar nicht den Eindruck erwecken, die Unabhängigkeit der dritten Gewalt in Frage zu stellen. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte in Berlin, 'die Hoffnung muss sein', dass mit dem großen Medieninteresse in Griechenland und der Türkei 'auch sensibel umgegangen wird'. Sein Kollege vom Auswärtigen Amt, Martin Schäfer, ergänzte, es wäre 'schön', wenn Journalisten aus den beiden Ländern 'angemessen berichten können'. Wie dies geschehen könne, sei aber Sache der Justiz. Die einzige Regierungspolitikerin, die sich am Mittwoch äußerte - und dies sogar deutlich -, war die für Integration zuständige Staatsministerin im Kanzleramt, Maria Böhmer (CDU). Plätze für griechische und türkische Medien seien 'unverzichtbar', sagte sie. 'In diesem Fall schaut die ganze Welt auf Deutschland.'

In der Türkei und auch in der Türkischen Gemeinde in Deutschland löst das Vorgehen des Gerichts nicht nur Befremden aus. Es machen sich auch pauschale Verdächtigungen breit. 'Gerechtigkeit nach deutscher Art!', titelte die Tageszeitung Milliyet am Mittwoch; noch heftiger wurde der Ehrenvorsitzende der Türkischen Gemeinde, Hakki Keskin. Hier zeige sich 'nicht nur fehlende Sensibilität, sondern eine bewusste Ignoranz, ja Diskriminierungspolitik gegen Deutschlandtürken und gegen die Türkei, die in Teilen der Gesellschaft, Politik und Justiz seit Jahrzehnten' zu beobachten sei, sagte Keskin. Er war bis 2009 Bundestagsabgeordneter der Linken.

Einen Vorschlag wiederum machte der hessische Justizminister Jörg-Uwe Hahn (FDP). Er schrieb am Mittwoch einen Brief, der an seine bayerische Amtskollegin Beate Merk (CSU), das Münchner Gericht sowie die Intendanten von sieben öffentlich-rechtlichen Sendern ging. Hahn formulierte, 'mit Erstaunen' habe er wahrgenommen, dass auf der Liste der 50 akkreditierten Medien 'gleich sieben' öffentlich-rechtliche Sender stünden: BR, NDR, SWR, MDR, WDR, Deutschlandradio und ZDF. Er schlage vor, dass zwei Anstalten 'in Absprache mit dem Oberlandesgericht' ihre Plätze türkischen Medien zur Verfügung stellten. Das wäre ein 'besonderes Zeichen der Solidarität', schrieb Hahn.

Reaktionen dazu lagen bisher nicht vor - allerdings verbreitet das Gericht den Eindruck, von derlei Ideen nichts zu halten. Mehrere Medien hatten angeboten, ihre Akkreditierung zurückzugeben, die Bild-Zeitung bot nach eigener Darstellung an, ihren Platz den Kollegen von Hürriyet zu überlassen - aber Gerichtssprecherin Margarete Nötzel sagte, ein solcher Tausch sei nicht möglich. Eine Sichtweise, die Grünen-Chef Cem Özdemir offenbar nicht teilt: 'Ich habe so das Gefühl, da wird sehr stark nach den Paragrafen geschaut', sagte er dem Hessischen Rundfunk. Das sei bei einem Gericht auch richtig, aber: 'Herz und Empathie sind ja nicht illegal.'
Viewing all 3345 articles
Browse latest View live