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Im Süden spielt die Musik

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Der Verband Society of Musik Merchants (Somm) hat die Musikalität der Deutschen genau unter die Lupe genommen. Er hat beispielsweise herausgefunden, dass Schwaben besonders gerne musizieren.

Ein Musikinstrument spielen zu können, dies steht ganz oben auf der Wunschliste vieler Deutscher. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Zwar findet sich in jedem dritten Haushalt mindestens ein Instrument, aber wirklich gespielt wird nur in jedem sechsten. 'Eigentlich müssten 14,5 Millionen Bürger tatsächlich Musiker sein', fasst Joachim Stock zusammen. Sein Verband Society of Musik Merchants (Somm) nimmt die Musikalität der Bürger genau unter die Lupe. Zum Start der Frankfurter Musikmesse weist ein neuer Musizieratlas für Deutschland aus, wo die meisten Musiker zu Hause sind.

Auf Platz eins rangieren die Schwaben, denn in jedem vierten Haushalt in Baden-Württemberg wird musiziert. Bremen, Bayern und das Saarland folgen auf den nächsten Plätzen. Beachtlich ist demnach das Nord-Süd-Gefälle bei Klavier, Geige oder Flöte. Im Süden der Republik gibt es weit mehr Kapellen und Musikvereine, mehr Menschen nehmen privaten Musikunterricht.


Besonders Saiten- und Tasteninstrumente bringen viel Umsatz

Stock hält es auch seinem Verband zugute, dass eine Umsatzsteuer für private Musikschulen im Herbst gerade noch abgewendet werden konnte. Aber in den normalen Schulen stehe Musik häufig nicht mehr auf dem Lehrplan oder falle einfach aus. 'Vielen Schülern wird der professionell begleitete Erstkontakt mit Instrumenten verwehrt', kritisiert der Musik-Lobbyist. Verliere das Musizieren an Kraft, Energie und Akzeptanz, wäre dies ein unschätzbarer Verlust für ein Land wie Deutschland.

Dabei können sich die Hersteller von Musikinstrumenten nicht generell beklagen. Der Umsatz stagnierte im vorigen Jahr bei 919 Millionen Euro, während es in den übrigen Ländern Europas - die Eurokrise spiegelt sich auch hier wider - zu herben Rückschlägen kam. Umsatzbringer der Branche sind Tasten- und Saiteninstrumente, also vor allem Klaviere und Gitarren. Ein Dutzend Hersteller von Flügeln und Klavieren verkaufte im vergangenen Jahr etwa 9000 Instrumente, allerdings zu 70 Prozent ins Ausland.

Die Unternehmen setzen vor allem auf die USA und China. Immerhin 30 Millionen Kinder und Jugendliche erlernen in China das Klavierspiel. Dort herrscht eine westlich orientierte Musikkultur, die überdies gepflegt und gefördert wird. Das ist natürlich eine andere Größenordnung als in Deutschland. China ist weltweit auch das mit Abstand größte Herstellerland überwiegend preisgünstiger Klaviere. Aber auch hochwertige deutsche Marken haben dort ihre Liebhaber. Erst kürzlich wurde ein neues Zertifikat für deutsche Marken eingeführt, um den Absatz anzukurbeln.

Auch bei Gitarren, Geigen, Akkordeons, Mundharmonikas und Blasinstrumenten gehen die meisten Produkte ins Ausland. Noch besser als die Instrumente selbst, ist der Absatz beim Zubehör: Kopfhörer, Mikrofone, Beschallung und Kabel erreichen im Geschäft zweistellige Wachstumsraten. Das dritte Standbein der Branche sind Software für die Computer, Equipment für DJs sowie Elektronik.

Musik, das ist vor allem auch Show-Business. Modelabels wie H&M oder Louis Vuitton kommen bei ihren großen Werbekampagnen ebenso wenig ohne poppige Musikinstrumente aus wie Autokonzerne. 'Musikinstrumente sind aus unserer Gegenwart und aus unserem Alltag nicht wegzudenken', stellt Stock mit Zufriedenheit fest. Sogar beim iPod Mini dürfe ein musikalischer Eyecatcher nicht fehlen.

Für die Besucher und Musik-Fans bietet die Messe in Frankfurt nicht nur neue Trends. Da wird sogar Politik gemacht. SPD-Chef Sigmar Gabriel diskutiert unter dem Titel 'Künstler zwischen Kreativität, Technologie und Geschäftsmodell'. Eine andere Session beschäftigt sich mit der Frage 'Was können wir von Heino lernen?', weil das Schlager-Urgestein einen beispiellosen Erfolg mit den Liedern der anderen machte. Kaum überraschen dürfte, dass die Musikmesse von dort die meisten Besucher erwartet, wo auch mehr Musik gemacht wird, also aus den südlichen Bundesländern.

Für die Rock "n" Roll-Fans gibt es legendäre Gitarren und Bässe der Firmen Fender, Gibson, Gretsch und Guilt zu sehen. Und eine Roboter-Band schlägt die Brücke zur derzeitigen Industriemesse in Hannover. 2285 Aussteller zeigen ihre Musikalien vom 10. bis 13. April, die Öffnung für das allgemeine Publikum erfolgt am Freitag und Samstag.

Licht aus, Schrott an

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Einst erhellten sie Las Vegas, dann wurden sie ausrangiert. Im Neon-Museum haben Leuchtreklamen eine neue Bestimmung gefunden: Sie appellieren an die nostalgischen Gefühle der Besucher - in diesen Krisenzeiten so erfolgreich wie nie.

Leere Casinos, leere Hotels, leere Portemonnaies: Kaum eine amerikanische Stadt hat unter der Konjunkturflaute so gelitten wie das Spielerparadies Las Vegas. Und doch sahen Kulturschaffende in der Krise ihre Chance. Sie sammelten vier Millionen US-Dollar, um eine Ausstellung für Leuchtreklame aufzubauen: das Neon-Museum, geleitet von Danielle Kelly, das seit Oktober 2012 öffentlich zugänglich ist. Unter freiem Himmel türmen sich Eingangsschilder, Werbetafeln und Glühbirnen, die irgendwann einmal in der Wüstenstadt leuchteten - manche sind 50 Jahre alt.

SZ: Las Vegas ist eine Kulturwüste. Weit und breit gibt es keine Buchhandlung, aber Casinos lauern an jeder Ecke. Wie kann Ihr Museum da mithalten?
Danielle Kelly: Darüber denke ich auch oft nach. Es gibt auf jeden Fall eine sehr starke Beziehung zwischen der Populärkultur und Las Vegas. So wie sich die Stadt in den 1950er-Jahren sprunghaft entwickelt hat, nahm auch die Bedeutung der modernen Massenmedien zu. Radio und Fernsehen haben einen großen Anteil daran, dass sich der Mythos der Spielerstadt rasant verbreitet hat. Dabei dürfen wir aber auch nicht vergessen, dass Las Vegas eine Geschichte außerhalb von Casinochips und Kinofilmen wie 'Ocean"s Eleven' hat.


Casinos gibt es in Las Vegas reichlich

Der Mythos hat aber extrem gelitten. Das Geld zum Spielen sitzt nicht mehr locker, in der Stadt leben 100000 Obdachlose. Da wagen Sie eine Neueröffnung?
Es stimmt natürlich, dass gerade die Hotelbranche sehr zu kämpfen hat. Die versuchen mit Kampfpreisen, ihre Zimmer zu füllen. Für uns aber war die Wirtschaftskrise gut. In Boom-Zeiten hätten die Leute mit ihren alten Neonschildern wahrscheinlich noch Geld machen können. Aber seit der Markt dafür eingebrochen ist, bekommen wir sie vermehrt gespendet. Und selbst im Hinblick auf die Besucherzahlen haben wir von der Krise profitiert.

Wie das?
Wenn der Glamour nicht mehr im Mittelpunkt steht - und der bröckelt ja tatsächlich in den vergangenen Jahren -, dann werden die Leute plötzlich wieder nostalgisch. Niemand will mehr das Geld zum Fenster rauswerfen, sondern etwas Sinnvolles erleben.

Der Casino-Gänger wird plötzlich zum Bildungsbürger?
Ganz so einfach ist es dann doch nicht. In Vegas gehen so viele Leute ein und aus, dass wir praktisch jedes Wochenende ein komplett neues Publikum haben. Die meisten kommen, um einfach nur Spaß zu haben, viele bleiben aber auch, weil sie die andere Seite der Stadt kennenlernen möchten. Krise hin oder her: Die Seele der Stadt wird sich dadurch nicht ändern.

Was verkörpern Ihre gesammelten Neonschilder: den Glamour oder den Verfall?
Ich sehe darin keinen Widerspruch. Für mich ist der Verfall etwas Schönes, gar Magisches, weil er verschiedene Epochen widerspiegelt. Was heute der Eingangsbereich unseres Museums ist, war früher die Lobby des bekannten La-Concha-Motels. Zusammen mit dem riesigen Schriftzug, den wir vor der Zerstörung bewahren konnten, lebt das La Concha nun in anderer Form weiter.

In anderen Museen findet man Gegenstände, die Hunderte Jahre alt sind. Woher kommt in Las Vegas die Sehnsucht nach etwas Altem, das in Wahrheit noch ziemlich jung ist?
Sich neu zu erfinden, gehörte schon immer zu den Grundgedanken der Amerikaner. In Vegas ist der Kontrast zwischen Altem und Neuem besonders stark, weil wir eine sehr junge Stadt sind. Selbst die Neon-Ente aus den 1970er-Jahren wirkt hier wie eine griechische Statue. Las Vegas hat in so kurzer Zeit so viele Phasen mitgemacht, dass einem schwindlig werden kann: Erst war es die Stadt der Sünde, dann eine Mafia-Hochburg und irgendwann sogar mal ein Ort für den Familienurlaub.

Und heute?
Heute ist das Mysteriöse ein bisschen verloren gegangen, was man auch an der Leuchtreklame erkennt. Am Strip, dem Las Vegas Boulevard, an dem sich die meisten großen Hotels und Casinos befinden, dominieren riesige LCD-Wände, vollgestopft mit Texten und bewegten Bildern. Früher waren die Schilder indirekter, mysteriöser, nicht nur ein Mittel zum Zweck. Heute geht es nur noch darum, möglichst viele Informationen zu vermitteln und die Leute nach drinnen zu locken.

Den Zweck hatten die historischen Schilder doch auch.
Klar, aber eben nicht auf eine derart aufdringliche Weise. Neon regt an, macht neugierig - genau darauf gründet sich die Entwicklung der Stadt. Der heutige Strip war früher nichts anderes als ein gewöhnlicher Highway. Dann kam die Legalisierung des Glücksspiels, nach der die blinkende Reklame aus dem Boden spross. In den 1950er-Jahren kamen viele Leute extra nach Vegas, um die Atombombentests in der Wüste Nevadas zu beobachten. Damit ließen sich noch mehr Casinogäste anlocken.

Wen spricht Ihr Museum an?
Das ist schwer zu sagen. Wenn man durch unsere Ausstellung geht, ist das, als lese man ein Buch mit verschiedenen Kapiteln: Geschichte, Architektur, Design, aber auch Popkultur und persönliche Erinnerungen. Wenn die Besucher die alten Casino-Schilder sehen, blicken sie auf ihre eigenen Roulette-Runden zurück. Oder sie denken daran, wie sie sich in Vegas trauen und kurz danach wieder scheiden ließen. Da wird es richtig sentimental, die Leute weinen ständig bei der Tour.

Was tun Sie, um den Verfall Ihrer Kollektion zu verhindern?
Die Stadt allein ist die perfekte Umgebung für die Exponate. Die Luft ist trocken, es regnet wenig und viele Schilder sehen noch heute aus wie frisch gestrichen. Man darf nicht vergessen, dass die Reklame von Anfang an dazu gedacht war, jahrelang draußen zu leuchten. Trotzdem suchen wir nach Wegen, wie man die Schilder langfristig erhalten kann. Da stehen wir aber noch ganz am Anfang.

Sollen am Ende alle wieder blinken?
Überhaupt nicht! Viele Besucher wollen die Schilder genauso sehen, wie sie sind. Das müssen wir respektieren. Einer antiken Statue setzt man doch auch keinen Kopf auf, nur weil er da hingehört.

Und wenn den Besuchern ein bestimmtes Schild so sehr am Herzen liegt, dass sie es restaurieren möchten.
Dann sind wir die Letzten, die etwas dagegen haben. Mit Hilfe von Spendern haben wir die 15 wichtigsten Schilder restaurieren können; das hat 2,5 Millionen Dollar gekostet. Die erstrahlen heute wieder in vollem Glanz und sind durch eine Glasabdeckung vor der Witterung geschützt. Wenn also jemand 100000 Dollar übrig hat, um ein Schild wieder zum Leben zu erwecken - nur zu! Wir sind hier schließlich in Vegas.

Es tut sich was in Washington

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Eine Reform der US-Waffengesetze rückt näher, zumindest debattiert der Senat jetzt

Michelle Obama beißt sich auf die Unterlippe. Die First Lady kämpft mit den Tränen, wieder und wieder bricht ihre Stimme, da sie von Hadiya Pendleton erzählt: Von jenem 15-jährigen Mädchen aus Chicago also, das Mitte Januar bei der präsidentiellen Vereidigung ihres Ehemanns Barack noch als fröhliche Majorette einer Musikkapelle auf Washingtons Straßen getanzt hatte und dann, nur acht Tage später, vor ihrer High School von einer Pistolenkugel in den Rücken getroffen und ermordet wurde. Michelle Obama hat im Februar an der Trauerfeier für Hadiya teilgenommen, hat ihre Eltern, ihre Freunde getroffen. Und sie hat sich, wie in einem Spiegel, selbst erkannt.


Michelle Obama gibt sich emotional, während sie Rede hält

Eigenartig vertraut habe sie sich mit den Pendletons gefühlt, 'bis mir klar wurde, dass Hadiyas Familie einfach wie meine Familie war'. Eine schwarze Familie, die - wie einst Michelles Eltern - mit harter Arbeit und viel Gottvertrauen sich durchzukämpfen versucht auf Chicagos berüchtigter South Side. Auf dass die Kinder es, trotz aller Armut und Gewalt auf der Straße, irgendwann mal besser hätten. Wieder wallen in Michelle Obama die Gefühle: 'Hadiya Pendleton war ich, und ich war sie.' Dann, nach einer kurzen Atempause, erinnert Obama an den Unterschied: 'Ich durfte erwachsen werden', an Elite-Unis studieren, Karriere machen, eine Familie gründen. 'Und Hadiya, naja, wir alle kennen die Geschichte.'

Michelle Obamas bewegende Rede hat für Aufsehen gesorgt. Im Fernsehen, in den Zeitungen, auf Youtube. Denn die First Lady verband ihren Auftritt in Chicago, bei dem sie vor reichen Gönnern für einen Fonds zur Bekämpfung gegen Jugendgewalt warb, mit einem eindeutigen politischen Appell: Der Kongress in Washington sei es Hadiya Pendleton und all den anderen, alljährlich mehr als 10000 Mordopfern schuldig, endlich die grassierende Waffengewalt im Lande einzudämmen: 'Wenn es auch nur ein Schritt ist, der das Leben nur eines Kindes rettet', sagte Obama, 'haben wir dann nicht die Pflicht, es zu versuchen?'

Auf Obamas rhetorische Frage haben inzwischen viele Amerikaner dieselbe Antwort: Laut Umfragen befürworten bis es zu neunzig Prozent der Bürger, fortan vor dem Verkauf von Pistolen, Revolvern oder Gewehren, den Hintergrund des potenziellen Käufers genauer zu überprüfen. Und genau auf eine solche Verschärfung der bislang sehr lückenhaften 'Background-Checks' zielt nun, vier Monate nach dem Massaker an der Grundschule von Sandy Hook, die Debatte im Kongress. Am Donnerstag wollte der US-Senat beschließen, die Debatte über die umfassendste Reform der US-Waffengesetze zu beginnen. Um die Hürde eines von einem Dutzend rechtskonservativen Senatoren betriebenen Debattenverbots (Filibuster) zu überwinden, mussten auch etliche Republikaner dem Vorstoß zustimmen.

Immerhin, diese Mehrheit zur Eröffnung der Parlamentsberatung schien gesichert zu sein. Den Weg dazu frei gemacht hatten ausgerechnet zwei Senatoren, die bislang als treue Verbündete der Waffenlobby NRA gegolten hatten. Der gemäßigte Demokrat Joe Manchin und der bislang als erzkonservativer Obama-Gegner hervorgetretene Republikaner Pat Toomey hatten nach wochenlangen Verhandlungen einen Kompromiss entworfen, der Befürwortern wie auch einigen Skeptikern verschärfter Gesetze als akzeptabler erschien. Fortan ist es nicht mehr zulässig, bei Verkäufen auf lokalen 'Gun Shows' oder im Internet die Pflicht zur Nachfrage beim zentralen FBI-Register zu umgehen, das vorbestrafte Täter oder geistig verwirrte Mitbürger auflistet. Allerdings erlaubt der überparteiliche Kompromiss weiterhin rein private Verkäufe etwa zwischen Verwandten oder Nachbarn ohne jede Überprüfung. Zudem wird Washington ausdrücklich verboten, jemals ein zentrales Waffenregister anzulegen.

Das ist also weit weniger als die von der Regierung angestrebte Reform, alle Waffenkäufe künftig 'universell zu überprüfen'. In einer Stellungnahme betonte Präsident Barack Obama deshalb auch prompt, der Kompromiss sei 'nicht mein Entwurf'. Aber Obama lobte die Einigung und muss nun hoffen, dass am Ende der nun beginnenden Senatsdebatte wenigstens etwas schärfere Kontrollen stehen werden.

Sicher ist all dies noch lange nicht. Experten prognostizieren, die Debatte im Oberhaus könne bis zu zwei Wochen dauern. Dabei dürften konservative Republikaner mit zahllosen Anträgen und Verfahrenstricks versuchen, jedwede Beschränkung des US-Verfassungsrechts auf Waffenbesitz zu hintertreiben. Zudem haben etliche der gemäßigten Republikaner wie der Alt-Senator John McCain erklärt, sie seien zwar von der Notwendigkeit einer Debatte, nicht aber von irgendeinem Gesetzentwurf überzeugt. Als weitere Hürde lauert schließlich das Repräsentantenhaus: Dort besitzen die Republikaner die Mehrheit, und nur ein klares Votum des Senats könnte wohl das Unterhaus erweichen, einem schärferen Waffenrecht zuzustimmen.

Malawi will Madonna nicht mehr dankbar sein

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Madonna fordert von dem afrikanischen Land Dankbarkeit für Hilfe, die sie anscheinend nicht erbracht hat.

Wohltätigkeit bedeutet ja nicht zuletzt: das wohltuende Gefühl, Gutes getan zu haben, ohne Erwartung irgendeiner Gegenleistung, außer vielleicht ein wenig Dankbarkeit. Das ist der Punkt, an dem es dann doch kompliziert werden kann.

Über die angemessene Dosis an Dankbarkeit sind jetzt die Popsängerin Madonna und die Regierung von Malawi aneinander geraten. Madonna, deren Berühmtheit sich nicht nur aus dem Singen von Hits wie 'Like a virgin' speist, sondern auch aus dem Wegadoptieren zweier Kinder aus ihrem malawischen Umfeld, war vergangene Woche zu Besuch in dem afrikanischen Land, und jetzt hat ihr dessen Präsidentin Joyce Banda eine öffentliche Erklärung hinterherschicken lassen. Eine der noch eher diplomatisch gehaltenen Passagen darin lautet, Madonna wolle das Land wohl 'für immer an die Pflicht zur Dankbarkeit gekettet' wissen.


Die Präsidentin Joyce Banda kritisiert Madonna nach ihrem Aufenthalt

Die seit längerem schwelenden Spannungen waren bei Madonnas Ausreise eskaliert. Am Flughafen wurde ihr keine Vorzugsbehandlung gewährt, sondern sie musste sich an der Sicherheitskontrolle in die Schlange einreihen und wurde regulär durchsucht. Madonnas Reaktion darauf inspirierte Präsidentin Banda zu dem Satz, es handle sich bei ihr um 'eine Musikerin, die meint, um jeden Preis Anerkennung gewinnen zu müssen, indem sie Staatsbeamte tyrannisiert, statt dadurch, dass sie anständige Musik auf der Bühne spielt.' Im Übrigen habe Madonna nicht, wie behauptet, zehn Schulen in Malawi gebaut, sondern lediglich bestehenden Schulen Klassenzimmer hinzugefügt. Madonna weist die Vorwürfe als 'Lügen' zurück.

'Es erstaunt uns', erklärt ihr Manager, 'dass die Präsidentin ihr Amt für die finanziellen Interessen ihrer Schwester einsetzt.' Letztere war vor zwei Jahren als Leiterin eines Schulprojekts von Madonna entlassen worden. Die Sängerin will sich nicht beirren lassen und ihre Wohltaten fortsetzen: 'Ich habe den Kindern von Malawi ein Versprechen gemacht, und ich werde dieses Versprechen halten.'

Satzung mit Siegrune

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Wenn sich Neonazis in einem Gefängnis vernetzen, schreiten die Behörden oft zu spät ein. Das in Hessen aufgeflogene Netzwerk "Ad Jail Crew" sollte sogar Uniformen tragen.

Ungebetene Post an Beate Zschäpe kam schon häufiger ins Gefängnis. Ein Zyniker schickte der mutmaßlichen NSU-Terroristin beispielsweise ein T-Shirt mit dem Aufdruck 'I love Döner'. Die Behörden fingen das Paket rechtzeitig ab, und Zschäpe ließ mit Nachdruck über ihren Anwalt mitteilen, dass sie das T-Shirt nicht bestellt habe. Über einen Internet-Versand waren noch andere Geschmacklosigkeiten unter einer, wie sich herausstellte, falschen Zschäpe-Identität bestellt worden. Was Zschäpe in Untersuchungshaft zugestellt wird, unterliegt einer Postkontrolle. Daher dürfte sie auch den Brief eines Neonazis, der aus einem hessischen Gefängnis heraus die Nähe zum NSU suchte, nie bekommen haben - falls der Brief je abgeschickt wurde.

Hinweise auf einen Kontaktversuch haben die hessischen Behörden bei einer Zellen-Durchsuchung in der Justizvollzugsanstalt Hünfeld gefunden. Der Neonazi, der Ermittlern voriges Jahr bereits eine wilde Geschichte über angebliche Kontakte zu den Terroristen erzählt hatte und der an einem Netzwerk von Neonazis in Gefängnissen beteiligt sein soll, wäre nicht der Erste, der gerne ein Bündnis mit Zschäpe schließen würde. Im Mai 2012 schickte der norwegische Massenmörder Anders Behring Breivik einen - von den Behörden beschlagnahmten - Brief an Zschäpe, in dem er sie als 'liebe Schwester' anspricht und sie ermuntert, ihren Gerichtsprozess für rechtsextremistische Propaganda zu nutzen. Zschäpe hat daran aber offenbar kein Interesse. Ihre Verteidiger sind keine Anwälte aus der Neonazi-Szene, und bisher sieht es so aus, als werde Zschäpe vor Gericht schweigen.
 

Beate Zschape bekam im Gefängnis schon öfters ungebetene Post

Anders als Zschäpe ist der mutmaßliche NSU-Helfer Ralf Wohlleben in seiner Untersuchungshaft recht unverhohlen als Rechtsextremist aufgefallen. Briefe an Freunde beschriftete er mit Buchstaben, die an Hakenkreuze und Siegrunen erinnern, was sein Szene-Anwalt freilich bestreitet. Als Rune ist auch der erste Buchstabe einer 'Satzung' für das in Hessen aufgeflogene Neonazi-Netzwerk mit dem Namen 'AD Jail Crew' gestaltet. Die Satzung wurde bei der Durchsuchung in Hünfeld gefunden. Sie ist einer der Hinweise dafür, dass Gefangene versuchen, eine 'braune Hilfe' aufzuziehen. Die Mitglieder sollten laut Satzung sogar Uniformen tragen.

Nach ersten Einschätzungen der Bundessicherheitsbehörden handelt es sich nicht um ein klassisches Netzwerk, auch um keine Nachfolgegruppe der 2011 verbotenen 'Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene' (HNG). Das Bundesinnenministerium erkunde derzeit, was es mit den Kontaktversuchen auf sich habe, hieß es in Sicherheitskreisen. Geprüft werde auch, ob Hessen den Bund und andere Länder zeitnah informiert habe. Im 'Gemeinsamen Abwehrzentrum Rechts', in dem Vertreter von Polizei und Verfassungsschutz des Bundes und der Ländern kooperieren, ist das Thema angeblich vorige Woche zur Sprache gekommen.

Wenn sich Neonazis in Gefängnissen vernetzen, schreiten die Behörden mitunter zu spät ein. Das wurde zuletzt im NSU-Untersuchungsausschuss deutlich: Ein V-Mann des Brandenburger Verfassungsschutzes war Mitte der Neunzigerjahre offenbar beteiligt an Umtrieben in einem Gefängnis. Das Innenministerium in Potsdam vermerkte damals, es sei bekannt, dass sich Rechtsextremisten in 'Knast- und Kerkerkameradschaften' organisieren würden. In einer aktuellen Antwort auf eine Anfrage der Linken teilt die Bundesregierung mit, nach dem HNG-Verbot sei die Szene bestrebt, die Betreuung von Neonazi-Straftätern 'aufrechtzuerhalten'.

Hessens Justizminister Jörg-Uwe Hahn (FDP) wies Vorwürfe der Opposition zurück, er habe zu spät über die Vorfälle in Gefängnissen informiert. Es habe Ende vorigen Jahres 'ein Bauchgefühl' gegeben, 'aber nichts Belegbares', sagte Hahn im Deutschlandfunk. Nicht nur in Hessen beteiligten sich Neonazis an dem neuen Netzwerk. Auch in einem niedersächsischen Gefängnis soll jetzt ein Mitglied enttarnt worden sein. In Bayern sollen mehrere Gefangene in drei Justizvollzugsanstalten Kontakt zu dem Netz gehabt haben, teilte ein Sprecher des Justizministeriums in München mit.

Für 33 Euro nach Amsterdam

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Lufthansa stellt zum 1. Juli den Europaverkehr auf Germanwings um. Die Änderungen bei Kurzflügen im Überblick.


Die beiden Manager mussten sich mehrmals umdrehen. Während sie in der Frankfurter Lufthansa-Zentrale ihr neues Konzept für Kurzstreckenflüge vorstellten, sollte hinter ihnen werbewirksam ein Airbus der Billigtochter Germanwings anrollen; in neuer Bemalung und als Zeichen für den großen Neustart. Doch irgendwie tauchte der nicht so auf wie geplant.

Das Missgeschick sei selbstverständlich nicht als Zeichen zu werten, betonten Lufthansa-Vorstand Carsten Spohr und Germanwings-Chef Thomas Winkelmann. Zum 1. Juli führt Germanwings im dezentralen Verkehr das neue Tarifsystem ein, ab dem heutigen Freitag sind die Flüge erstmals buchbar. Für Kunden bedeutet das: Germanwings führt Basis-Tarife ein, die ab 33 Euro pro Strecke zu haben sein sollen. Wer so ein günstiges Ticket bucht, muss an Bord für Essen und Getränke allerdings extra bezahlen. Auch kostet es zusätzlich Geld, wenn Reisende ihr Gepäck aufgeben wollen.



Der gesamte dezentrale Flugverkehr in Europa soll stückchenweise von Lufthansa auf seine Billigtochter Germanwings übertragen werden.

Mit dem Umbau sollen Spohr und seine Leute im Passagierfluggeschäft bis 2015 das Ergebnis um 900 Millionen Euro verbessern, um nicht nur wie 2012 keine Verluste mehr zu schreiben, sondern wieder eine Gewinnmarge zu erwirtschaften. Das wichtigste Einzelprojekt ist dabei für die Kunden sehr einschneidend: Der gesamte dezentrale Verkehr, also alle Strecken außerhalb der Drehkreuze in Frankfurt und München, wird stufenweise von der Lufthansa auf den Billigableger Germanwings verlegt. Der Umbau hin zur neuen Fluglinie Germanwings wird sich in Etappen vollziehen. Stuttgart ist der erste deutsche Flughafen, der bereits jetzt vollständig von Germanwings bedient wird. Ende März sind die ersten Strecken in Hamburg hinzugekommen, bis Mai sollen es insgesamt 16 Verbindungen werden. Als Nächstes folgt im kommenden Winterflugplan der Standort Berlin, an dem Lufthansa zuletzt damit gescheitert war, einen eigenen Preis- und Streckenplan einzuführen. 2014 wird dann auch der Standort Düsseldorf auf Germanwings übergehen, abgesehen von Frankfurt und München ist das die größte Basis des Konzerns. Mehr als 80 Flugzeuge soll die neue Einheit dann betreiben - die 36 Jets der alten Germanwings, 25 Airbusse der Lufthansa sowie Regionalmaschinen der Konzerntochter Eurowings.

Der Übergang der Kurzstrecken auf Germanwings hatte vor allem bei Vielfliegern, die um ihren Miles-and-More-Status und die damit verbundenen Annehmlichkeiten fürchteten, für Aufregung gesorgt, zumal in einigen Bereichen tatsächlich eine Verschlechterung drohte. Spohr räumte ein, dass man nicht genug auf Kunden gehört habe - der Umbau sei schuld, er habe viele bei Lufthansa abgelenkt. Beschwert hatten sich vor allem Passagiere mit Frequent-Traveller-Status, weil sie ursprünglich nur noch Warte- Lounges besuchen hätten dürfen, wenn sie Tickets der teuersten Germanwings-Kategorie ('Best') gekauft hätten. Das hat Lufthansa nun noch vor dem Start aufgegeben. Auch wer die Kategorie 'Smart' bucht, darf nun vor dem Flug Zeit in der Lounge verbringen. Der 'Smart'-Tarif entspricht ungefähr der heutigen Lufthansa Economy Class, Flüge gibt es ab 53 Euro pro Strecke. Für Reisende mit den günstigsten 'Basic'-Tickets sind die Lounges tabu. Ausgenommen sind Kunden aus dem elitären Senator-Kreis und die Mitglieder des 'HON-Circle', also alle, die jedes Jahr besonders viel Zeit im Flugzeug verbringen.

Lufthansa hat auf den Nebenstrecken, die jetzt neu organisiert werden, Verluste von bis zu etwa 300 Millionen Euro jährlich angehäuft. Da auch die Margen im einst so profitablen Langstreckengeschäft immer deutlicher abnahmen, kann sich das Unternehmen das längst nicht mehr leisten.

Auch in den Fliegern ändert sich bei Lufthansa von Mai an vieles: Die Fluggesellschaft will ihr Catering aufwerten, dafür wird das Einweg-Plastikgeschirr abgeschafft; künftig wird es wieder einen Teller und eine Kaffeetasse aus Porzellan geben. Dass diese keinen Henkel habe, sei auch keine Sparmaßnahme, sagte Spohr. Sondern Design. Der Konzern will auch die Serviceabläufe vor allem auf Langstreckenflügen überarbeiten. Bislang mussten selbst die Passagiere der exklusiven Business Class mitunter Stunden warten, bis die Kabinenbesatzung mit dem Mittagessen vorbeikam. Bald sollen die Passagiere bis zu einem gewissen Grad selbst bestimmen dürfen, wann sie essen wollen. Bei der Konkurrenz sind solche flexiblen Konzepte längst üblich, ebenso Sitze, die sich in ein komplett flaches Bett umbauen lassen. Lufthansa lässt diese erst jetzt einbauen.

All die Verbesserungen können nicht darüber hinweg täuschen, dass die Fluggesellschaft in den kommenden Jahren nicht wachsen wird. Die Flotte wird bis 2015 bei 400 Maschinen konstant gehalten, ursprünglich sollten es in zwei Jahren 40 Jets mehr sein. Zwar übernimmt Lufthansa neu bestellte Flugzeuge wie geplant, aber ältere Muster wie die Boeing 737 werden bis 2015 und damit schneller als geplant ausgetauscht.

Die neue Germanwings-Maschine hat am Donnerstag schließlich noch den Weg gefunden. Der Pilot hatte sie versehentlich außer Sichtweite geparkt.

Ein Wimpernschlag genügt

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Die Menschen brauchen keine Geräte mehr, sie brauchen die Dienstleistung via Internet, die auf winzige Anreize reagiert. Das soll die "Google Glass" ermöglichen.

Marc Andreessen ist eine Legende des Internetzeitalters. Der massige, heute 41-jährige Informatiker, zündete 1993 den Brandsatz, der half, das Internet zu der beherrschenden Technik zu machen, die es heute ist: Er und ein Freund entwickelten den ersten massentauglichen Internetbrowser. Das Geschäft damit funktionierte nur ein paar Jahre, aber da war Andreessen längst Millionär und woanders. Seine Risikokapitalfirma investierte in Firmenneugründungen wie Facebook, Twitter und einige andere. Nun hat der Internetpionier ein neues Zukunftsfeld ausgemacht: Zusammen mit dem Konkurrenten Kleiner Perkins - einst der Geldgeber von Google - und dem Risikokapitalzweig von Google tat er sich zusammen, um Geld in Projekte rund um eine Brille zu stecken.

Google Glass ist natürlich nicht irgendeine Brille, sondern ein hochtechnisiertes elektronisches Gerät, das die Realität mit einer virtuellen Ebene überlagern soll. Ausgewählten Bewerbern sollen schon bald Prototypen zur Verfügungen gestellt werden, damit diese die nötigen Dienste und Programme entwickeln können. Denkbar ist, dass einem auf die Glasscheibe Hinweise eingeblendet werden, wie man von A nach B oder zur nächsten U-Bahnstation kommt. Die Brille wird auch Bilder schießen können, wenn man mit dem Augenlid dazu den Befehl gibt, sie wird Videos aufzeichnen - eigentlich all das tun, was auch ein Smartphone kann. Nur dass es keines ist. Und genau darum geht es.



Der Google-Gründer Sergey Brin mit der "Google Glass". Das Gerät soll für den Nutzer die Realität mit der virtuellen Welt verschmelzen.

Man benutzt Smartphones nicht, weil man das unbedingt genau so haben will. Sie sind vielmehr Vehikel für etwas Größeres: für die mobile Nutzung des Internets. Es sind Vehikel, von denen man annehmen darf, dass ihre Zeit begrenzt sein wird. Interpretiert man sie als persönlichen Kommunikator, dann wäre der beste Kommunikator doch einer, der nicht kaputtgeht, wenn man ihn aufs Pflaster fallen lässt, und den man nicht im Taxi liegen lassen kann. Weil es ihn gar nicht mehr als Gerät gibt, sondern als eine Dienstleistung, die man - egal wo - abruft. Die Geräte selbst werden dabei immer mehr in den Hintergrund treten, werden ersetzt von immer kleineren Bauteilen, die in der Kleidung verschwinden.

Es wird dann kaum mehr nötig sein, mit den Fingern auf einem Bildschirm herum zu schmieren. Die Geräte müssen auch gar nicht mehr so viel leisten wie ein heutiges Smartphone. Die Intelligenz wird in der Umgebung stecken, wo winzige Sensoren gewaltige Rechenzentren mit Daten füttern und die persönlichen Geräte bloß noch das Ergebnis abrufen müssen. Sie werden dies auf unseren Wink hin tun, sie werden auf Fragen reagieren und an unserem Gesichtsausdruck erkennen, ob uns etwas gefällt oder nicht - allesamt Techniken, an denen längst gearbeitet wird und deren Vorboten man schon kaufen kann.

Autos der Oberklasse blenden auf die Frontscheibe ein, welche der drei Abzweigungen die richtige ist, überwachen mit Kameras im Fahrzeug, ob der Fahrer noch wach genug ist, und programmieren dank einer Spracherkennung das eingebaute Navi fast so, als würde man in einem Taxi sitzend das Ziel angeben. Microsofts Spielkonsole Xbox oder die teuersten Fernseher von Samsung lassen sich ebenfalls mit Sprachbefehlen und mit Gesten steuern - einige Beispiele von vielen.

Die Entwicklung steht noch an ihrem Anfang, aber sie vollzieht sich so schnell wie noch keine vor ihr. Seit einigen Jahren- mit Apples erstem iPhone von 2007 als Initialzündung - ist die jüngere Generation ohne ihr internetfähiges Handy kaum noch vorstellbar. Was aber war das Bedürfnis, das so dringend gestillt werden musste, dass sich pro Jahr Abermillionen dieser ja nicht eben billigen Geräte absetzen lassen? Dass Neuvorstellungen der Branchenführer Samsung und Apple nahezu kultisch zelebriert werden? Es ist vor allem ein zutiefst menschliches: das nach Kommunikation.

Auch mit herkömmlichen Handys war es zwar schon möglich, per Kurznachrichten Kontakt zu halten, manche konnten auch schon E-Mails versenden und Internetseiten anzeigen. Den Durchbruch aber brachten zwei Dinge: Die Bedienung über berührungsempfindliche Bildschirme und die Entwicklung der sozialen Netzwerke. Die sogenannten Touchscreens sind nicht nur intuitiver zu steuern als konventionelle Geräte mit Tastatur oder Stift, die verfügbare Bildschirmfläche ist auch größer - und groß genug kann die kaum sein, wie die Entwicklung der jüngsten Smartphone-Generation deutlich macht. Auf den brillanten und scharfen Displays lassen sich Fotos und Videos anzeigen, über Dienste wie Facebook und Twitter stehen die Nutzer in ständigem Kontakt zu ihrem digitalen Dunstkreis. Dass man mit den Geräten auch noch telefonieren kann, ist da fast schon zum Nebeneffekt geworden.

Diese Entwicklung, die ganz offenbar unaufhaltsam fortschreitet und nicht selten mit den Versprechen nach mehr Offenheit und Demokratie in Verbindung gebracht wird, birgt auch Risiken. Da sind zum einen die Datenspuren, die jeder Mensch in der digitalisierten Wert hinterlässt und die sich mit immer raffinierteren Methoden des data minings auch aus riesigen Informationsmengen herausfiltern lassen. Da ist zum anderen aber auch der seelische Druck, den die Dauerkommunikation und die niemals nachlassende Nachrichtenflut ausüben. Die Gesellschaften werden Methoden finden müssen, wie man damit umgeht. Und es werden Probleme auftauchen, die niemand vorhergesehen hat. Die Vernetzung wäre die erste Technikrevolution, die nicht auch ihre ungeahnten Schattenseiten hätte.

Vertrauenssache

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Ein Student in München, ein Hedgefonds in Malta, ein Berliner Kneipenbesitzer: Sie alle setzen auf Bitcoins. Der Kurs ist über Wochen enorm gestiegen - und nun abgestürzt. Die Geschichte eines großen Experiments.


Als die Blase platzt, bestellt sich Jens Schmelkus gerade seine zweite Apfelschorle. 'Das war fällig', sagt der 24-Jährige. 'Wenn da einer 10000 Euro reinschmeißt, dann zappelt alles.' Er starrt auf den Computerbildschirm. Zahlen, Balkendiagramme, Linien. Es geht nach unten. Niemand schmeißt rein, alle nehmen an diesem Abend raus. 266 Dollar war ein Bitcoin am Nachmittag noch wert. Nun hängt die Kurve bei 180 Dollar. Und es wird noch schlimmer.

Innerhalb weniger Stunden ist der Kurs der Bitcoins am Mittwochabend um mehr als 50 Prozent abgestürzt. Wieder einmal. Wie viele solcher Crashs Schmelkus schon erlebt hat, weiß er nicht genau. Dabei trifft ihn solch ein Kurssturz jedes Mal. Schmelkus studiert Luft- und Raumfahrttechnik in München. Und er ist Minenbesitzer. Rund um die Uhr läuft bei ihm ein Spezialcomputer, der in einem komplizierten Prozess verschlüsselte Zahlen mit unverschlüsselten Zahlen bombardiert. Macht er das so lange, bis beide Zahlenkombinationen übereinstimmen, dann ist ein Bitcoin entstanden. Mining heißt das. Digitales Geldschürfen.



Der Kurs der digitalen Währung "Bitcoins" ist mal auf Berg-, mal auf Talfahrt.

Schmelkus" Computer steht am Anfang. Am Anfang einer virtuellen Münze, für die keine Bank bürgt und die keiner Kontrolle unterliegt. Die im Netz geschaffen und gehandelt wird. Die es erst seit drei Jahren gibt - und deren Kurs in den vergangenen Wochen einer Berg- und Talfahrt glich.

Schmelkus" Computer steht aber auch am Anfang einer Geschichte, die viel über unsere Gesellschaft erzählt. Von verlorenem Vertrauen in Banken und Staaten. Von der Suche nach Verlässlichkeit. Und vom Glauben an die Technik.

Kaum war in Zypern die Teilenteignung vermögender Bankkunden vereinbart worden, sprangen an den Märkten für das virtuelle Geld die Preise in die Höhe. Ein Zufall? Wohl kaum. Vor allem Spanier, so scheint es, haben ihre Guthaben umgeschichtet. Schließlich könnte ihr Land das nächste sein, das in der Krise untergeht. Während in Zypern entsetzte Sparer auf die Straße ziehen, steigen in Spanien Google-Suchen nach Bitcoins rapide an. Zugleich werden die Apps für Smartphones, die den Handel mit Bitcoins vereinfachen, in Spanien so oft heruntergeladen wie kaum eine andere.

Der Boom der Bitcoins ist ein Misstrauensvotum gegen das internationale Finanzsystem. Das Vertrauen in Leitwährungen wie Dollar, Yen und Euro schwindet. Seit die Zentralbanken in Japan und den USA der lahmenden Konjunktur mit der Notenpresse auf die Sprünge helfen wollen, wächst weltweit die Sorge vor Vermögensverlusten. Zwar sind die befürchteten Preissteigerungen bisher ebenso ausgeblieben wie das immer wieder prophezeite Auseinanderbrechen des Euro. Doch die Angst schafft sich eine eigene Realität: In Zeiten der Geldflut und der Euro-Krise sind Bitcoins zu einer Art Fluchtwährung geworden. Eine Schöpfung der Technik und deshalb von niemandem zu manipulieren, sagen die Verfechter. Eine Spinnerei und deshalb von niemandem zu kontrollieren, entgegnen die Skeptiker.

Anders als Dollar, Yen und Euro können Bitcoins nicht gedruckt werden. Ihr Angebot ist durch den Softwarecode begrenzt, der sie geschaffen hat. Die Produktion wird automatisch bei 21 Millionen Bitcoins eingestellt. Entstanden sind bislang etwa halb so viele. Diese gezielte Verknappung der Geldmenge ist vom früheren Goldstandard inspiriert. Sie soll vor Inflation schützen. Doch es gibt auch eine technische Grenze: Je mehr Bitcoins im Umlauf sind, desto komplexer ist der Code, der eine virtuelle Münze von der anderen unterscheidet. Und desto mehr Rechner muss man am Laufen halten, um die digitalen Münzen zu schürfen - und das frisst Strom. Derzeit reicht ein Windrad, das rund um die Uhr rotiert, um den Strom für die weltweite Produktion der Bitcoins abzusichern. Bei Schmelkus fallen jährlich etwa 500 bis 600 Euro für den Betrieb seines digitalen Bergbaus an. Für ihn lohne sich das trotzdem, sagt er. Denn die Prozessoren, die Rechenherzen in seinem Computer, werden immer effizienter.

Der kometenhafte Kursanstieg der Bitcoins lockt auch Spekulanten an. Es gibt sogar schon einen Hedgefonds, der mit Bitcoins handelt und in Bitcoins gehandelt wird. Die maltesische Anlagefirma Exante vermarktet ihn als 'Investment in die Ökonomie der nächsten Generation'. Den Fonds gibt es seit drei Monaten, der bisherige Wertzuwachs: sagenhafte 1000 Prozent. Fondsmanager Gatis Elgitis hat einen günstigen Zeitpunkt gewählt, um den Bitcoinmarkt zu erschließen. Dennoch sagt er: 'Es geht uns weniger ums Geschäft als um mediale Aufmerksamkeit.' Investmentprofis wissen: Der Markt der Bitcoins ist zu klein, um dauerhaft zur Alternative zu klassischen Währungen zu werden.

Aber dieser Markt ist groß genug, um ins Visier von Hackern zu geraten. Am vergangenen Wochenende etwa kaperten Kriminelle die Computer ahnungsloser Menschen und installierten dort Schadsoftware, mit der Bitcoins produziert werden können. Als Einfalltor diente ihnen der Internettelefondienst Skype. Attacken aus dem Cyberspace hatten zuvor schon den Dienst Instawallet in die Knie gezwungen, eine Art digitale Sparkasse, die Bitcoins verwahren soll. Und ein Hackerangriff könnte auch der Grund dafür sein, dass der Kurs am Mittwoch vom Rekordhoch bei 266 Dollar binnen weniger Stunden auf 105 Dollar abstürzte. Genau weiß das niemand. Wenn eine Blase platzt, ist nur eines gewiss: der Schaden.

Bei Mt. Gox beeilte man sich am Mittwoch jedenfalls, den Eindruck zu zerstreuen, man sei Opfer eines Angriffs geworden. Das Unternehmen mit Sitz in Tokio ist so etwas wie eine Wechselstube der Bitcoins mit angeschlossenem Geldspeicher. Fast 80 Prozent der digitalen Münzen werden über die Plattform gehandelt. Die Transaktionen können rund um die Uhr aus jeder Ecke der Welt abgewickelt werden. Ein paar Klicks genügen. Wie ein Depot bei einer Bank kann man bei Mt. Gox auch sein Bitcoin-Guthaben hinterlegen. Da sollte also nicht der Eindruck entstehen, dass dieser Speicher statt mit einer gepanzerten Tür nur mit einem Fahrradschloss gesichert ist. Das Handelssystem, so teilte Mt. Gox mit, habe Aussetzer gehabt, weil es den Zufluss neuer Kunden nicht verarbeiten konnte. Das habe bei den Bitcoin-Besitzern Panik ausgelöst. Nun sollen zusätzliche Server zugeschaltet werden.

Die technische Panne hat das Vertrauen in die Bitcoins erschüttert. Zerstört allerdings hat sie es nicht. Am Donnerstagnachmittag lag der Kurs noch immer bei 146 Dollar. Vor einem Jahr war ein Bitcoin gerade einmal fünf Dollar wert.

'Es gibt immer wieder Leute, die gehen davon aus: Bitcoin wird die Welt retten', sagt der Minenbesitzer Schmelkus. 'Keine Kriege mehr und so.' Das sei natürlich Unsinn. Er selbst schürft Bitcoins, weil er sie für ein besseres Geldsystem hält, das den Austausch vereinfacht. Fasziniert sei er von der Technik. Klar, nun da der Kurs so stark angestiegen sei, lohne sich das Ganze auch finanziell. Hat er wieder einmal ein paar Bitcoins zu viel, dann verkauft er sie. Dann landet er bei Leuten wie Oliver Flaskämper.

'Wir sind eine Art Ebay für Bitcoins', sagt Flaskämper. Der Internetunternehmer hat schon in den Neunzigerjahren sein erstes Vergleichsportal gegründet. Heute hat er ein halbes Dutzend davon. Vor zwei Jahren schließlich hob der 40-Jährige die Seite bitcoin.de aus der Taufe. Sie ist einer von etwa 60 Umschlagplätzen für Bitcoins. Und mit etwa 50000 Teilnehmern derzeit der größte in Europa. Pro Tag, sagt Flaskämper, kommen 1000 neue Leute hinzu. Manche von ihnen stellen ihre Angebote ein, um Bitcoins loszuwerden. Andere können die digitalen Münzen dort erwerben. Sie tauschen sie dann gegen Euro oder andere in Europa gängige Währungen. Dazu müssen sie sich allerdings eine digitale Geldbörse zulegen, ein sogenanntes Wallet. Das lässt sich auf dem Marktplatz einrichten und im Internet verwalten - oder aber auf dem eigenen Computer installieren. In diese digitale Geldbörse werden die Bitcoins nach dem Kauf übertragen. Dann kann man damit auf Einkaufstour gehen. Und zwar nicht nur im Netz, sondern auch in der wirklichen Welt.

Hunderte Onlineshops akzeptieren Bitcoins bereits: Autoradios finden sich dort, Babykleidung, Schmuck, Wein, Reisen und Hotels. Für die Händler haben die Bitcoins durchaus einige Vorteile. Es geht schneller als mit vielen anderen digitalen Bezahlsystemen. 'Es gibt eben keine zwischengeschaltete Bank, bei der man zwei Tage aufs Geld warten muss', sagt etwa Jonas Scheid, der übers Internet Öl, Essig und Wein verkauft. Und deshalb fallen beim Bezahlen mit Bitcoins auch keine Gebühren an. Der Nachteil, vor allem für die Kunden: Längst nicht überall, wo man etwas entdeckt, kann auch man mit seinen Bitcoins bezahlen. Trotz des Booms ist die Währung noch immer etwas Exotisches.

Deshalb wird auch weiterhin in Europa vor allem mit Euro gezahlt. Trotz all der Begeisterung für die neue Technik. Trotz des verlorenen Vertrauens in Banken und Staaten, in das etablierte Finanzsystem.

'Zweimal haben Kunden bei uns mit Bitcoins bezahlt', berichtet Alexandra Vogels vom Onlineshop Schuhwelt.com. 'Einmal waren es Socken, einmal ein Paar Schuhe.' Ähnlich ist es beim Kneipier Bram van Doren: Seine 'Fabelhaft Bar' in Berlin Kreuzberg ist Teil des sogenannten Bitcoin-Kiezes. Rund um das Burger-Restaurant 'Room 77' haben sich dort etwa zehn Kneipen etabliert, in denen man seine allabendliche Rechnung auch mit Bitcoins begleichen kann. Möglich macht das ein Programm fürs Smartphone. Mit dessen Hilfe lässt sich der Rechnungsbetrag direkt an die Bitcoin-Adresse der Kneipe schicken. 'Das wird genutzt, aber sehr selten', sagt Bram van Doren. 'Aber es ist eben eine Alternative zum herkömmlichen Bankensystem.' Und die Leute hinter Schuhwelt.com ergänzen: 'Wir machen das nicht in erster Linie, um unser Geschäft anzukurbeln. Es geht vor allem darum, bei dem Experiment Bitcoin dabei zu sein.'

'Eigentlich lachen alle über Kim'

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Nordkorea hat alle Ausländer aufgefordert, Südkorea sofort zu verlassen. Droht wirklich Krieg? Sieben Deutsche und ein Österreicher über ihren Alltag auf der anderen Seite der Welt.

Thorsten Schrader, 26, deutscher Student, Seoul: 'Seit sechs Wochen wohne ich hier als Maschinenbaustudent, insgesamt möchte ich ein halbes Jahr in Südkorea bleiben. Ich arbeite an einem Design-Projekt, mein Professor in Aachen hat es mir vermittelt. An meiner Uni in Südkorea bin ich der einzige deutsche Austauschstudent - es gibt noch etwa 15 weitere ausländische Studenten, die kommen aus Taiwan, China, Frankreich, Singapur, USA und Australien. Wegen des nordkoreanischen Säbelrasselns mache ich mir schon etwas Sorgen - vor allem wegen der vielen Mails, die ich zu diesem Thema von meinen Freunden und Verwandten aus dem Ausland bekommen habe. Meine südkoreanischen Freunde hingegen sagten immer nur: ,Solche Drohungen gibt es doch jedes Jahr. Der neue Diktator will doch nur unsere neue Präsidentin herausfordern." Eigentlich lachen hier alle über Kim. Manche Medien reduzieren ihn auf den kleinen dicken Jungen, der jetzt mal mit der großen Bombe prahlen muss, von der man gar nicht weiß, ob sie überhaupt existiert. Aber als jetzt die gemeinsame Wirtschaftszone dicht gemacht wurde, da wurden hier alle doch etwas nachdenklicher. Im Ernstfall, das wissen meine Freunde, werden auch sie eingezogen. Gleichzeitig möchte sich niemand vorstellen, gegen den Norden, mit dessen Bevölkerung man sich sehr verbunden fühlt, in den Krieg zu ziehen. Um uns Ausländer zu beruhigen, hat uns unser Uni-Direktor gerade geschrieben, dass er die Vogelgrippe für weitaus bedrohlicher hält als den nordkoreanischen Diktator. Für mich ist das alles schwer zu beurteilen. Moment, jetzt höre ich gerade ein Megafon unten auf der Straße! Ach, da will nur einer seine Erdbeeren verkaufen.'



Viele Studenten in Nordkorea empfinden Kim Jung Un als ungefährlich

Daniela Rost, 29, Deutschlehrerin, Seoul: 'Ich bin seit vier Jahren in Korea. Obwohl ich mich natürlich mit dem Norden beschäftige, versuche ich das Ganze nicht zu nah an mich ranzulassen und schaue zum Beispiel nicht alle Nachrichten genau an. Wenn ich das tun würde, säße ich wahrscheinlich direkt im nächsten Flieger nach Hause. Der Flughafen wäre übrigens auch mein erster Anlaufpunkt, wenn doch angegriffen wird. Es gibt in Korea verschiedene Sammelstellen für Deutsche, auch in der deutschen Botschaft gibt es eine. Aber der Flughafen ist näher und wäre daher meine erste Wahl. Obwohl ... Wie würde ich eigentlich zum Flughafen kommen? Seoul ist riesig, ich brauche ungefähr eine Stunde mit dem Bus. Aber ob dann noch Busse fahren? Falls nicht, würde ich es per Taxi versuchen. Die wollen bestimmt einen Gefahrenaufschlag, aber den muss ich dann wohl zahlen. Aber noch gibt es keine Hamsterkäufe, die Schulen sind geöffnet, alles ganz normal.'

Reinhard Böhm, 59, österreichischer Bauingenieur, Duchangri: 'Wenn man schon lange in Korea lebt, ist das, was der Kim da macht, ziemlich eindeutig: Der junge Mann ist gerade 30, die Generäle um ihn herum sind zwischen 65 und 75 Jahre alt. Und hier lässt sich kein 75-Jähriger von einem solchen Jungspund etwas sagen, das können Sie mir glauben. Ja, und so will er eben seine Stellung festigen. Aber Krieg wird"s nicht geben. Der Kim ist ja nicht so ein Fanatiker, dass er eine Selbstmordmission anzettelt. Wenn er angreifen würde, wäre Nordkorea in zwei oder drei Tagen platt. Das sieht auch meine Frau so, eine Koreanerin, die ich 1986 bei einem Bau-projekt kennengelernt habe. Wenn ich die Nachrichten sehe, wird mir, ehrlich gesagt, manchmal etwas mulmig. Aber so weit, dass ich sage: ,Ich hab Angst", so weit war es noch nie. Dafür bin ich einfach schon zu lange hier. Klar, man darf nie vergessen: Zwischen Norden und Süden herrscht seit 1953 nur Waffenstillstand. Kein Frieden.'

Gianpaolo Sciortino, 36, Geschäftsführer eines Strickmaschinennadel-Herstellers in Seoul: 'Ich bin hier in sehr engem Kontakt mit vielen anderen deutschen Geschäftsleuten, und alle sagen das Gleiche: ,Business as usual. Die Krise wirkt sich nicht auf unsere Geschäfte aus." Wir merken rein wirtschaftlich gar keine Veränderung. Ich habe auch gerade geschäftlichen Besuch aus Deutschland hier. Es gab keinen Grund, die Reise abzusagen. Wir fühlen uns hier sicher. Meine südkoreanischen Kollegen winken grinsend ab, wenn ich nach der Bedrohung durch Kim Jong Un frage. Wenn ich allerdings amerikanisches Fernsehen schaue, habe ich das Gefühl, hier herrscht schon Krieg. Diese Bilder machen einen dann nervös. Hinzu kommen die vielen Anrufe aus Deutschland. Unsere Freunde und Familie finden, wir sollten jetzt lieber nach Hause kommen. Meine Frau und meine Tochter sind gestern auch tatsächlich nach Deutschland geflogen. Allerdings weniger wegen des Gefühls einer akuten Bedrohung. Eher, weil es psychisch für meine Frau irgendwann zu belastend wurde, allen zu erklären, dass wir in Sicherheit sind. In zehn Tagen will sie wieder zurückkommen.'

Stefan Dreyer, 54, Leiter des Goethe-Instituts in Seoul: 'Wir waren zuletzt im November in Nordkorea, gemeinsam mit dem Münchner Kammerorchester. Die haben in Pjöngjang mit nordkoreanischen Musikern ein sehr schönes, sehr intensives musikpädagogisches Programm organisiert. Wir hatten damals den Eindruck, dass sich einiges bewegt hat, haben Spuren einer Öffnung festgestellt. Zum Beispiel konnten wir uns abends einigermaßen frei bewegen, die Musiker haben in einer Eins-zu-eins-Situation miteinander gearbeitet, ohne Dolmetscher oder die sonstigen üblichen Begleiter. Die aktuelle Lage beobachten wir daher nicht ohne Spannung, aber auch mit Gelassenheit. Das sind wahrscheinlich Drohgebärden, die bekannt sind. Beunruhigend ist nur die Dauerhaftigkeit dieser schrillen Rhetorik.'

Bernhard Seliger, 42, Leiter der Hanns-Seidel-Stiftung Korea, Seoul: 'Wissen Sie, was heute das größte Thema in Südkorea war? Der neue Song des Popstars Psy, das ist der mit dem Gangnam-Style. Das einzige woran ich hier merke, dass es so etwas wie eine Bedrohungssituation gibt, ist, dass ich weniger Touristen auf dem Markt sehe. Natürlich ist die Situation unterschwellig angespannt, aber Sorgen mache ich mir keine. Die Nordkoreaner sind ja keine irrationalen Fanatiker. Als ich vor 15 Jahren nach Korea kam, war der Konflikt im Alltag noch spürbarer als jetzt. Da gab es richtige Schießereien an der Grenze. Ich bekam als frisch promovierter Volkswirtschaftler damals eine Stelle an der Universität in Seoul angeboten. Mein Doktorvater riet mir dringend ab, dorthin zu gehen, aber bei mir war die Abenteuerlust stärker als die Angst. Heute bin ich mit einer Koreanerin verheiratet, meine zwei Kinder gehen in Seoul zur Schule. Meinen Eltern gelingt es inzwischen, sich nicht mehr die ganze Zeit von Deutschland aus auszumalen, dass ich neben einer gezündeten Atombombe leben würde. Bei den jüngeren deutschen Kollegen, die noch nicht so lange hier sind, ist das anders. Die sind deutlich nervöser. Mit der Zeit legt sich das.

Durch die Arbeit in der Stiftung bekomme ich auch einen anderen Blick auf den innerkoreanischen Konflikt. Manchmal gelingt es uns, Nord- und Südkoreaner gemeinsam nach Deutschland einzuladen. Wenn die sich begegnen, finden richtige Verbrüderungsszenen statt. Das ist immer wieder sehr berührend. Mich hat die Wiedervereinigung in Deutschland stark geprägt, umso mehr berühren mich diese Treffen. Für einige der älteren Südkoreaner ist es fast traurig, wie selbstverständlich die junge Generation mit dem Konflikt umgeht. Die Älteren bedauern, dass es keine Sehnsucht nach einer Wiedervereinigung gibt. Vielleicht sind wir hier manchmal wirklich etwas zu ruhig, was die politische Situation betrifft.'

Katharina Dohle, 24, Design-Studentin, Seoul: 'Eigentlich studiere ich Grafikdesign in Hildesheim. Als ich mir überlegt habe, ein Semester ins Ausland zu gehen, kam für mich natürlich nur Korea in Frage. Denn ich gehöre zu den wenigen Mädchen, die sich für Computerspiele interessieren. Ich will Game-Designerin werden. Und nirgendwo auf der Welt gibt es so viele Computerspieler und so viele Spielefirmen wie in Südkorea. ,Muss es unbedingt Korea sein?", haben meine Eltern gefragt. ,Ja", habe ich gesagt. ,Den Korea-Konflikt gibt es schon lange, die Drohungen auch." Ich habe mir vor neun Monaten keine Sorgen gemacht. Und ich mache mir auch jetzt keine. Ich denke, die ausländischen Medien übertreiben, und die Südkoreaner unterschätzen das Problem. Man muss halt viel lesen und sich selbst eine Meinung bilden. Ich bin nicht naiv, aber ich dreh auch nicht durch.'

Anneliese Stern-Ko, 52, Hochschuldozentin, Seoul: 'Die Taxifahrer, mit denen ich mich oft unterhalte, scheinen besorgter als in anderen Jahren. Einer sagte, das Geschäft ginge schlecht, es blieben mehr Leute zu Hause. Ein anderer fand Kim Jong Un eigentlich bewundernswert, wenn er als Führer eines so kleinen Landes wie Nordkorea dem großen Amerika die Stirn biete. So etwas habe ich nicht das erste Mal gehört.'

Zwischen Techno-Geballer und Elektro-Klängen

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Die Kölner Techno-Institution Kompakt wird 20 Jahre alt. Sie lösten den brachialen Techno der Neunzigerjahre ab.


Der derzeit gefeierte Pop von James Blake, Caribou oder The XX wäre ohne den europäischen Minimal-Techno der Jahrtausendwende nicht denkbar. Diese minimalistische elektronische Musik wurde von vielen Musikern und Labels entwickelt, aber niemand hatte dabei eine so große Bedeutung wie die Techno-Institution Kompakt, die dieser Tage ihren 20. Geburtstag feiert.

Der konzeptuell und klanglich durchdachte Minimal-Sound des Kölner Labels löste einst den brachialen Techno der Neunzigerjahre ab, der allein der Eskalationslogik des Nachtlebens gehorchte. Den Kompakt-Künstlern ging es dagegen um die Verbindung von Club- und Popmusik. Kompakt liegt auf halbem Weg zwischen dem Techno-Geballer der Love Parade und James Blakes feinsinnigen Umgang mit elektronischen Klängen.



Die Kölner Techno-Institution revolutionierte Techno, weil sie den reduzierten Bass mit allen denkbaren Musikstilen zu verbinden wusste.

Wie kam es dazu? Ende der achtziger Jahre wollte der spätere Kompakt-Mastermind Wolfgang Voigt ein Pop-Album produzieren. Aber die Körperlichkeit der Acid-House-Revolution zog da dem augenzwinkernden Zitat-Pop der Zeit schon den Boden unter den Füßen weg. Die peitschenden Grooves und die quietschenden, psychedelischen Basslines des Acid House versetzten Voigt und seine Freunde in Aufbruchsstimmung. Seit Punk in den Siebzigern hatten sie das nicht mehr erlebt. Der ästhetische Kern von Acid House war dabei die so genannte 'gerade Bassdrum'. Die gerade Bassdrum setzt auf jede Taktzeit einen Trommelschlag, der einfachste Groove, der vorstellbar ist. 'In der minimalsten Phase wurde, wie man damals sagte, gar nicht mehr gelacht', erzählt Michael Mayer, DJ und einer der bekanntesten Kompakt-Künstler: 'Minimal befreite Techno aber so von allem, was in den Clubs nervte: Snare-Wirbel, Euphoriegebote. Freiräume entstehen, wenn man entrümpelt. Das war der Wende, die von Köln ausging.'

Der neue, minimale Technoentwurf lies fast ausschließlich die Basstrommel stehen und war so simpelste, denkbare Lösung, das Schwarze Quadrat des Dancefloors. Aber die Kölner hatten ihre Popvergangenheit aus den Achtzigern nicht vergessen. Den Minimalismus zur reinen Lehre zu erklären, wäre zu naiv gewesen. Die Pointe der reduzierten Beats lag gerade darin, das sie sich durch ihre Neutralität mit allen denkbaren Musikstilen verbinden konnten. Das Motto lautete: '51% müssen Techno sein. Ansonsten ist erlaubt, was gefällt.' Man experimentierte mit Elementen aus der eigenen Popvergangenheit, mit klassischer Musik, mit Volksmusik, Schlager. Heute werden als außerelektronische Bezugspunkte meist unhinterfragbare Größen gewählt, etwa Gil Scott-Heron im Fall von The XX. Wolfgang Voigt war da risikofreudiger: 'Man nimmt Musik, die alle Scheiße finden und versucht sie von dem Scheiß-Aspekt zu befreien. Roy Black etwa hat was, das mich mein Leben lang berührt hat. Natürlich weiß ich, dass er der Schnulzensänger für das Altersheim par excellence ist. Interessant ist, ihn in einen neuen Kontext zu bringen, der vorzugsweise weder lustig, herablassend noch ironisierend ist.'

Im Sinn von Warhols Factory veröffentlichte Voigt oft ganze Serien von Platten, die eine formale Idee bearbeiteten. Die einzelnen Katalognummern der Studio-1-Serie etwa haben keine Namen, sie sind nur durch die Farben der Plattenhüllen zu unterscheiden.

Die elektronischen Instrumente ermöglichten es, ohne das Budget einer Plattenfirma Musik zu produzieren. Studiomieten und Musikerhonorare vielen weg. Da lag es nahe, auch eine Infrastruktur aufzubauen, um die Musik auch noch selbst zu verbreiten. So wurde 1998 Kompakt auch als Label gegründet. Justus Köhnke, Closer Musik, Michael Mayer, Superpitcher und einige andere legten eine Serie sensationeller Hits hin.

Ab 2001 passierte das Unvorstellbare: Kompakt knackte Großbritannien. Kompakt-Platten wurden fester Bestandteil der Sets der britischen DJ-Haudegen, Kompakt-Künstler wurden in die Clubs dort gebucht. Zum ersten Mal überhaupt setzte sich ein Dance Stil vom Kontinent auf der Insel durch. Diese internationale Wahrnehmung trug den Sound of Cologne auf der internationalen Technolandkarte ein. Besonders in Süd- und Osteuropa wurde der Kompakt-Sound gleichbedeutend mit elektronischer Tanzmusik überhaupt.

Ab 2005 kam der unvermeidliche Backlash: der puristische Sound hatte sich erschöpft. House setzte sich als Konsens-Partysound durch. Eine andere Krise betraf das Vinyl: Die Mehrheit der DJs begann mit CDs oder mit dem Laptop aufzulegen. Kompakt brachen die Umsätze weg. Die Firma konnte sich auf einem viel niedrigeren Niveau konsolidieren.

Mittlerweile sind zehn Jahre seit der minimalen Neudefinition der Clubmusik vergangen. Wo steht Kompakt heute? Die Resonanz ist jetzt vielfältig. Pitchfork kann mit den jährlich erscheinenden, einst hoch geschätzten Kompakt-Compilations kaum noch was anfangen. Einer der zentralen, mittlerweile unabhängigen Kompakt-Künstler, DJ Koze, wird in der New York Times gewürdigt.

Da Musiker heute ihr Geld mit Auftritten und nicht mehr mit aufgenommener Musik verdienen, entwirft sich die neue Künstler-Generation gleich als Live-Act. Diese DJ-Cliquen inszenieren sich als Rat Pack, das Glamour, Weltläufigkeit, Kaputtheit, Sexyness und spirituelle Abgeklärtheit ausstrahlt. Der Erfolg wird in Bookings in den Superclubs auf Ibiza gemessen. Dieser Karawane hat sich Kompakt nicht angeschlossen. Dort steht weiterhin die aufgenommen Musik im Zentrum. Ihre entscheidende, stilprägende Lektion ist auf Ibiza trotzdem angekommen: Die Mehrheit der vorherrschenden Club-Stile ist auf der Basis der minimalen Folie entwickelt.

Fünf Tage Wahnsinn

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Aus einer Bierlaune heraus schreibt Bernhard Torsch eine Drohung ins Internet. Am nächsten Tag wird er in die Psychiatrie eingeliefert.

Es sind neun Worte, die alles ins Rollen bringen. In der Nacht auf den 7.März dieses Jahres sitzt Bernhard Torsch nach mehreren Flaschen Bier in seiner Wohnung in Klagenfurt und surft durchs Internet. Angetrunken liest der Österreicher einen Artikel über die Massenselbstmorde in Griechenland und Spanien infolge der dortigen Wirtschaftskrise. Er kommentiert ihn auf seiner Facebook-Seite mit den Worten: "Vielleicht ändert sich ja was, wenn ich mich umbringe?" Danach legt sich der 41-Jährige schlafen.

Am nächsten Morgen, wieder nüchtern, erscheint ihm sein Kommentar dumm und mehr als missverständlich. Torsch löscht ihn und hofft, dass er noch nicht von vielen Leuten gelesen wurde. Für den freien Journalisten, der seit 2007 auch ein von vielen gelesenes Weblog betreibt, ist die Sache damit erledigt. Denkt er. Dass er wegen des Postings noch am selben Tag in die Psychiatrie eingewiesen wird, ahnt er zu diesem Zeitpunkt noch nicht.



Angetrunken postet der Klagenfurter Bernhard Torsch einen Facebook-Eintrag. Die nächsten fünf Tage verbringt er in der offenen Psychiatrischen Abteilung.

Die Geschichte, die Bernhard Torsch widerfahren ist und die er nun in seinem Blog aufgeschrieben hat, klingt reichlich bizarr und lässt im ersten Moment an einen Roman von Franz Kafka denken. Sie ist jedoch auch eine Geschichte darüber, wie - ausgehend von einer bierseligen Dummheit - die Verkettung von mehreren im Grunde richtig und nachvollziehbar getroffenen Entscheidungen am Ende zu einem Riesenirrtum führt.

Nachdem Torsch sein Facebook-Posting am Morgen gelöscht hat, klingeln gegen 12.30 Uhr zwei Polizisten an seiner Wohnungstür. Sie seien von einem anonymen Anrufer informiert worden, dass er im Netz seinen Selbstmord angekündigt habe. "Ich habe natürlich erklärt, dass das Posting nicht ernst gemeint war und ich keinerlei Suizidgedanken hege", erinnert sich Bernhard Torsch heute. Aus "formalen Gründen" muss er die Polizisten dennoch aufs nächste Polizeirevier begleiten.

"Zu diesem Zeitpunkt hielt ich alles noch für ein Missverständnis, habe mit den Beamten gescherzt und dachte, dass sich sicher alles schnell aufklären lässt", sagt Torsch. Er wird nicht Recht behalten.

In der Polizeidirektion St. Ruprechter Straße im 11. Bezirk Klagenfurts wird der mutmaßliche Patient einem Amtsarzt vorgeführt; eine Situation, die er als "eine der erniedrigendsten Erfahrungen" seines Lebens beschreibt. "Ich war plötzlich keine Person mehr, ich war nur noch ein armer Irrer. Der Arzt hat kein Wort mit mir gewechselt, hat nur die Polizisten gefragt, ob sie eine Selbstgefährdung meiner Person definitiv ausschließen können." Die Beamten verneinen die Frage, trotz gegenteiliger Beteuerungen des Betroffenen.

Die Polizisten hätten sich schlicht an die Dienstvorschriften gehalten, erklärt der Sprecher der für Klagenfurt zuständigen Landespolizeidirektion Kärnten, Rainer Dionisio, der SZ auf Anfrage: "Erfahren wir von einer Person, bei der die Gefahr besteht, dass sie sich selbst oder andere verletzt - und eine Selbstmordankündigung bei Facebook impliziert dies; ganz egal, ob ernst gemeint oder nicht -, dann müssen wir sie einem Amtsarzt vorführen. Wie groß wäre der Aufschrei, würden wir es nicht tun und würde sich die Person dann tatsächlich umbringen." Nach mehreren tragischen Fällen im Ausland sei man da mittlerweile besonders sensibilisiert. Mit ihrer gut gemeinten Anwendung der Dienstvorschriften bringen die Polizisten Bernhard Torsch allerdings in größte Schwierigkeiten. Nur fünf Minuten später sitzt er schon in einem Krankenwagen, der ihn in die Psychiatrische Abteilung des Klinikums Klagenfurt fährt. Torsch ist so perplex, dass er einfach erstmal alles geschehen lässt. "Ich war in einem Zustand völliger Verunsicherung und überhaupt nicht in der Lage zu reagieren", sagt er. Außerdem habe er zu dem Zeitpunkt noch gehofft, dass ein Gespräch in der Psychiatrie die Geschichte rasch aufklären würde.

In der Klinik gibt es tatsächlich ein Gespräch, allerdings verläuft es anders als erwartet. Bernhard Torsch erklärt, dass er zur Zeit seines Facebook-Eintrags unter Alkoholeinfluss stand, doch die zuständige Ärztin stellt ihn nur vor eine Wahl: Entweder er bleibe freiwillig, oder man müsse einen "richterlichen Unterbringungsbeschluss" besorgen. Denn ohne Grund stelle doch keiner eine Selbstmordankündigung ins Netz, so die Ärztin. In diesem Moment, sagt Torsch, sei ihm fast übel geworden.

Und dann begeht er einen entscheidenden Fehler: Statt zu protestieren, kooperiert er. Teils aus Nervosität, teils aus Respekt vor der Autorität des Arztkittels. "Ich hatte Angst, dass ich alles nur schlimmer mache, wenn ich mich widersetze", sagt er. "Ich dachte, wahrscheinlich werde ich einen Tag lang beobachtet und dann entlassen."

Der unfreiwillige Gast wird in einem Sechs-Bett-Zimmer der Psychiatrischen Abteilung untergebracht. Drei Betten links, drei rechts, daneben jeweils ein kleiner Nachttisch. An einer Seite des Raumes ein Schrank mit sechs Fächern, in denen die Patienten ihre persönlichen Sachen verwahren können. Das Zimmer ist komplett belegt. Sechsmal muss Torsch Medikamente einnehmen. Auch diesmal widersetzt er sich nicht, er hofft, durch Kooperation Schlimmeres zu verhindern: "Hätte ich die Medikamente verweigert, hätte man mir vielleicht vorgeworfen, ich hätte keine Krankheitseinsicht und hätte mit Zwangsmaßnahmen begonnen."

Am nächsten Tag gibt Torsch bei der Visite zu, dass er seit seinem 20. Lebensjahr an Depressionen und Angststörungen leide und deshalb in Behandlung sei. Er betont aber erneut, dass er noch nie im Leben den Gedanken gehabt habe sich umzubringen. "Wahrscheinlich war es taktisch unklug, meine Depressionen zuzugeben", sagt er. "Aber auch hier war ich wieder der Meinung, dass Ehrlichkeit die beste Lösung ist." Doch gerade die Vorerkrankung liefert den Ärzten nun einen Grund, ihn weiter festzuhalten. Und dreht so den Strudel weiter. Torsch will alles richtig machen, die Ärzte wollen alles richtig machen, und zusammen machen sie alles schlimmer. Am Ende werden aus 24 Stunden in der offenen Psychiatrie fünf Tage, die der 41-Jährige nie vergessen wird.

Erst als er schließlich von einem befreundeten Anwalt erfährt, dass in einem Fall wie seinem definitiv kein Anlass für eine Zwangsunterbringung bestehe, hat der Spuk ein Ende. "Als ich bei der nächsten Visite auf meine Rechte hingewiesen habe, über die man mich übrigens während des gesamten Aufenthalts nicht aufgeklärt hat, war die Ärztin plötzlich sehr kooperativ und hat sofort meine Entlassungspapiere fertig gemacht", sagt Torsch. Er darf in sein normales Leben zurückkehren.

Und jetzt, einen Monat später? Kann er seiner Geschichte etwas abgewinnen, irgend etwas? Torsch überlegt lange, sagt dann: "Ich habe gesehen, dass die Behördenkette zur Abwendung von Selbstmorden im Prinzip richtig funktioniert, sehr gut sogar." Trotzdem seien die Tage in der Psychiatrie traumatisch gewesen: "Ich hätte es vorher niemals für möglich gehalten, dass man dort so schnell und auch gegen seinen Willen landen kann." Einen Vorwurf will er dennoch weder der Polizei noch den Ärzten machen: "Die wollten mich ja nicht quälen, sondern helfen." Leider hätte sich aber auch niemand die Zeit für ein richtiges Gespräch genommen.

Bernhard Torsch trinkt seit seiner Rückkehr aus der Psychiatrie keinen Alkohol mehr. Vorsichtshalber. Auch seine Einstellungen bei Facebook hat er geändert. Seine Beiträge können jetzt nur noch Freunde lesen, nicht die ganze Welt.

Das dunkle Ikebana namens Unglück

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Die 32-Jährige Taiye Selasi erzählt in ihrem Debütroman "Die Dinge geschehen nicht einfach so" von einer afrikanischen Familie zwischen zwei Welten.

Die englischsprachige Autorin Taiye Selasi gehört zu den rising stars im internationalen Literaturbetrieb. Salman Rushdie schätzt sie, Toni Morrison erwartet viel von ihr, der Superagent Andrew Wylie hat sie in sein Universum aufgenommen. Sonst vertritt Wylie Autoren wie Philip Roth und Wladimir Nabokov.

Selasi wurde vor 32 Jahren in London geboren. Ihre Mutter, eine Ärztin, stammt aus Nigeria und Schottland, ihr Vater war ein Chirurg aus Ghana. Studiert hat Selasi in Yale und Oxford. In einem Essay für das amerikanische LiP magazine erfand sie vor sieben Jahren den Begriff 'Afropolitan', um Lebensläufe wie den eigenen zu beschreiben: Weltbürger mit afrikanischen Wurzeln, die sich in den Metropolen dieser Welt zu Hause fühlen. Mehr als dieses Essay hatte Taiye Selasi auch nicht veröffentlicht, als Penguin Press, der zweitgrößte Verlag der Welt, vor drei Jahren die Rechte an ihrem unvollendeten Debütroman 'Ghana must go' erwarb. Es war ein in der Branche seltener Vertrauensvorschuss. Nun hat Taiye Selasi geliefert. In diesem Jahr erscheint ihr Roman in 15 Ländern, auf Deutsch hat ihn der S. Fischer Verlag unter dem Titel 'Diese Dinge geschehen nicht einfach so' herausgebracht.


Tayie Selasis Roman handelt von Afrika

Es ist ein souveräner Auftritt, der von dieser Autorin in Zukunft viel erwarten lässt. Taiye Selasi schildert das Unglück einer globalisierten, durch Schicksal und eigene Fehler zerrissenen afrikanischen Familie. Ihre Sprache ist klar, melodisch und aufgeladen wie eine knisternde Stromleitung. Gedanken eines Chirurgen: 'Wie Dinge von Klippen stürzen. Wie Adair, sein erster Herzstillstand, der erste Patient, den er verlor, bei Sonnenuntergang lachend eingeliefert, tot vor der Morgendämmerung. Das irrsinnige Tempo des Todes. (Oder war es umgekehrt? Das irrsinnige Tempo des Lebens?)'

Selasis Helden sind Afropolitans, weltgewandt und hochbegabt. Wie dieser brillante Chirurg, Kwaku Sai, der Vater der Familie. Kwaku war der Beste seines Jahrgangs an der Johns Hopkins Universität in Baltimore, der renommiertesten Medizinhochschule der Welt, seine Kinder sind: Olu, der Älteste, ebenfalls ein Star-Chirurg, Kehinde, ein international gefeierter Künstler, seine Zwillingsschwester Taiwo, die immer die Beste in der Klasse gewesen war und wunderbar Klavier spielt, und Sadie, die Jüngste, das Baby der Familie, Studentin in Yale. Es wäre aber falsch, diesen Roman als eine literarische Ausführung des Begriffs 'Afropolitan' zu lesen. Selasi will mehr. Sie will das ort- und zeitlose Unglück jeder zerrissenen Familie schildern, die Hassliebe, die Verzweiflung, die Versöhnung, den Tod.

Das gelingt ihr jedoch nur zum Teil. Sie beherrscht zwar die Kunst der Spannung und des parallelen Erzählens mehrerer Schicksale, auch ihre Rückblenden sitzen meistens. Aber das Unglück ihrer Helden schält sie nicht aus deren Alltag heraus, wie dies etwa Tolstoj tut in 'Anna Karenina'. Selasi erfindet und arrangiert das Unglück, künstlich und kunstvoll, als würde sie ein schönes dunkles Ikebana basteln. Vater, Mutter, vier Kinder, alle von anmutigem Weltschmerz erfüllt, alle von der Sehnsucht angetrieben, jemand anders zu sein als sie selbst. Auf vierhundert Seiten schiebt Selasi diese Familie vorsichtig zu ihrem Glück.

Kwaku, der Vater, stirbt gleich am Anfang des Buchs am Herzstillstand, er liegt im Garten eines ungemütlichen Hauses in Ghana. Kwaku ist in diesem westafrikanischen Land geboren, und er ist hierher zurückgekehrt, nachdem seine Karriere in den USA und seine Ehe gescheitert sind. Kwaku musste eines Tages eine 77-jährige Dame mit Blinddarmdurchbruch operieren. Die Frau starb, ihre Familie hatte zu spät den Notarzt gerufen, aber Kwaku wurde trotzdem entlassen. Die Familie der Verstorbenen spendete regelmäßig Geld an das Krankenhaus, sie forderte Konsequenzen. Jeden Morgen zog Kwaku dann seinen Arztkittel an und tat so, als würde er zur Arbeit fahren, bis sein 14-jähriger Sohn dahinter kam. In einer apokalyptischen Anwandlung verließ Kwaku seine Familie, und als er zurück wollte zu seiner geliebten, stolzen Frau Fola, war es zu spät. Fola war mit den Kindern umgezogen.

Am Ende des Romans, als die Kinder bereits erwachsen und teilweise zerstritten sind, kommt die Familie auf Kwakus Beerdigung zusammen. Sein Tod kittet jene Lebensfetzen, die sein Verschwinden einst hinterlassen hat. Das ist der Plot, die Oberfläche, unter der es brodelt. Einiges an diesem Brodeln ist autobiografisch. Auch Selasis Vater, ein begabter Chirurg aus Ghana, verlies seine Frau, als Selasi und ihre Zwillingsschwester acht waren.

Afrika-Klischees, auch das des willenlosen Mannes, legt Selasi in diesem Roman einem alten Chinesen in den Mund. Dieser Chinese ist der Schwiegervater des jungen Arztes Olu. Olu hat in seinem Leben mit keiner anderen Frau geschlafen außer seiner eigenen. 'Warum ist dieser Kontinent immer noch so rückständig, frage ich?', sagt der Chinese. 'Es gibt keinen Respekt vor der Familie. Die Väter ehren ihre Kinder und Frauen nicht. (. . . ) Deshalb habt ihr Kindersoldaten und Vergewaltigungen. Wie könnt ihr die Tochter oder den Sohn eines anderen Mannes achten, wenn ihr nicht einmal eure eigenen Kinder achtet.'

Olu sagt dem Chinesen, er sei stolz auf seinen Vater Kwaku, den besten Chirurgen auf seinem Gebiet. Aber derselbe Olu - und um diese Verwirrung der Gefühle geht es Taiye Selasi - sagt später, er hasse seinen Vater. 'Ich hasse ihn, weil er meiner Mutter wehgetan hat, weil er weggegangen ist, weil er gestorben ist. Ich hasse ihn, weil er allein gestorben ist.'

Wie um seine Untröstlichkeit zu unterstreichen, führt die Autorin aus, dass Olu Angst habe, irgendjemanden zu lieben, sogar seine Frau - weil jede Liebe irgendwann ein Ende nehme. Diese etwas scholastische Seelenbremse baut ihm Taiye Selasi zwar filigran ein, aber künstlich wirkt sie trotzdem. Das Unglück der Zwillinge trägt Selasi noch dicker auf. Kehinde und Taiwo verbringen als Teenager einige Monate im Haus ihres nigerianischen Onkels. Vater Kwaku ist gerade gegangen, der reiche Onkel hat der Mutter vorgeschlagen, die Zwillinge könnten in Lagos auf eine tolle Schule gehen, er würde alles bezahlen. Er missbraucht die Kinder, lässt Kehinde die eigene Schwester Taiwo mit dem Finger vergewaltigen. Die Zwillinge finden jahrelang nicht mehr zueinander. Noch schlimmer: Taiwo, eine umworbene Schönheit, ist eifersüchtig auf die eher unscheinbare Sadie, das ewige Baby der Familie. 'Und was geschieht mit Töchtern, die von ihren Müttern verraten werden? Sie werden nicht so knuddelig wie Sadie, denkt Taiwo. (. . .) Sie bekommen einen Panzer. Werden hart.'

Sadie ihrerseits, die Jüngste, leidet an Bulimie und an sich selbst. Sie versteckt sich auf Toiletten. 'Ein perfekter Ort, wirklich, ein Kokon, weit weg von allem. Das spezielle Inseldasein einer Toilette, ein Trost. Die Gleichheit aller Badezimmer, blasse Gelbtöne, blasse Blautöne.'

Selasi gelingt das Kunststück, den Leser mit dieser Familie mitleiden zu lassen, auch wenn man nicht immer versteht, warum die Helden gerade leiden. Manchmal sagen sie sich böse Sachen, die sie aber nicht so meinen. Sadie etwa sagt zu ihrer Mutter, sie seien gar keine richtige Familie; Kehinde sagt zu seiner Zwillingsschwester, die sich eine Affäre mit einem Professor gegönnt hat, sie habe sich wie eine Hure verhalten. Man weiß, dass sie sich wieder versöhnen werden, darauf läuft alles hinaus. Und als sie sich versammeln, um Vater Kwaku zu begraben, hat man ein Gefühl, dem man kaum trauen mag: Selasis Helden haben endlich Ruhe gefunden.

Auch Kwaku Sai findet Ruhe, im Gras. Selasi beschreibt seine ärmliche Kindheit, seinen Kampf: 'sich zu lösen und zu fliehen, auf dem winzigen Boot, der S.S. Sai, vor sich als Ziel die enorme Weite - und die Kleinheit - eines Lebens ohne Not. Die minimalen Triumphe und Niederlagen des Ichs (Beruf, Familie) und nicht des Staates (zermürbende Arbeit, Bürgerkrieg) - ja, das hätte vollkommen genügt, denkt Kwaku. Geboren im Staub, tot im Gras. Fortschritt. Ferne Ufer erreicht.'

Ausgeträumt

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Faltenfreie Haut, dichtere Wimpern: Nach der Tabak- und Lebensmittelindustrie nimmt die EU nun die Kosmetikkonzerne ins Visier - falsche Versprechen sollen aus der Werbung verbannt werden.

Es war im Sommer vor zwei Jahren, da war Julia Roberts eine strahlende, makellos schöne Frau. Wie immer, könnte man jetzt sagen - aber es waren auch mehr als 20 Jahre vergangen, seit Roberts im Kino die Pretty Woman gegeben hatte. Und jetzt? Jetzt strahlte sie von den Plakatwänden, als könne ihr die Zeit einfach nichts anhaben: mit einem Gesicht, das im Vergleich jede Barbiepuppe aussehen ließ wie eine runzelige Ökobraut.

Ein Wunder? Das Produkt, das mit Roberts" Foto beworben wurde, hieß "Teint Miracle".

In den meisten Ländern wurden diese Plakate achselzuckend als das betrachtet, was sie eben waren: der Photoshop-Exzess eines Kosmetikherstellers und seiner Werbeagentur. In Großbritannien aber befand die hiesige Werbeaufsicht, dieser Wunder-Teint sei zu viel: Das Motiv wurde verboten - weil das Bild auf dem Plakat nicht mehr ausreichend Ähnlichkeit mit dem Original-Gesicht der Oscar-Preisträgerin habe, wie die Aufseher sagten. Oh, schöne Julia.



Die Werbung verspricht Schönheit in Tuben und Döschen - falsche Versprechen will die EU in Zukunft nicht mehr zulassen.

24 Monate später macht nun auch die EU-Kommission Druck auf die Kosmetikindustrie und ihre verheißungsvollen Versprechen. Im Sommer tritt eine Verordnung in Kraft, die die erlaubten Inhaltsstoffe für Kosmetikprodukte genau definiert. Was darf wo drin sein? Aber parallel dazu wird gerade noch um eine zweite Regelung gerungen, die gleichzeitig gültig werden soll - und die ist viel pikanter: Sie soll definieren, mit welchen Werbeaussagen künftig für die Produkte getrommelt werden darf und mit welchen nicht.

Können Wimpern mit ein bisschen Farbe "um 60 Prozent verlängert" werden? Kann eine Hautcreme die "Zellen erneuern"? Kann eine andere einen "Ultra-Straff-Effekt" bewirken? Wie es aussieht, wird sich die eine oder andere Werbung bald ein bisschen gedämpfter anhören müssen. Brüssel will dem Einfallsreichtum der Industrie Grenzen setzen.

Beim Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft (ZAW) gibt man sich ob des EU-Vorhabens empört und spricht von "Werbezensur". Gerade der Europäische Gerichtshof mache bei seinen Urteilen immer deutlich, dass er Bürger als "lebenskompetente, werbeerfahrene Menschen" betrachte, argumentiert ZAW-Sprecher Volker Nickel. Das Vorhaben der EU-Kommission dagegen würde nahelegen, dass man den Bürgern nicht zutraue, die Absicht von Werbebotschaften richtig und kritisch einzuordnen. Wenn künftig jeder neue Werbespruch für Kosmetikartikel genehmigt werden müsse, erschaffe man "ein unglaubliches Bürokratie-Monster".

Dabei ist die Liste mit den zulässigen Werbesprüchen wohl nur der Anfang, der Kampf um die Worte. Der um die Bilder hat noch nicht einmal begonnen. Denn Diskussionen um extrem stark bearbeitete Werbefotos gibt es immer wieder; auch wenn bislang nur wenige Motive verboten wurden - wie eben das Plakat mit Julia Roberts.

Spätestens wenn es um die Bilder geht, steckt hinter der Debatte um die irreführende Werbung eben auch eine gesellschaftspolitische Frage: Darf die Industrie ein unrealistisches Bild der Welt und der Menschen verbreiten? Muss sie das sogar, weil es ihr Geschäftsmodell ist, Träume zu verkaufen? Oder ist eben diese Praxis schuld daran, dass so viele, vor allem junge Menschen, einem Schönheitsideal hinterherhecheln, das ohne die Hilfe eines Bildbearbeitungsprogrammes nicht zu erreichen ist - nicht einmal mehr für jene, die ursprünglich für diese Plakate posieren, theoretisch also von Berufs wegen schöne Menschen sind? Zumindest Volker Nickel vom Werbeverband glaubt, dass sich die EU-Kommission mittelfristig auch an die Photoshop-Frage wagen wird: "Die haben die Kosmetikindustrie jetzt im Visier, das ist eindeutig."

Und die Kosmetikhersteller selbst? Beim Nivea-Produzenten Beiersdorf verweist man darauf, dass "wir alles, was wir auf unsere Produkte draufschreiben, auch mit wissenschaftlichen Studien belegen können", wie eine Sprecherin sagt. "Wenn wir von Faltenreduktion sprechen oder von mehr Spannkraft oder von weniger Cellulitis, dann denken wir uns das doch nicht einfach aus." Also keine Tricks? Auch nicht bei den Bildern? "Wir bearbeiten die Bilder schon. Aber da geht es dann eher um das Licht und so." Und so.

Andere sind weniger auskunftsfreudig. Beim Mischkonzern Unilever, zu dem unter anderem Dove und Rexona gehören, bleibt eine Anfrage zum Thema ebenso unbeantwortet wie bei L"Oréal, dessen Marke Lancôme für Julia Roberts" wunderliche Gesichtshaut verantwortlich war.

Die Kosmetikindustrie ist nicht der erste Wirtschaftszweig, dessen Werbeaktivitäten der EU-Kommission missfallen. So wurden die Regeln für die Tabakindustrie immer weiter verschärft. Zuletzt wurde vorgeschrieben, dass Warnhinweise wie "Rauchen tötet" 75 Prozent der Packungsoberfläche ausmachen müssen. In Zeitungen, Magazinen und dem Internet sind Anzeigen für Zigaretten schon seit mehreren Jahren verboten.

Auch die Lebensmittelindustrie musste massive Einschränkungen hinnehmen: Aussagen über die vermeintlich gesundheitsfördernde Wirkung bestimmter Produkte unterliegen nun strengen Regeln. Sprüche wie "Gut für das Immunsystem" oder "stärkt die Abwehrkräfte" etwa sind für die Hersteller probiotischer Joghurts seither verboten. Dabei hatten auch die Lebensmittelkonzerne, ähnlich wie die Kosmetikhersteller jetzt, ihre Behauptungen einst mit allerlei wissenschaftlichen Studien zu belegen versucht.

Pünktlich in den Feierabend

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Über Work-Life-Balance wird derzeit viel diskutiert. Besonders Arbeitnehmer der Generation Y wollen Freizeit und Karriere miteinander vereinbaren.


Bei Gesprächen mit hochkalibrigen Bewerbern war lange Zeit der Preis der Arbeit kein Thema, das sich nicht in Zahlen ausdrücken ließ. Und wenn Personalvorstand Ulrich Jordan einen Kandidaten vorsichtig auf dessen Belastbarkeit ansprach, entlud sich das beiderseitige Unwohlsein anschließend in einem herzlichen Gelächter: Bedarf doch wohl keiner Frage, dass sich ein Manager mit Haut und Haaren seiner Arbeit verschreibt!

Seit zwei Jahren arbeitet Jordan, einst Vorstand der damaligen Citibank und heutigen Targobank, selbständig als Berater in Dortmund. Er telefoniert täglich mit Personalchefs und hat von denen ein ganz neues Bild vermittelt bekommen: Mittlerweile sprechen die zur Vorstellung Eingeladenen den kommenden Arbeitsaufwand offensiv an. Manch einer erkundigt sich sogar, wie der Arbeitgeber die Mehrbelastung auszugleichen gedenke.



Die Arbeit soll nicht mit Überstunden die Freizeit auffressen - darauf achten immer mehr Arbeitnehmer bei der Jobwahl.

'Da muss man doch den Kopf schütteln', sagt der 58-Jährige halb amüsiert, halb aufgebracht. Er wertet die Frage als Indiz für eine saturierte Gesellschaft, die viele ihrer Kinder nach Strich und Faden verwöhne und damit ein Anspruchsdenken unterstütze. Als Erwachsene fordern sie dann die Erfüllung ihrer Erwartungen vom Arbeitgeber. Der habe sich darum zu kümmern, dass seine Leistungsträger sozial und familiär nicht verkümmerten. Dabei kennt Ulrich keinen erfolgreichen Manager, dessen Leben sich nicht nach dem Job richtet. 'Wenn man mit jungen Indern spricht', stichelt der Personaler, 'fällt nie der Begriff Work-Life-Balance.'

Der Mann steht mit seiner Meinung beileibe nicht alleine da. Das sollten all jene im Hinterkopf haben, die aus der ansteigenden Flut der Berichte über Burn-out und Stress am Arbeitsplatz schlussfolgern, dass die Arbeitgeber alarmiert sind und die Lasten ihrer Mitarbeiter herunterfahren. Tatsächlich gibt es dafür keine Anhaltspunkte. 'Unter zunehmendem Druck der Niedriglohnländer werden die produktiven Bereiche stets weiter optimiert', weiß Isabell Krone, die lange als Personalleiterin gearbeitet hat und nun von außen Personal-Abteilungen betreut. Effizienz hoch, Kosten runter bedeutet in logischer Folge: 'Die gleiche Arbeit muss mit immer weniger Menschen gemacht werden.'

Die Appelle von Medizinern und Arbeitspsychologen und die Emanzipation der Stressverweigerer sind ein legitimer Versuch, sich dieser Entwicklung entgegenzustemmen. In Firmen, die sich um Nachwuchs und um ihre Attraktivität als Arbeitgeber sorgen, wird das ernst genommen. Fortschrittliche spendieren der Belegschaft einen Fitnessraum, Konservative eine Rückenschule oder psychologische Beratung, Durchgreifende deckeln die Anzahl der zulässigen Überstunden. Personalabteilungen fordern Leitende auf, in Mitarbeitergesprächen nach der körperlichen und seelischen Befindlichkeit zu fragen. Manche Konzerne gebieten sogar, pünktlich Feierabend zu machen und Geschäftsbelange bis zum nächsten Morgen liegen zu lassen. Allerdings gelten die Anruf- und E-Mail-Verbote nach Dienstschluss selten für leitende Mitarbeiter. Die gehen nach wie vor ran, wenn der Chef klingelt, denn vielleicht erwartet sie Arbeit - oder auch die Chance ihres Lebens. No risk, no fun. Insbesondere für die nach 1980 geborene Generation Y, um die sich derzeit Arbeitgeber reißen, ist Work-Life-Balance ein Nullwort, weil sie sich Freiräume nicht vorschreiben lassen will, oder willkommenes Argument zur Abwehr von Arbeitsbelastung. 'Etliche Nachwuchsführungskräfte glauben, sie könnten mit weniger Arbeit an die Spitze kommen', diagnostiziert Albert Nußbaum, Psychologe und oberster Personalberater bei Mercuri Urval. 'Viele greifen die modische Forderung nach Verbesserung der Work-Life-Balance auf, um zu einer geringeren Arbeitszeit zu kommen.'

Natürlich weiß auch er, was viele Angestellte bewegt: Mehr Selbstbestimmung, mehr Gestaltungsfreiraum, mehr Sinn in der Arbeit. Darauf müssten die Unternehmen reagieren, gewiss. Nicht in ihrer Verantwortung liege aber die Lösung des Problems, wie Mitarbeiter beruflich Höchstleistungen erbringen und gleichzeitig ein befriedigendes Familienleben führen können. 'Vor 200 Jahren diente die Arbeit einzig der Deckung des Lebensunterhaltes. Heute schreien alle nach Sinnerfüllung.'

Die mit dem Begriff Work-Life-Balance willkürlich getroffene Unterscheidung zwischen Arbeit und Leben dünkt ihn wie ein Rückfall in frühindustrielle Zeiten. 'Die Generation Y will Karriere und Privatleben. Die in den Fünfzigerjahren geborenen Babyboomer dagegen wussten von vorneherein, dass sie für die Karriere beim Privatleben Abstriche machen mussten.' Das, versichert Nußbaum, würden die Jüngeren auch noch erkennen. Spätestens dann, wenn ihre Karriereträume platzen.

Ist es möglich, dass die Babyboomer gerade fassungslos zusehen, wie sich der Nachwuchs der eisern geglaubten Ketten entledigt? Alle zwei Jahre erkundigt sich der Personaldienstleister Towers Watson bei Zehntausenden Arbeitnehmern nach ihren Wünschen. 2010 fühlte sich mehr als jeder Zweite zunehmend gestresst. Gleichzeitig führten 'herausfordernde Aufgaben' die Spitze der Wunschliste an, was die spannende Frage aufwarf, ob Mitarbeiter dafür wohl eine weitere Portion Stress in Kauf nehmen würden. Nun ist die Antwort klar: Nein. In der 'Global Workforce Study 2012' sind Stress wie auch Interesse an kniffligen Jobs weit nach hinten gerückt. Stattdessen hätten die meisten nun lieber einen sicheren Arbeitsplatz und ein ordentliches Grundgehalt. Eine ausgeglichene Work-Life-Balance eben.

Lehrer müssen draußen bleiben

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In Dänemark sind 69000 Pädagogen wegen eines Tarifstreits ausgesperrt, seit zwei Wochen fällt der Unterricht aus

Wie alle Skandinavier bleiben Dänen selten zu Hause wegen ihrer Kinder, mehr als 80 Prozent der Mütter arbeiten. Welch wichtige Rolle die Schule bei der Betreuung spielt, spüren die Bürger derzeit anhand eines außergewöhnlich harten Arbeitskampfes. Weil die öffentlichen Arbeitgeber 69000 Lehrer ausgesperrt haben, sind seit zwei Wochen alle Gesamtschulen des Landes geschlossen. Für sämtliche Schüler der Klassen eins bis neun sowie einige Betroffene anderer Schulen, insgesamt knapp 900000 Kinder, fällt der Unterricht aus, ihre Osterferien dauern an.





Zunächst wurde improvisiert, noch halbwegs gut gelaunt. Man nahm Urlaub, Großeltern halfen aus, Elterngruppen stellten Freiwillige auf. Sportvereine und Unternehmen wie Ikea boten Betreuung an, viele Eltern nahmen ihre Kinder auch mit in die Arbeit. Inzwischen ächzen die Dänen, obwohl die Sympathie der meisten immer noch den Lehrern gilt. Deren Gewerkschaft DFL hat den Kampf um die öffentliche Meinung gewonnen, sie wirft den Arbeitgebern vor, nicht ernsthaft zu verhandeln.

Staat und Kommunen sind fest entschlossen, die ihrer Ansicht nach zu großzügigen Arbeitszeitregelungen der Lehrer zu kippen. Sie verweisen auf die nur 16,3 Stunden, die eine Lehrkraft pro Woche unterrichte; die Pädagogen wiederum wollen die vielen Stunden dazugerechnet wissen, die sie mit Vor- und Nachbereitung der Lektionen verbringen und warnen vor einer 'Billigschule'. Nach langen Verhandlungen und einer ergebnislosen Schlichtung griffen sie zum härtesten Mittel, der Aussperrung, die es selten und in diesem Umfang noch nie gab in Dänemarks öffentlichem Dienst.

Dass es - auf Kosten der Schüler - zugeht wie bei Arbeitskämpfen in der Industrie, liegt daran, dass kaum zehn Prozent der Lehrer noch Staatsdiener sind, als Folge einer großen Entbeamtungswelle Anfang der Neunzigerjahre. Vom Rest sind 95 Prozent in der Gewerkschaft, für sie gelten die üblichen Regeln bei Tarifkonflikten.

Es war die Regierung, die den Streit Ende vergangenen Jahres in Gang setzte - als sie die Pläne für eine Schulreform vorstellte, die 2014 in Kraft treten soll. Die sozialliberale Koalition von Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt will aus den 'Folkeskoler', den Grundgesamtschulen, in die alle bis zur neunten Klasse gehen, eine Art Ganztagsschule machen, die Kinder sollen Unterricht bis 15.30 Uhr erhalten, mehr Zeit mit den Lehrern verbringen. Sie verspricht sich davon eine höhere Qualität der Schulbildung.

Bei den Pisa-Tests schneidet Dänemark nur mittelmäßig ab, gibt aber überdurchschnittlich viel Geld für das öffentliche Schulwesen aus. 'Das Thema Grundschule ist in der politischen Hierarchie ganz nach oben gestiegen', sagt der Soziologe Mikkel Mailand von der Universität Kopenhagen, 'es hat jetzt Priorität bei der Regierung, weil es als Schlüssel für die Zukunft gilt.' Qualitätsfördernd soll auch wirken, dass die Schulleitungen mehr wie ein Management agieren und die Einsatzzeiten der Angestellten ohne Rücksicht auf Tarifverträge gestalten können. Ressourcen ließen sich freimachen, indem man die Lehrerarbeitszeit 'normalisiere', heißt es im Konzept der Reform, die von der Öffentlichkeit, aber auch von der konservativen Opposition überwiegend begrüßt wurde.

Andere Gewerkschaften zeigen sich solidarisch mit den Lehrern, sie befürchten, dass in weiteren Bereichen des öffentlichen Dienstes Effizienzsteigerungen geplant sind. Zu echten Sympathiestreiks ist es aber noch nicht gekommen. Alle warten nun darauf, dass der Staat den Konflikt mit einer gesetzlichen Regelung im Sinne der Arbeitgeber beendet. Eigentlich reguliere sich der nordische Verhandlungskapitalismus, bei dem die Tarifparteien gleichberechtigt einen Kompromiss suchen, ja von selbst, sagt der Arbeitsmarktexperte Mailand. 'Etwa alle zehn Jahre muss aber offenbar der Staat eingreifen, wenn das System in einen Loop geraten ist, in eine Endlosschleife.'

Mitte-People, peinlich

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Johanna Adorjáns gekonnte Petits fours aus Berlin

'Elf Arten der Einsamkeit' heißt ein schöner Band mit Short Stories von Richard Yates. 'Dreizehn Arten der Peinlichkeit' könnte Johanna Adorjáns neuer Band mit Geschichten überschrieben werden - denn Gott sei Dank hat sie nicht alle '500 besten Freunde', die der Titel nennt, abgearbeitet, sondern nur dreizehn. Die Zahl 500 hat trotzdem ihre Berechtigung, denn sie bezeichnet mutmaßlich statistisch korrekt den Ausschnitt der gesellschaftlichen Wirklichkeit, um den es hier geht. Es handelt sich, mit einem Wort, um das Berliner Mitte-People aus Schreibern, Galeristen, Filmleuten und sonstigen 'Kreativen', also jene winzige Kohorte, die, wie es gleich in der ersten Geschichte heißt, von sich sagen kann, 'wir saßen oft im Borchardt und hielten das alles für sehr wichtig'.




Hauptsache wichtig und im Borchardt: Mitte-Schnitten.

Johanna Adorján erzählt Stadtgeschichten, im Genre vergleichbar den allerdings viel liebevolleren Schwulenstorys von Armistead Maupin, oder auch einzelnen Folgen jener oft ja nicht unschlauen Vorabend-Soaps, die einige der happy 500 mitproduzieren, als Drehbuchschreiber oder Darsteller. Wenn hier mit jeder wünschbaren Explizitheit von derbem Sex berichtet wird, besteht das eigentliche schmutzige Geheimnis darin, dass die eine Partnerin 'Hirnforschung macht', die andere auf dem Fahrrad 'zum ARD-Studio' kommt, der dritte Beteiligte aber malt. Am Beginn der Erzählung war die Hirnforscherin namens Jelena erst einmal mit dem Satz eingeführt worden: 'Im Bett, sagte sie, pfeife sie auf die Genfer Konvention. Da wusste er, dass er bei ihr richtig war.'

Diese Menschen haben oft nicht übertrieben viel Geld, aber überdurchschnittlich viel Zeit, die sie zur Pflege ihrer Empfindlichkeiten nutzen. Und hier kommt die Peinlichkeit ins Spiel. Adorjáns Vermögen, Situationen der Peinlichkeit auszupinseln, ist beachtlich. Man ist nominiert für einen Preis, neben mehreren anderen, die Entscheidung und Verleihung findet vor aller Augen in einem 'Gala-Akt' statt - dieses heute allgemein geläufige Setting bedeutet die garantierte Produktion von Peinlichkeit, weil es immer nur einen Sieger und viele Trostpreise geben kann. Adorján führt das so vor, dass man diese hässliche Unsitte gleich wieder abschaffen möchte.

Peinlich ist es, wenn ein erwachsener Darsteller einer bekannten Serie mit einer mütterlich gestrengen Therapeutin redet und das so verschriftlicht wird, wie es hier geschieht. Dass das drogenabhängige Würstchen sich am Ende der Geschichte als ebenso brutaler wie beiläufiger Vergewaltiger entpuppt, zeigt ein zweites Erzählprinzip dieser glatt-professionellen Stories: Fast alle laufen sie auf ein Umschlagen, eine Pointe hinaus, die den Sinn der Situation in eine veränderte Beleuchtung rückt. Zwei Freundinnen treffen sich im Borchardt und beäugen sich ungewohnt unnachsichtig - Peinlichkeiten in Reihe -, aber erst der letzte Satz stellt das Problem klar: 'Erst später erfuhr ich, dass Eva an diesem Abend schon wusste, dass ich sie seit Monaten mit ihrem Mann betrog.'

Eine abgehalfterte Filmlegende entpuppt sich nach dem Aufbrechen der Wohnung als ekelerregender Messie; ein peinlich unelegant auftretender Mann namens Klaus, den eine bekannt sexbesessene Schauspielerin für ein Mal ihrer Aufmersamkeit würdigt, wird danach für eine Bekannte, die ihn eigentlich verachtet, attraktiv. Eine mittelgute Filmschauspielerin erleidet während eines quälenden Pressetermins im Berliner Hotel Adlon eine Monatsblutung - eigentlich sind solche Szenen Inhalt besorgter Zwangsvorstellungen, Adorján macht eine böse Miniatur zur Lage berufstätiger Frauen daraus.

Anderes liest sich wie Rache: Das Porträt einer skrupellosen Praktikantin im Redaktionsgetriebe ist plakativ, aber, nun ja, wiedererkennbar. Einem jungen, so erfolgreichen wie beifallshungrigen Autor muss von seinem Lektor beigebracht werden, dass sein neues Buch Schrott ist - Adorján macht uns zu Mietgenießern der beiderseitigen Unerfreulichkeit. Und sehr glaubhaft ist die Darstellung einer 'Feuilleton-Depression', die sich allein aus der Aufzählung des kulturellen Kirchenjahrs von Berlinale über Cannes, Venedig, Buchmesse, Jahresrückblick, wieder Berlinale samt der angeschlossenen 'Themenkonferenzen' ergibt.

Das Feuilleton sei, so die hier angebotene Definition, der Teil einer Zeitung (eine Fußnote enthält hier schon den Nachruf aufs Holzmedium), 'in dem es um Kultur gehen sollte, wenngleich dort meistens lediglich das Assoziationsvermögen der jeweiligen Redakteure vorgeführt wurde, die - je nach Studium - in allem, was auf der Welt geschah, genau das erkannten, was sie eben kannten, eine Herangehensweise, die' - und nun wird die Autorin auf einmal ganz ernst - 'schon damals nicht mehr in die Zeit passte, deren Dramen und Tragödien viel zu konkret geworden waren, um in Glossen, Meinungsstücken oder Debatten verhandelt zu werden.'

Aber eben auch zu groß, um in einer Literatur von noch so fein gearbeiteten psychologischen petits fours zur Erscheinung zu kommen. Der Band ist gut, unterhaltsam mutmaßlich sogar für mehr als 500 Leser, aber auch ein Teil des Problems, das er beschreibt.

Johanna Adorján: Meine 500 besten Freunde. Stories. Luchterhand Verlag, München 2013. 250 Seiten, 18,99 Euro.

Krisen-Herd

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Mensen müssen immer mehr studentische Mägen füllen, der Ausbau hält mit dem Ansturm auf die Unis nicht Schritt. Die Betreiber fordern deshalb mehr Geld - und die Besucher streiten sich, ob die Auswahl ohne Fleisch sein darf

Donnerstags meidet Julian Wagner die Tübinger Mensa 'Prinz Karl' seit einiger Zeit. Nicht weil ihm das Essen dort generell nicht schmecken würde - aber dem Studenten fehlt einfach die Auswahl. Immer am Donnerstag nämlich wird dort vegetarisches Essen angeboten, sogar ein veganes Gericht ist dabei. Dieses Mal könnte er sich für die Kartoffelpasteten Röstopper, ein Eblysotto oder Spätzle mit Pilzragout entscheiden. Doch Wagner, Vorsitzender des Studierendenverbunds Ring Christlich Demokratischer Studenten in Tübingen, wird nicht hingehen. 'Ich bin kein vehementer Fleischesser, aber ein Verteidiger der Wahlfreiheit', sagt er. Sein Argument: Die immer beliebter werdenden 'Veggie-Days' in der Mensa bevormundeten Studenten. 'Wir wollen selbst entscheiden, was wir wann essen.'





Derlei Grummeln gibt es nicht nur an der Uni Tübingen. In Leipzig forderten Studenten ein Ende des 'Diktats der Pflanzenfresser', als dort in der Mensa am Park erstmals ein fleischloser Tag eingelegt wurde. Von Benachteiligung war ebenso die Rede wie von Entmündigung. Manche fürchteten gar um die Arbeitsplätze in der fleischverarbeitenden Industrie. In Dresden stellten Aktivisten 'Wir wollen Fleisch'-Plakate auf und grillten demonstrativ Würstchen vor der Mensa. Und sogar im vermeintlich toleranten Berlin gründete sich an der Freien Universität zur Wahl des Studierendenparlaments eine Liste gegen Deutschlands erste reine Veggie-Mensa - die jedoch keinen Sitz im Gremium erhielt.

Stefan Grob, Sprecher des Deutschen Studentenwerks (DSW), kann die Aufregung nicht verstehen. 'Es ist ja nicht so, dass wir die Veggie-Tage gegen den Willen der Studierenden durchgedrückt hätten', sagt er. Vielmehr hätten die Studenten mehrheitlich den Wunsch nach bewussterer Ernährung geäußert: mehr Bio, mehr regionale Kost, mehr vegetarische und vegane Angebote. Die gesellschaftliche Debatte um ökologisches Essen sei an den Hochschulen angekommen. 'Identität definiert sich heute stark über die Ernährung und wir sehen uns da in einer Vorreiterrolle', sagt Grob. Derzeit betreiben die 58 Studentenwerke etwa 400Mensen - und zusätzlich noch einmal ungefähr genau so viele Bistros, Cafeterien und andere gastronomische Einrichtungen. Die Mensen des DSW bieten bundesweit nach eigenen Angaben 230000Sitzplätze. Pro Jahr bereiten die Mitarbeiter mehr als 90Millionen Portionen zu. 85Prozent aller Studenten nutzen regelmäßig eine Mensa - im Durchschnitt kommen sie vier Mal in der Woche. 41Prozent sind Stammgäste, Männer sind darunter häufiger zu finden als Frauen. Den Studenten ist an Mensen wichtig, dass sie nahe der Hochschule liegen sowie kostengünstiges und qualitativ hochwertiges Essen bieten, besagen Umfragen.

Die Mensa stellt heutzutage aber längst nicht mehr den plumpen Massenabfertigungsbetrieb von einst dar. Das Personal erhält bessere Schulungen, das Angebot muss sich ständig erweitern, um mit anderen Anbietern von günstigem Essen konkurrieren zu können, Sonderaktionen sollen locken. An sogenannten Food-Cooking-Stations bereiten mancherorts Köche das Essen frisch vor den Augen der Gäste zu, Gemüse- und Salatbars sollen gesunde Alternativen schaffen. 'Die Anforderungen sind definitiv gestiegen', sagt Grob. Das liegt aber nicht nur an den Ansprüchen der Studenten, sondern auch an der veränderten Hochschullandschaft. Insgesamt sind momentan 2,5Millionen Hochschüler eingeschrieben, 2013 werden es erneut fast 500000Studienanfänger sein.

Das bringt nicht nur die Universitäten an ihre räumlichen Grenzen, sondern überfordert die soziale Infrastruktur. Dass an vielen Uni-Standorten bezahlbarer Wohnraum fehlt, ist bekannt; dass aber auch die Gastronomie den akuten Studentenansturm kaum noch bewältigen kann, wird nach Ansicht des Studentenwerks viel zu wenig diskutiert. 200Millionen Euro, so schätzt DSW-Generalsekretär Achim Meyer auf der Heyde, wären nötig, um die Mensen auszubauen. 'Die Studierenden brauchen einen Studienplatz ja, aber sie brauchen genauso ein bezahlbares Dach über dem Kopf, gute Beratung und günstiges, gutes Mensaessen', sagt er. Bund und Länder müssten gemeinsam handeln und nun auch die soziale Infrastruktur stärken. Das müsse parallel zum Ausbau der Studienplatzkapazitäten geschehen. Zum gesetzlichen Auftrag der Studentenwerke gehöre schließlich wesentlich die Essensversorgung, auch an kleineren und betriebswirtschaftlich daher eher unrentablen Standorten. Die Mensaversorgung finanzieren die Werke in der Regel aus dem Verkaufserlös der Speisen, dem Semesterbeitrag der Studenten und Zuschüssen der Länder.

Ganz neue Problem wirft auch die Bologna-Reform auf: So kommen Bachelor-Studenten häufiger als ihre Kommilitonen in den alten Studiengängen zum Essen. Für die Mensen ist das eine Belastungsprobe. Anders als im Magisterstudium führe die zeitliche Taktung und die Verschulung der Lehre in vielen Bachelor-Fächern oft zu einheitlichen Mittagspausen. Es bilden sich lange Schlangen, manchmal müssen frustrierte Studenten auch wieder abziehen, weil sie in der ihnen zur Verfügung stehenden Zeit keinen Platz gefunden haben.

An der Beliebtheit der Mensen hat der Streit zwischen Vegetariern und Anhängern der traditionellen Hausmannskost also bisher offenbar nichts geändert. 'Zur Not werden wir den Konflikt auch aushalten', sagt Stefan Grob. Denn selbst wenn die Mehrheit der Protestler es anders sieht und einen Erziehungsauftrag der Studentenwerke verneint, die Einrichtungen sehen sich heute auch als Ort der Information. 'Wenn gesellschaftliche Debatten geführt werden, sollten wir uns nicht davor verschließen', sagt Grob. Und für die letzten Widerständler gebe es an jedem Standort noch andere Mensen, in die sie ausweichen können - komplett fleischfrei, so verspricht Grob, werden nicht alle Gastronomiebetriebe werden.

Ein Mann wie ein Paragraf

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Richter Manfred Götzl gilt als beschlagener Jurist und harter Hund - aber das Gespür für die Dimension des NSU-Prozesses scheint ihm zu fehlen.

Manfred Götzl ist es nicht gewohnt, dass man ihm widerspricht, und er schätzt es auch nicht. Er kann, wenn jemand Widerspruch wagt, sehr aufbrausend reagieren. Man wäre deshalb am Freitag gern dabei gewesen, als Götzl erfuhr, dass das Bundesverfassungsgericht ihm öffentlich widersprach und verfügte, er habe mindestens drei Plätze für ausländische Medien in seinem Gerichtssaal zur Verfügung zu stellen.

Die Schockwellen seines Temperaments erreichten am Montagnachmittag die Öffentlichkeit. Götzl ließ mitteilen, er werde den lange erwarteten Prozess kurzerhand um drei Wochen verschieben. Auf den 6. Mai. Der Vorsitzende Richter Götzl entschloss sich, das Akkreditierungsverfahren für die Medien völlig neu aufzurollen. Als ob er den obersten Verfassungswächtern in Karlsruhe sagen wollte: Wenn ihr es schon anders haben wollt als ich, dann könnt ihr das haben. Dann aber wirklich ganz genau.



Er soll sich seit Weihnachten und selbst an Wochenenden in die Akten einlesen: Manfred Götzl wird als Richter den wichtigsten Prozess der jüngeren deutschen Geschichte leiten.

Manfred Götzl, 59 Jahre alt, Vorsitzender des 6. Strafsenats des Oberlandesgerichts München, wird den Prozess gegen den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) leiten, den wichtigsten Prozess der jüngeren deutschen Geschichte. Er sitzt, so heißt es, seit Weihnachten und selbst an Wochenenden nur noch über den Akten. Allein die Anklageschrift ist 488 Seiten lang. Der Prozess bedarf einer ordnenden Hand, die die Aufklärung von zehn Morden, einer Brandstiftung und 15 Banküberfällen vorantreibt. In diesem Prozess sind nicht nur Ordnung und die Kenntnis der Strafprozessordnung wichtig - gefragt ist auch Gespür: für die Aufregung und Betroffenheit der Opfer, die zu Dutzenden im Gerichtssaal sein werden, auch für das internationale Interesse und die politischen Fallstricke. Doch die Ereignisse in München haben bereits vor dem Prozess die Bundesregierung in Wallung gebracht, die Medien in Verzweiflung gestürzt und die Beziehungen zur Türkei belastet. Nicht schlecht für den Anfang.

Dass Richter Manfred Götzl ein harter Hund und paragrafenfester Jurist ist, hat er in sieben Jahren als Schwurgerichtsvorsitzender bewiesen, in denen er zum Beispiel die Morde an dem Modeschöpfer Rudolph Moshammer und an der Parkhausmillionärin Charlotte Boehringer verhandelte, aber auch den NS-Kriegsverbrecher Josef Scheungraber und die Islamisten von der Global Islamischen Medienfront GIMF verurteilte.

Götzl ähnelt manchmal einem Vulkan, plötzlich und unerwartet bricht er aus. Das kann selbst Gutwillige treffen. In dem GIMF-Verfahren hatte ein Experte vom Bundeskriminalamt eine Stunde lang vorgetragen, was auf den blutrünstigen Kopf-ab-Videos zu sehen ist. Er hatte all die Szenen zusammengefasst, bei denen es einem übel werden kann; so konnte sich das Gericht das Betrachten des kompletten Videos ersparen. Nach einer Stunde war der Mann heiser geworden. Er griff zu einer Wasserflasche und nahm einen Schluck. Richter Götzl explodierte: Was der Zeuge sich erlaube? Wenn er Durst habe, solle er um eine Pause bitten und trinken. Aber doch nicht einfach so. 'Die Flasche geht vom Tisch' befahl er - so erinnern sich Prozessbeteiligte. 'Und wie der Leuchtkegel eines Wachturms strich sein Blick auch über die Tische der Verteidiger.' Es gab welche, die ließen ihre Flasche oben.

Manfred Götzls Wutausbrüche treffen Zeugen, Rechtsmediziner und Psychiater. Einmal faltete er den bekannten Psychiater Norbert Leygraf zusammen, als ihm ein Gutachten als zu oberflächlich erschien. Nachlässigkeiten duldet er nicht. Er gilt als akkurat und detailversessen, als 'Wahrheitssucher', wie ihn der Münchner Rechtsanwalt Steffen Ufer im Bayerischen Rundfunk nannte. Der Mann weiß, dass er juristisch sehr beschlagen ist und lässt das andere spüren. Götzl kann unnahbar wirken, seine Stimme wird oft schneidend. 'Er fordert Unterwerfung', sagt ein Verteidiger, der ihn in früheren Verfahren erlebt hat.

Man kann sich gut vorstellen, dass sich Götzl durch die Kritik daran, dass er keine türkischen Journalisten im Saal für den NSU-Prozess zuließ, sogar bestärkt fühlte. Getreu dem Motto: Wer die Paragrafen kennt, muss sich doch sonst keine Gedanken machen. So erklärte er dem türkischen Botschafter, er könne gerne zum Prozess kommen - er müsse sich eben anstellen wie alle anderen. Rechtlich ist das völlig korrekt, ein Preis in Diplomatie ist damit nicht zu gewinnen.

Auch für die Journalisten, die zugelassen wurden, hat sich der Mann besondere Vorschriften ausgedacht. Wer im Gerichtssaal ist, darf nicht raus, um zu berichten - oder er verliert sofort seinen Platz. Wer draußen ist, um zu berichten, weiß nicht, was drinnen los ist. Ein interessantes Verständnis von Öffentlichkeit und freier Berichterstattung.

In anderen Fällen zeigte sich der Richter durchaus auch fürsorglich. Einem Angeklagten, der schlecht hörte und deshalb die Fragen des Richters nicht verstand, besorgte er Batterien für sein Hörgerät. Götzl sammelte die Batterien nach jeder Verhandlung wieder ein, damit sie auch beim nächsten Mal noch funktionierten.

Prozesse mit Götzl sind zumindest nicht langweilig. Angeklagten rät er, sie sollten 'nicht in Selbstmitleid zerfließen', er herrscht sie an, er wolle 'keinen Blödsinn' hören, 'keine Märchen'. Selbst Tumulte im Sitzungssaal steht Manfred Götzl ungerührt durch. Als er im Boehringer-Prozess den jungen Neffen der Parkhausmillionärin wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilte, sprang der Verurteilte auf und schrie Götzl an: 'Sie sind es nicht würdig, dass man Ihnen zuhört. Schämen Sie sich.' Götzl machte weiter. Der Verteidiger des Angeklagten stand auf und legte mitten in der Urteilsbegründung seine Robe ab. Götzl machte weiter.

Ob sich Manfred Götzl denn nach dem Debakel um die Akkreditierung mit den betroffenen Journalisten beraten werde, wie die Plätze am besten zu verteilen seien, fragte ein Journalist am Montag. Die Sprecherin des Oberlandesgerichts erwiderte: 'Es bedarf keiner hellseherischen Fähigkeiten, um zu prophezeien, dass der Vorsitzende das entscheiden wird - und sonst niemand.'

Eine Orgie der Offenbarung

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Alle 38 Kabinettsmitglieder der französischen Regierung mussten ihren Besitz offenlegen - das Volk amüsiert sich.


Es gibt in normalen Zeiten aufregendere Internetseiten als das Portal der französischen Regierung www.gouvernement.fr. Am Montag aber blickten viele Franzosen gespannt auf diese staatstragende Seite, die delikate Enthüllungen versprach. Am Spätnachmittag wollte die Regierung dort haarklein die Vermögensverhältnisse des Premiers Jean-Marc Ayrault und aller seiner 37 Kabinettsmitglieder auflisten. Wie reich ist der Industrieminister und Kapitalisten-Schreck Arnaud Montebourg? Wie teuren Schmuck trägt die grüne Ministerin für sozialen Wohnungsbau Cécile Duflot? Und wer ist der Krösus unter den sozialistischen Ressortchefs? Auf diese drängenden Fragen sollten die Bürger nun verlässliche Antworten bekommen.

Wohnungen, Autos, Möbel, Sparkonten, Aktien - alles muss auf den Tisch. Im diskreten Frankreich kommt das einer Offenbarungs-Orgie gleich. Präsident François Hollande hat sie angeordnet, um einen 'Moralisierungs-Schock' auszulösen und politisch aus der Defensive zu kommen. Darin steckt Hollande spätestens seit Mitte März, als sein Budgetminister Jérôme Cahuzac wegen verschwiegener Auslandskonten und monatelanger Lügereien zurücktreten musste. Der Fall verbitterte viele Menschen im wirtschaftlich darbenden Frankreich. Mit der Offenlegung der Vermögensverhältnisse möchte die Regierung nun wieder Kredit bei den Wählern gewinnen.



Klare Verhältnisse mussten die französischen Kabinettsmitgliedern bezüglich ihrer Vermögensverhältnisse schaffen - manche Politiker mit Zähneknirschen.

In den vergangenen Tagen sind bereits etliche Politiker von Regierung und Opposition vorangegangen und haben in Interviews und Blogs ihre Besitztümer ausgebreitet - mit zum Teil erstaunlichen Ergebnissen. So versicherte der sozialistische Senator Christian Bourquin, nur einen acht Monate alten katalanischen Esel zu besitzen. Hinzu komme noch ein Giro-Konto, das am Monatsende oft geleert sei. Kulturministerin Aurélie Filippetti verriet den Franzosen, sie nenne ein T-Shirt von David Beckham ihr Eigen. 'Ich werde es in meine Vermögenserklärung aufnehmen.' Jean-Luc Mélenchon wiederum, der Chef der sehr linken Linkspartei, nannte neben Immobilien und Konten auch sein Gewicht (79 Kilo) und seine Kragenweite (41/42).

Man ahnt es: Nicht alle französischen Politiker sind von der neuen Transparenz begeistert, die bald auch für die Senatoren und Abgeordneten gelten soll. Manche reagieren mit Spott, andere mit Ärger. So antwortete Städtebauminister François Lamy auf die Bitte von Fernsehreportern, ihn doch neben einem seiner Reichtümer filmen zu dürfen: 'Würde Sie ein Photo meiner Frau im Negligé interessieren?' Kritiker bezeichnen die verbindliche Veröffentlichung der Vermögensverhältnisse als 'Inquisition' oder 'Exhibitionismus'. Sie bemängeln, die Aktion verführe zum Voyeurismus der Bürger und zu einem Wettlauf der Politiker, wer der Ärmste von ihnen sei. Zudem sei nicht garantiert, dass Minister und Parlamentarier all ihren Besitz offenbarten. Schon bisher hätten die Kabinettsmitglieder ihr Eigentum regierungsintern auflisten müssen. Dennoch habe Cahuzac sein Auslandskonto verheimlicht. Statt Politiker zu entblößen, solle man sie lieber besser überwachen und Korruption konsequent ahnden.

Andere warnen, die Politiker müssten künftig indirekt auch über ihre Angehörigen Auskunft geben, etwa im Rahmen von Erbschaften und Gemeinschaftseigentum. Dies sei womöglich verfassungswidrig. Die Opposition argwöhnt, der 'Moralisierungs-Schock' sei nur Polit-Theater, mit dem Hollande von einer erfolglosen Wirtschaftspolitik ablenken wolle. Die Regierung kontert, die meisten europäischen Staaten hätten bereits eine solche Offenlegungs-Pflicht. Frankreich ziehe da nur nach. Zudem spreche sich eine Mehrheit der Franzosen dafür aus. Die Aktion könne dazu beitragen, wieder Vertrauen in die Politik zu schaffen.

Bleiben noch die drängenden Fragen: Laut den Vorab-Erklärungen hat Kapitalistenschreck Montebourg ein Nettovermögen von 397000 Euro, womit er deutlich mehr besitzt als ein französischer Durchschnittshaushalt (230 000 Euro). Zu Montebourgs Schatz gehören ein Sessel des Designers Charles Eames sowie ein Tiefgaragen-Stellplatz im burgundischen Dijon. Madame Duflot trägt Schmuck im Wert von 2000 Euro und fährt einen betagten Renault Twingo, den sie mit 1500 Euro ansetzt.

Finanziell besser steht die Gesundheitsministerin Marisol Touraine da, die ein Appartement in Paris hat und insgesamt auf ein Vermögen von 1,4 Millionen Euro kommt. Damit liegt sie knapp vor Präsident Hollande, der nach eigenem Bekunden die Reichen nicht mag und Immobilien und Konten im Wert von ungefähr 1,2 Millionen Euro hat. Doch das wissen die Franzosen schon länger. Krösus im Kabinett ist eine Frau, die Senioren-Ministerin Michèle Delaunay, die gemeinsam mit ihrem Ehemann ein Vermögen von 5,4 Millionen Euro angibt. 'Die Opposition wird es sich nicht nehmen lassen, das Bild der reichen Sozialistin auszuschlachten', fürchtet sie. Sie dürfte Recht behalten.

Fromme Schurken

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Der Starpianist Fazil Say ist wegen Blasphemie zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt worden - das Urteil spaltet die Türkei.


Fazil Say ist der berühmteste Pianist der Türkei. Am Montag wurde er zu zehn Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Ein Istanbuler Gericht sah es als erwiesen an, dass Say die religiösen Werte eines Teils der türkischen Bevölkerung verletzt habe.

Der 43-jährige Say gibt in dieser Woche mehrere Konzerte in Deutschland, zu dem Urteil äußerte er sich knapp auf Facebook: 'Ich bin traurig im Namen meiner Heimat. (. . .) Dass ich verurteilt wurde, obwohl ich unschuldig bin, ist weniger für mich besorgniserregend, sondern vielmehr für die Meinungs- und Glaubensfreiheit in der Türkei.'



Mit seinen Beiträgen im Internet soll Starpianist Fazil Say die religiösen Werte eines Teils der türkischen Bevölkerung verletzt haben - so sah es das Gericht, dass ihn dafür zu zehn Monaten Gefängnis verurteilte.

Im vergangenen Jahr hatte Say auf Twitter ein Gedicht verbreitet, das dem mittelalterlichen persischen Dichter Omar Khayyam zugeschrieben wird: 'Du behauptest, durch die Bäche wird Wein fließen - ist das Paradies etwa eine Schänke? Du sagst, jeder Gläubige wird zwei Jungfrauen bekommen - ist das Paradies etwa ein Bordell?' Außerdem hatte Say getweetet: 'Überall wo es Schwätzer, Schurken, Sensationsgierige, Diebe, Blödmänner gibt, sind sie alle furchtbar fromm.'

Im Internet löste das Urteil eine heftige Diskussion über die Meinungsfreiheit aus. 'Ich will nicht Teil einer solchen muslimischen Gesellschaft sein, ab sofort bin ich Atheist', schrieb ein Leser der Zeitung Hürriyet. Ein anderer konterte: 'Wenn Atheisten schimpfen, ist das also Freiheit, oder was? Wenn du nicht glaubst, dann glaub halt nicht, aber halt doch die Klappe.'

Der Schuldspruch gegen Fazil Say dürfte seine Kläger zu weiteren Prozessen ermutigen. Allein der Bauingenieur Ali Emre Bukagili hat mehr als Hundert 'Islambeleidiger' verklagt. Am Montag verurteilte ein anderes Istanbuler Gericht einen 29 Jahre alten Türken namens Abdulkerim U. zu sechs Monaten Haft - nach demselben Paragrafen 216 des Strafesetzbuchs, aber ohne Bewährung und ohne öffentliches Aufsehen. Er hatte laut Anklage 'den Propheten Muhammad beleidigt', auf Facebook.

Die Europäische Kommission teilte am Montag mit, sie habe den Richterspruch gegen den weltberühmten Musiker Say 'mit Besorgnis' zur Kenntnis genommen. 'Die Kommission betont, dass die Türkei die Meinungsfreiheit vollkommen respektieren muss gemäß der Europäischen Konvention für Menschenrechte sowie der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.'

'Nimm dein Klavier und hau ab, spiel im Europäischen Parlament', empfiehl ein Internetkommentator dem Pianisten Say. 'Hör auf vor den Augen dieses Volkes herumzulaufen und die Sicht zu versauen.'

Die gallige Debatte erinnert an die Kontroverse um Recep Tayyip Erdogans Verurteilung aus dem Jahr 1998. Der heutige Ministerpräsident war damals Bürgermeister von Istanbul und hatte auf einer Anhängerversammlung ein religiös klingendes Gedicht vorgelesen: 'Die Minaretten sind unsere Bajonetten, die Kuppeln unsere Helme, die Moscheen unsere Kasernen.' Die Richter deuteten das als eine Beleidigung der zweiten heiligen Instanz neben Allah, welche die Türkei seit Jahrzehnten spaltet: Atatürk. Der eloquente Politiker Erdogan musste für fünf Monate ins Gefängnis.

Merkwürdig ist, dass sich sowohl Allah-Eiferer wie Atatürk-Eiferer heute auf Schriftsteller berufen, die zwar unter den ideologischen Grabenkämpfen gelitten, aber doch immer versucht hatten, Allah und Atatürk, Ost und West, Glaube und Vernunft unter einen Hut (oder Fez) zu bringen. Säkularisten zitieren mit Vorliebe den kommunistischen Dichter Nazim Hikmet, der 1963 im Moskauer Exil starb.

Verteidiger des Propheten bemühen gerne den konservativen Sprachzauberer Peyami Safa (1899-1961), wenn es darum geht vermeintlich schädliche Einflüsse aus dem Westen abzuwehren. Dabei war Safa ein Dichter des Zweifelns, ein Suchender. Einer, der kurz vor seinem Tod schrieb: 'Mensch, tauch in dich selbst ab, laufe dir selbst hinterher, finde dich selbst, deinen eigenen Geist, finde, liebe, erkenne, gedenke, sieh, siehe Allah in dir. Kehr zu dir selbst zurück, schau dir dich selbst an, komme zu dir.'
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