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Das Risiko der 140 Zeichen

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Die Kairoer US-Botschaft löscht kurzfristig ihren Twitter-Account - wieder ein Beispiel, wie sich die Diplomatie im Netz verheddert

Was immer im Detail auch im Social-Media-Handbuch des amerikanischen Außenministeriums stehen mag, so jedenfalls hätte das sicher nicht laufen sollen: Da postet die Botschaft der Vereinigten Staaten in Ägypten am Dienstag auf ihrem Twitter-Konto einen Link zu einem Clip der satirischen 'Daily Show' vom Vorabend, in dem Moderator Jon Stewart seinem in Kairo verhafteten Kollegen, dem TV-Parodisten Bassem Youssef (auch bekannt als 'Ägyptens Jon Stewart'), zur Seite springt und die Regierung von Präsident Mursi bespöttelt. Die wiederum beschwert sich - vermutlich nicht nur, aber auch - auf Twitter: 'Es ist einer diplomatischen Mission unangemessen sich in derartiger negativer Propaganda zu ergehen.' Und in der Folge verschwindet nicht nur der streitgegenständliche Tweet, nein, die Botschaft löscht ihren gesamten Twitter-Auftritt. Was in der Welt der Sozialen Medien einer Selbstentleibung gleichkommt.



Die Kairoer US-Botschaft löschte kurzfristig ihren Twitter-Account.

Hat schon der Tweet Missfallen in Washington erregt, wie später die Agentur AP schreibt, zieht diese Brachiallösung offenbar erst recht 'den Zorn des State Departments' auf sich. Der Account geht später wieder online, der Tweet aber bleibt verschwunden. Ein Spektakel, bei dem sich dem außenstehenden Muslimbruder wie US-Steuerzahler der Eindruck aufdrängen muss, dass zwei - wenn nicht noch mehr - Sturköpfe einander so lange ins Steuer greifen, bis sie den Wagen mit Karacho in den Graben gesetzt haben. Daran gab es auch für die Sprecherin des State Departments nichts zu beschönigen. Es gebe offensichtlich 'Störungen' in der Social-Media-Arbeit der Botschaft, die man jetzt zu beheben bemüht sei, erklärte Victoria Nuland am Mittwoch der Washingtoner Presse.

Es ist nicht das erste Mal, dass sich US-Diplomaten in ihrer eigenen Social-Media-Politik augenfällig verheddern - etwa als die Kairoer Botschaft im September einen umstrittenen Tweet abgesetzt hatte, in dem sie sich von den Koranverbrennungen des Pastors Terry Jones distanzierte. Damals allerdings stand die Botschaft kurz vor der Erstürmung durch Demonstranten. Im aktuellen Fall scheint alles derart ohne jede Not geschehen zu sein, dass es auf ein bemerkenswertes Maß an internen Friktionen schließen lässt. Und zumindest Fragen dazu aufwirft, wie fest verankert die Online-Offensive wirklich schon in der Arbeit der US-Diplomatie ist.

Der aktive Gebrauch von Twitter oder Facebook durch die Botschaften in aller Welt gehört schließlich zu den Kernbestandteilen jener 21st Century Statecraft genannten Strategie für digitale Diplomatie, die unter der früheren Außenministerin Hillary Clinton zur Doktrin wurde. Das Mantra jener Berater, die unter der Leitung von Alec Ross (SZ-Interview vom 4.2.2013) an der Staatskunst für das Twitter-Zeitalter gezimmert haben, war dabei stets die Dezentralisierung der diplomatischen Kommunikation. Es brauche sich, so der Gedankengang, erst gar nicht in die sozialen Medien zu begeben, wer dort nur zentral gesteuerte, stets von ganz oben abgesegnete Botschaften verbreiten wolle. Die Diplomaten sollten sich auch im informellen Ton und der schnellen, dialogischen Kommunikationsweise den neuen Medien anpassen. 'Bei Social Media geht es nicht darum, seine Pressemitteilungen in Brocken von 140 Zeichen zu zerlegen', sagt Ben Scott, der bis letztes Jahr an Ross" Seite als Berater von Clinton gearbeitet hat und derzeit Visiting Fellow bei der Stiftung Neue Verantwortung in Berlin ist. Politik solle vermenschlicht werden.

Dass man sich dafür gelegentlich weit aus der diplomatischen Komfortzone herausbewegen muss, gehört zum Konzept. 'Ich finde es ziemlich bemerkenswert', sagt Scott zum Kairoer Kuddelmuddel, 'wie selten solche Kontroversen aufflammen.' Den Diplomaten vor Ort mehr kommunikative Freiräume zu gewähren, habe stets auch das Risiko bedeutet, dass Dinge schieflaufen könnten: 'Man bekommt den Lohn nicht ohne die Risiken. Und der Lohn wiegt schwerer als die Risiken.' Löschen müssen hätte man nach seiner Meinung im aktuellen Fall überhaupt nichts.

Die Logik der schnellen Netzkommunikation reibt sich aber doch manchmal sehr knirschend an den nötigen Rücksichtnahmen im diplomatischen Spiel.

Den Videoclip von Jon Stewarts Monolog etwa, online andernorts ohnehin x-fach auffindbar, hatten die Botschafts-Twitterer bloß weiterverbreitet. Ist ein solcher Retweet bei Twitter die alltäglichste Sache der Welt, so stellt er einen in der Sphäre auswärtiger Beziehungen vor eine heikle Frage: Machte man sich die Witze Stewarts über Mursi damit zu eigen, jedenfalls in den Augen des Gastlandes? Das Verständnis der Botschafterin Anne Patterson, ihres Twitter-Teams und der State-Department-Zentrale war da offenbar alles andere als deckungsgleich.

So zeigen das Kairoer Twitter-Debakel und die Einlassungen der Außenamtssprecherin, die offen bereits länger anhaltende Differenzen zwischen dem Social-Media-Team und den höherrangigen Diplomaten am Standort einräumte, wie sehr mancher im diplomatischen Korps mit den Risiken der digitalen Strategie noch immer fremdelt. Könnten diese Kräfte die Gunst der Gelegenheit für ein Rollback nutzen? Schließlich hat die netzaffine Hillary Clinton den Stab an John Kerry übergeben, und wichtige Köpfe hinter 21st Century Statecraft wie Alec Ross und Ben Scott haben das Ministerium verlassen. 'Es gibt eine echte Gefahr', meint Scott, dass man überkonservativ reagiere. Er ist dennoch überzeugt, dass Clintons Erbe zu fest verankert ist. Längst sei es ins Budget gegossen, zu viele erfahrene Top-Diplomaten seien selbst bei Twitter aktiv, unter ihnen, immerhin, gleich seit Amtsantritt auch Minister Kerry.

Über dem Twitter-Account der Kairoer Botschaft steht inzwischen ein kleiner Hinweis: 'RTs not endorsements' - 'Retweets bedeuten keine Zustimmung'.

Spuren nach Absurdistan

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Bis hin zum Cappuccino und zur Schönheitspflege haben die Strafverfolger das Leben der Wulffs durchleuchtet

Hat Bettina Wulff eine Abneigung gegen Massagen? Und wenn sie nur so tut, was würde das über sie verraten? Warum hat die Frau des Ex-Bundespräsidenten in ihrer Zeugenaussage behauptet, sie habe 'eine Aversion' gegen Massagen? 'Ich hasse das', hat sie sogar hinzugefügt. Die Korruptionsermittler des niedersächsischen Landeskriminalamts (LKA) notierten, sie hätten eine auf den Namen Bettina Wulff ausgestellte Rechnung des 'Vital Resorts Mühl' vom 28. Februar 2008 mit dem Posten 'Ganzkörperverwöhnmassage' (70 Euro pro Behandlung) in den Akten.



Archivbild von Bettina und Christian Wulff. Die beiden sind inzwischen getrennt.

Bereits 2007, als sie noch Bettina Körner hieß, habe sich die Zeugin mal massieren lassen, fanden die Ermittler noch heraus. Die Masseurin, eine Frau L., hat das als Zeugin bestätigt in dem historischen Verfahren, dem ersten Ermittlungsverfahren des Staates gegen ein früheres Staatsoberhaupt. Und am 18. Juli 2012 soll Frau Wulff eine 'Aroma-Rückenmassage in Anspruch genommen haben' - das alles findet sich in der außerordentlich detailreichen 'Fakten-Check/Analyse: Zeugenaussage B. Wulff vs. Ermittlungsergebnisse' des LKA vom 15. November 2012.

'Widersprüche bzw. Unstimmigkeiten' entdeckten die Ermittler auch bei der Geschichte mit der Kaffeemaschine. Der väterliche Freund von Christian Wulff, der in der Schweiz lebende Egon Geerkens, 68, hatte in seiner Zeugenaussage erklärt, er habe Bettina Wulff einmal 1500 Euro in die Hand gedrückt, damit sie ihrem Mann Christian zu dessen 50. Geburtstag eine gute Kaffeemaschine kaufen könne. Bettina Wulff wiederum hatte gesagt, es könne gut sein, dass sie im Auftrag von Geerkens die Maschine gekauft habe, die stehe auch in der Küche, aber an das Bargeld könne sie sich nicht erinnern. Stehen beide Aussagen wirklich im Widerspruch?

In dem Ermittlungsverfahren gegen den Alt-Bundespräsidenten Christian Wulff und den Filmmanager David Groenewold haben die Korruptionsermittler des Dezernats 37 des LKA zu Hannover keinen Verdacht ausgelassen. Wer wann den Cappuccino für Wulff oder die Zeitung am Kiosk bezahlt hat, war von Interesse und sogar, was die Besitzerin des Nagelstudios 'Beauty and Sun' zu Langenhagen über ihre Kundin Bettina Wulff und deren Mann Christian zu sagen wusste. Das Protokoll ihrer Vernehmung ist fünf Seiten dick. Irgendwie geht es um die Frage, ob Bettina Wulff, die sie einmal zu einer Veranstaltung eingeladen hatte, im Gegenzug dafür etwas bekommen habe. Eine Nagelfeile vielleicht? Jede Ermittlungshandlung lässt sich für sich allein erklären, alle zusammen machen einen ratlos. Ein solches Vorgehen kannte man bisher eher aus dem Nachrichtendienstmilieu. 'Wenn ein Mitarbeiter Blumen riecht, dann schaut er sich nach einem Sarg um', sagte ein früherer CIA-Direktor. Der Ermittlungsaufwand im Wulff-Verfahren scheint jedenfalls klar gegen das Übermaßverbot - den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von Mittel und Zweck, Stärke des Zugriffs und Gemeinwohlnutzen - zu verstoßen.

An diesem Montag wollen in Hannover die Anwälte Wulffs mit der Staatsanwaltschaft über den Abschluss des Verfahrens sprechen, das wegen Verdachts der Bestechlichkeit und Verdacht der Bestechung geführt wird. Im angeblichen Korruptionsfall geht es noch um eine angebliche Unrechtsvereinbarung, und eine Summe in Höhe von 400 bis 770 Euro ist weiter im Feuer. Die Staatsanwaltschaft lockt mit einer Einstellung nach Paragraf 153a der Strafprozessordnung gegen Zahlung von Geldauflagen und droht mit einer Anklage. Die Beschuldigten wollen die Einstellung ohne Auflagen.

Die Korruptionsermittler in Deutschland gehen mit unterschiedlichem Eifer vor, aber es gibt schon ein paar Trends, die fast fürs ganze Land gelten: 'Wo als Leitbild der Gesellschaft der ,Tatort"-Kommissar herrscht, der am Ende, mit welchen Mitteln auch immer' den Fall zu Ende bringen will, hat der Bundesrichter Thomas Fischer in diesen Tagen in einem Aufsatz in der Zeit geschrieben, werde man auf 'Dauer auch nicht mehr viel vom Richter erwarten'. Ein zu großer Teil der Arbeit werde von den Hilfsbeamten, der Polizei, erledigt. In Hannover haben im Fall Wulff die Strafverfolger immer wieder versucht, den Verfolgungseifer einiger Kriminalbeamter zu bremsen. Da findet sich in den Akten immer wieder die Mahnung, eine weitergehende 'Aufklärung' sei 'weder geboten noch zulässig', weitere 'Nachforschungen' hätten zu unterbleiben, Spekulationen auch. Aber dann wurde doch nachgeforscht, spekuliert - und wahr ist auch, dass die Staatsanwälte selbst höchst zweifelhaft agiert haben.

Ihr 153a-Angebot vom 13. März 2013 vergifteten sie mit der Floskel, die Beschuldigten könnten, Zustimmung des Gerichts vorausgesetzt, mit der 'Übernahme strafrechtlicher Verantwortung' durch Bezahlung einer Geldauflage den Fall erledigen. Eine solche Floskel passt nicht zum Geist des 153a, bei dem jeder Beschuldigte seine Unschuld für alle Zeiten erklären darf. Einer der erfahrensten deutschen Strafverfolger charakterisierte intern das Vorgehen der Kollegen als 'niederträchtig'.

Die Einleitung des Verfahrens vor gut einem Jahr wegen Verdachts der Vorteilannahme und Vorteilsgewährung ist auch im Nachhinein nachvollziehbar. Unverständlich bleibt angesichts des heutigen Wissens allerdings die Reaktion Wulffs in seiner Amtszeit als Bundespräsident auf die Vorwürfe. Mit dem Hauskredit der Ehefrau Geerkens" für Wulff hatte die Affäre begonnen. Wie eng die Beziehung zu Geerkens war, hat Wulff, aus welchen Gründen auch immer, damals nicht ordentlich erklärt; es handelte sich um fast familiäre Bindungen.

Die erste Hochzeit von Wulff, so erzählte Geerkens in seiner Vernehmung, habe bei ihm in der Wohnung stattgefunden. Bei der zweiten Hochzeit war er Trauzeuge. Als Wulffs Stipendium auslief, habe er dem Studenten Wulff 300 Mark im Monat überwiesen (Wulff zahlte später das Geld zurück). Und beim Hausdarlehen spielten auch familiäre Dinge eine Rolle. Geerkens und dessen Frau hatten am 18. Mai 2007 in einem Erbvertrag den Wunsch festgehalten, dass Wulff und dessen 'Ehefrau/Partnerin' Pflegeeltern für die beiden kleinen Töchter würden, sollte dem Ehepaar Geerkens etwas passieren. Wulff sollte dann die Geerkens-Kinder zu sich ins Haus nehmen, das habe ihm Wulff auch bei einem Besuch in Berlin versprochen, betonte Geerkens bei seiner Vernehmung. Also war es ein Darlehen für den Kauf eines Hauses, in dem möglicherweise mal die eigenen Kinder wohnen würden. Rätselhaft, warum Wolf das im Herbst 2011 nicht so dargestellt hat. Er hätte sich entlasten können.

Die meisten der damaligen Verdachtspunkte, die zwecks der Aufhebung der Immunität des Staatsoberhauptes dem Bundestag im Februar 2012 mitgeteilt wurden, finden sich in den 21 Spurenakten der Ermittler. Von den vielen Verdachtspunkten ist wenig übrig geblieben.

Hannibal bittet zu Tisch

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'Das Schweigen der Lämmer' startet als US-Serie.

Im Fernsehen herrscht eine hervorragende internationale Arbeitsteilung: Die amerikanische Serie kümmert sich um die interessanten Freaks (koksende Werbekomponisten, Mentalisten, Autisten, Knochenjäger und Mafiosi), und Deutschland zeigt die Banalität des Öden: Ärzte, Nonnen, Winzer, Förster und Polizeibeamte. Mit Hannibal, einer soeben auf dem US-Sender NBC gestarteten Serie über den bekannten Serienkiller 'Hannibal the Cannibal' könnte nun endlich ein Werk gelingen, dessen Heimat irgendwo dazwischen liegt - mitten über dem Atlantik.

Denn zum einen wird Hannibal Lecter diesmal nicht von Anthony Hopkins gespielt (wie in dem Film Das Schweigen der Lämmer von 1991), sondern von dem Dänen Mads Mikkelsen - und bekanntlich machen die Dänen ja zur Zeit die Serien, von denen man in Deutschland nur träumt. Zum andern geht es eben um einen Serienkiller. Beides wird dazu führen, dass Hannibal sehr schnell auch in Deutschland Furore machen wird. Über den üblichen Weg der DVD-Box - oder vorher in der Grauzone des Internets. Donnerstags läuft die Serie auf NBC, tags drauf auf den einschlägigen Websites, die es mit dem Urheberrecht nicht ganz so genau nehmen.

Bei den Serienkillern unterscheidet der Filmwissenschaftler Richard Dyer grundsätzlich zwei Typen: den Unter- und den Überangepassten. Der Unterangepasste bewegt sich an den Rändern der Gesellschaft und ist zumeist sexuell 'anders', der Überangepasste dagegen identifiziert sich auf übertriebene Weise mit den konventionellen Normen und Werten. Er ist, anders gesagt, eine Art Deutscher.

Typen wie Jame Gumb aus Das Schweigen der Lämmer sind unterangepasst: Sie morden, weil sie eigentlich lieber einen Frauenkörper hätten und ihn sich auf diese Weise besorgen. Der Täter aus David Finchers Film Sieben dagegen kämpft mit seinen Morden gegen die Ausbreitung der sieben Todsünden und will eine Art christliche Ethik durchsetzen - das ist offensichtlich ein bisschen überangepasst. Hannibal Lecter wird - in der Vorlage von Thomas Harris wie auch im Film und in der Serie - nun zumeist als der zweite Typus dargestellt: Bei ihm versagt das psychologische Profiling, weil er gar nicht wirklich krank ist. Stattdessen wirkt er zivilisiert, intelligent und eloquent - also im Grunde wie ein besserer deutscher Polizeibeamter. Nur dass er eben gleichzeitig ein Mörder und totaler Freak ist, was einer Anstellung bei der SOKO Bad Salzuflen im ZDF vermutlich im Wege stehen würde.

Genau diese Ambivalenz treibt Mads Mikkelsen wunderbar auf die Spitze. Anders als Hopkins macht er einen so fischig-glatten, völlig unergründlichen Eindruck, sodass man nie genau weiß: Denkt er gerade an die Steuererklärung oder an eine neue Soße aus Menschenlunge? Für Zimperliche ist der Kannibalenhumor der Serie jedenfalls nichts: Die Folgen heißen 'Apéritif' oder 'Entrée', es gibt ausführliche Kochszenen und Lecter sagt gerne zweideutige Sätze zu seinen Gästen wie: 'It"s nice to have old friends for dinner.'

Die wahre Hauptfigur ist allerdings Lecters Gegenspieler, der Profiler Will Graham (Hugh Dancy). Er ist eher der unterangepasst amerikanischer Typ, der über sich selbst sagt: 'Mein Pferd grast näher bei Asperger und Autismus als bei Narzissten und Soziopathen.' In die Psyche der Mörder kann er sich trotzdem so gut hineinversetzen, dass die Show gleich alles zurückspult und ihn die Taten in seiner Vorstellung noch einmal begehen lässt. Was im deutschen Fernsehen natürlich unmöglich wäre, nicht nur weil die Effekte zu teuer sind, sondern auch weil ein deutscher Beamter natürlich niemals eine größere Meise hätte als der Killer.

Braucht die Welt also wirklich auch noch dieses Serienmörderdrama? Nach Dexter, nach Bates Motel, nach Criminal Minds, nach Sieben und nach Das Schweigen der Lämmer. Na ja, vielleicht als Nachspeise.

Der große Graben

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Beim 'Spiegel' eskaliert der Streit: Die Zusammenarbeit zwischen der Online-Redaktion und der gedruckten Ausgabe kommt nicht voran. Nicht nur deshalb stehen die Chefredakteure vor der Ablösung

Ganz oben sitzen die Internetleute. Im 13. Stockwerk des neuen, etwas zu bombastisch ausgefallenen Spiegel-Gebäudes an der Hamburger Ericusspitze hat Online-Chefredakteur Mathias Müller von Blumencron sein Büro. Eine Etage darunter residiert Georg Mascolo, der die gedruckte Version des Spiegel verantwortet. Jeder sitzt bei seinen Leuten, und die Onliner eben da, wo der meiste Platz ist für ein Großraumbüro, erklärt Geschäftsführer Ove Saffe gerne. Das habe allein praktische Gründe. Natürlich.

Früher saßen die Chefredakteure nebeneinander, was nicht gut funktioniert haben soll. Die Chemie stimmte offenbar von Anfang an nicht, seit sie 2008 die Nachfolge von Stefan Aust antraten. Vor zwei Jahren gab es erste Konsequenzen, die Verantwortung wurde getrennt: Seitdem ist Mascolo für das Heft und Müller von Blumencron für Spiegel-Online zuständig - jeder auf seiner Etage. Die Stimmung wurde aber nicht besser, sondern schlechter, und spätestens seit der Trennung, heißt es in der Redaktion, fahre jeder seinen eigenen Kurs.

Der scheint beendet zu sein: Beide Chefredakteure stehen offenbar vor der Ablösung, wie die SZ aus Gesellschafterkreisen erfahren hat. Eine Verlagssprecherin sagte: 'Gerüchte und Spekulationen kommentieren wir nicht.' Ein Dementi ist das nicht.

Die Aufregung ist groß im Glaspalast mit Hafenblick, seit das Hamburger Abendblatt über den bevorstehenden Führungswechsel berichtete. In der Redaktion platzten die auch intern unbestätigten Neuigkeiten in die heiße Phase der Produktion am Freitagabend. Große Hektik hätten sie ausgelöst, heißt es. Etliche seien aber erleichtert, reden von einem 'Befreiungsschlag'. Manche bedauern die Nachrichten.

Die Stimmung ist denkbar schlecht bei Deutschlands wichtigstem Nachrichtenmagazin. Print- und Online-Redaktion liegen seit Langem über Kreuz, Müller von Blumencron und Mascolo bereden nur das Nötigste miteinander. Dazu kommt: Die Geschäfte der Spiegel-Gruppe sind rückläufig, Geschäftsführer Saffe dringt auf einen Sparkurs. Die Lage ist ernst, der Umsatz sank im vergangenen Jahr um sechs Prozent auf 307 Millionen Euro, das ist nur noch das Niveau von 2003. Werbe- und Vertriebserlöse gehen weiter zurück, der Gewinn schmilzt dahin. 'Wir müssen handeln und gegensteuern', forderte Saffe im vergangenen November und kündigte einen strikten Sparkurs an. Spiegel und Spiegel-Online würden 'ab sofort deutlich enger' zusammenarbeiten, betonte er. Eine gemeinsame Strategie sollte her.

Entschieden ist bis heute nichts. Mascolo will Teile der Spiegel-Inhalte im Internet kostenpflichtig machen, Müller von Blumencron wehrt sich vehement dagegen, weil er fürchtet, dass dann die Attraktivität von Spiegel-Online massiv leiden würde. Arbeitsgruppen, die das Problem lösen sollten, machten konkrete Vorschläge. Weil sich die beiden Redaktionen nicht einig wurden, landete am Ende alles beim Geschäftsführer und den Gesellschaftern, die beide nichts entschieden. Auch die Mitarbeiter-KG hat sich nicht klar geäußert.

Stattdessen zeigte sich Geschäftsführer Saffe schwer genervt vom Hin und Her - andere wiederum von ihm ebenso wie von den Gesellschaftern. Mascolo und Müller von Blumencron böten reichlich Anlass für Kritik, heißt es bei manchen in Hamburg, aber schlussendlich sei es die Aufgabe der Verlagsspitze einzugreifen, wenn sich zwei Chefredakteure nicht einigen könnten. Geredet wurde mit den beiden offenbar bis zum späten Freitagabend nicht, von ihrer angeblichen Entlassung sollen sie aus dem Hamburger Abendblatt erfahren haben. Der Sogkraft der Nachrichten können sie sich gleichwohl nicht entziehen, und es gibt Spekulationen darüber, dass die Personalien aus dem Spiegel-Verlag gezielt lanciert wurden, um Fakten zu schaffen. In Hamburg wäre das nicht der erste Fall. Auch Bernd Buchholz, der Vorstandsvorsitzende von Gruner + Jahr, soll seinen Posten infolge einer Indiskretion aus dem eigenen Verlag verloren haben.

Spiegel-Online ist profitabel und eines der erfolgreichsten deutschen Nachrichtenangebote im Internet. Nicht so gut läuft es dagegen bei der gedruckten Version. Die Spiegel-Auflage sinkt, das Volumen der Anzeigen auch, 2012 gingen netto knapp zehn Prozent der Anzeigenerlöse verloren. Hinter dem Schreibtisch von Geschäftsführer Saffe hängen die Spiegel-Titelbilder des ganzen Jahres in Miniaturform: je höher, desto besser hat sich das Heft verkauft. Mit einem Lineal werden die Bildchen jede Woche akkurat aufgehängt. Doch Ausreißer nach oben gibt es kaum noch. Damit liegt der Spiegel im Trend der Branche, allerorten verlieren Magazine und Zeitungen an Auflage. Dennoch wird es Mascolo angekreidet. Spiegel-Titel wie 'Hitlers Uhr' oder 'Die Mutigen' über die Zivilcourage einiger Bürger sind nicht nur intern umstritten, sondern verkaufen sich auch schlecht. Im vierten Quartal 2012 rutschte die Auflage erstmals seit 1986 sogar unter 900000. Im ersten Quartal 2008 waren es laut IVW noch 1,05 Millionen.

Die politische Schlagkraft - lange das wichtigste Merkmale des Spiegel - sei verloren gegangen, wird moniert. Investigative Geschichten hätte Mascolo zwar wieder befördert, aber sie hätten nicht immer den richtigen Platz gekriegt. Dadurch sei die DNA des Nachrichtenmagazins in Gefahr. Zudem gibt es Kritik an Mascolos Führungsstil, der als robust gilt. Auch lege er zu spät fest, was auf den Titel komme, da er zögerlich in seinen Entscheidungen sei.

Nun will Geschäftsführer Saffe, selbst wegen der schlechten Zahlen unter Druck, offenbar die Konsequenzen ziehen und einen Neuanfang - auch, um sich selbst aus der Schusslinie zu bringen. Die Gesellschafter müssen dem zustimmen: Das ist vor allem die mächtige Mitarbeiter-KG, die 50,5 Prozent der Anteile hält, daneben das Zeitschriftenhaus Gruner + Jahr (25,5 Prozent) und die Augstein-Erben (24 Prozent). Erst vor einigen Wochen gab es einen Wechsel bei der Mitarbeiter-KG. Wirtschaftsressortleiter Armin Mahler wurde von Reporter Gunther Latsch abgelöst. Dadurch, so berichten Insider, sei das Machtgefüge durcheinandergeraten, Mascolo habe an Rückhalt verloren. Mahler galt zwar stets als Mascolo-Kritiker, doch es habe eine 'stillschweigende Vereinbarung' gegeben, dass man an einem Strang ziehe.

Wie eine Nachfolge in der Chefredaktion aussehen könnte, ist offen. Eine Doppelspitze soll es nicht mehr geben. Einige befürchten bereits eine Hängepartie wie beim letzten Mal, als sich die Nachfolgesuche für Stefan Aust quälend lang dahinzog. Nach Monaten des Vakuums starteten Mathias Müller von Blumencron und Georg Mascolo als Kompromisskandidaten.

Kein Weg zu weit

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Washington spielt die Pendeldiplomatie von Außenminister John Kerry in Nahost herunter. Doch allmählich wird klar, wie die USA den Friedensprozess in Gang bringen wollen: mit der Türkei als Makler

Auf Friedenssuche in Nahost ist US-Außenminister John Kerry wieder in Jerusalem eingetroffen. Gerade einmal zwei Wochen sind vergangen seit seinem letzten Besuch an der Seite von Präsident Barack Obama - und gekommen ist er erneut mit leeren Händen, aber offenen Ohren. Washington wird nicht müde zu betonen, dass das Ziel dieser Pendeldiplomatie allein darin besteht, die Bedingungen auszuloten für die Aufnahme direkter Gespräche. Doch jenseits der neuen Bescheidenheit wird langsam ein Konzept sichtbar, wie die neue US-Regierung den jahrelangen Stillstand überwinden will. Sie setzt dabei nicht allein auf Überzeugungsarbeit bei Israelis und Palästinensern, sondern dreht gleich an mehreren Stellschrauben in der Region, um das eingerostete Räderwerk des Friedensprozesses wieder in Gang zu setzen. Eine Schlüsselrolle könnte dabei der Türkei zufallen. Doch noch klemmt es an allen Ecken und Enden.


John Kerry mit dem israelischen Präsidenten Shimon Perez


Kerrys Verhandlungstag in Jerusalem begann mit lautem Sirenengeheul. Israel gedachte am Montag der sechs Millionen Opfer des Holocaust, landesweit stand wie in jedem Jahr zu diesem Trauertag für zwei Minuten während des Sirenenklangs das Leben still. Der amerikanische Außenminister legte in Jad Vaschem einen Kranz nieder, Gedenkveranstaltungen gab es später auch in der Knesset. In Israel ist dies kein Tag für politische Gespräche, weshalb sich Kerry im Jerusalemer US-Konsulat zunächst den Palästinensern widmete, deren Präsident Mahmud Abbas er bereits am Vorabend in Ramallah gesprochen hatte. Israels Präsident Schimon Peres traf er erst am späten Nachmittag, das Gespräch mit Premier Benjamin Netanjahu steht an diesem Dienstagmorgen auf dem Programm.

In diesen Treffen geht es darum, beide Seiten zu vertrauensbildenden Maßnahmen zu bewegen, um ein positives Klima für neue Gespräche zu schaffen. Aus Ramallah hat Kerry bereits die Zusicherung erhalten, dass für die nächsten Wochen alle Bemühungen auf Eis gelegt werden, weitere internationale Anerkennung für einen Palästinenser-Staat zu gewinnen. Das Zentralkomitee der regierenden Fatah erließ, um guten Willen zu demonstrieren, dazu auf Antrag von Abbas eigens eine Resolution. Im Gegenzug versucht Kerry die Palästinenser mit der Zusicherung an den Verhandlungstisch zu locken, dass eingefrorene Hilfsgelder ausgezahlt werden und Israel palästinensische Bauprojekte im Westjordanland erleichtern könnte.

Abbas versicherte seinem Gast aus Washington zwar, dass er an neuen Verhandlungen mit Israel interessiert sei. Doch von seinen alten Bedingungen rückte er laut palästinensischen Medienberichten nicht ab: Israel solle erst den Siedlungsbau einstellen und palästinensische Gefangene freilassen. Für die Gespräche mit der Gegenseite gab er Kerry noch mit auf den Weg, Netanjahu müsse eine Karte mit seinen Vorstellungen von den Grenzen eines künftigen Palästinenser-Staats vorlegen.

In Israel wird das rundheraus abgelehnt, weil die Festlegung auf mögliche Grenzen den Verhandlungsspielraum einschränken würde. Eine Rückkehr zu den Grenzen von 1967, vor der Eroberung der palästinensischen Gebiete, hatte Netanjahu bereits mehrfach ausgeschlossen. Eine Geste des guten Willens zeigte jedoch auch Israel schon kurz nach Obamas Besuch mit der Freigabe palästinensischer Zoll- und Steuereinnahmen, die zuvor als Bestrafung zurückgehalten worden waren.

Der Graben zwischen den Kontrahenten erscheint allerdings so groß, dass die USA nach Helfern suchen. Weil Ägypten, dem in arabischen Vorfrühlingszeiten unter Präsident Hosni Mubarak die Vermittlerrolle zugekommen war, wegen der inneren Turbulenzen weitgehend paralysiert ist, setzen die USA nun wieder verstärkt auf die Türkei. Von Vorteil ist, dass die Regierung in Ankara zu den Palästinensern, zumal zu der im Westen als Terrororganisation boykottierten Hamas, enge Beziehungen pflegt. Ein Nachteil ist jedoch, dass zunächst einmal das arg ramponierte Verhältnis zu Israel wieder vollständig gekittet werden müsste.

Deshalb hatte Obama noch kurz vor seinem Abflug jenes Telefonat arrangiert, bei dem sich Netanjahu bei Premier Recep Tayyip Erdogan dafür entschuldigte, dass Israels Armee 2010 neun türkische Staatsbürger bei der Erstürmung eines Hilfsschiffs für den Gazastreifen getötet hatte. Und deshalb war die Türkei nun auch als erste Station auf Kerrys nahöstlicher Vermittlungstour ausgewählt worden. Dort lobte er die israelisch-türkischen Beziehungen als 'wichtig für die Stabilität des Nahen Ostens und entscheidend für den Friedensprozess'.

In Israel gibt es jedoch deutliche Vorbehalte gegen eine Makler-Rolle der Türken. Die Regierung in Ankara hatte ihrem Volk Israels späte Entschuldigung allzu propagandistisch als Kapitulation verkauft, und noch vor Kurzem hatte Erdogan Israel einen 'terroristischen Staat' genannt. Als Alternative könnte für die USA deshalb noch eine Modifizierung der 2002 von Saudi-Arabien vorgelegten Arabischen Friedensinitiative in Betracht kommen. Abbas brach deshalb gleich nach seinem Gespräch mit Kerry nach Katar zu einem Treffen der Arabischen Liga auf. Erdogan, der jordanische König sowie der Emir von Katar werden in den nächsten Wochen auch in Washington empfangen.

Kein Weg erscheint derzeit den Amerikanern zu weit in ihrem Anlauf zu neuen Friedensverhandlungen. Die Sondierungsphase ist auf zwei Monate veranschlagt, und israelische Medien berichten, dass Kerry in dieser Zeit alle zwei Wochen in die Region reisen will. Die Streithähne sollen wissen, dass er wiederkommt. Sie wissen allerdings auch, dass er wieder wegfliegt.

Berühmte kosten mehr

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Facebook verlangt probeweise Geld für Nachrichten, die sich an Personen außerhalb des digitalen Freundeskreises richten.

Warum ist Salman Rushdie billiger als der olle Schwimmer? Den von radikalen Moslems bedrohten Schriftsteller können Briten schon für 10,08 Pfund auf Facebook kontaktieren, dem Olympioniken Tom Daley eine Nachricht zu schicken kostet dagegen 60 Pence mehr.


Schon länger versucht Facebook mit anderen MItteln als Onlinewerbung Geld einzunehmen

Noch wichtiger könnte nur die Frage sein, warum Facebook-Nachrichten für manche Menschen überhaupt plötzlich Geld kosten, solange sie die Nachricht nicht an ihre Freunde richten, sondern an Menschen außerhalb ihres digitalen Freundeskreises, zum Beispiel an Personen des öffentlichen Lebens. Dahinter steckt ein Test von Facebook. Er läuft bereits seit Dezember 2012 in den USA, doch jetzt wurde die Funktion auf weitere 36 Länder ausgedehnt, darunter neben Großbritannien auch Deutschland. Wie viele Nutzer betroffen sind, verrät Facebook nicht. Das Unternehmen sucht seit Jahren nach Möglichkeiten mit anderen Geschäftsmodellen als mit Onlinewerbung Geld zu verdienen.

Wer die Funktion nutzt, kann per Kreditkarte bezahlen. Die meisten Nachrichten sind mit ein paar Cent deutlich günstiger als jene, die sich an Prominente richten. Nach Angaben von Facebook werden die 'idealen Preise' derzeit noch ermittelt.

Offiziell deklariert der Konzern die Idee als Versuch, Werbenachrichten ('Spam') zu verhindern. Tatsächlich ist Spam im Netz auch deshalb so häufig, weil der Werbemüll gratis verschickt werden kann. Außerdem soll die Bezahlfunktion sicherstellen, dass wichtige - teurere - Nachrichten, in der Datenflut identifiziert und übersichtlicher dargestellt werden können.

Und warum ist eine Nachricht an den Sportler nun teurer als eine an den Literaten? 'Basierend auf der Anzahl an Abonnenten', heißt es bei Facebook, würden höhere Preise bei berühmten Personen ermittelt. Abonnenten nennt man bei Facebook Menschen, die sich regelmäßig über einen bestimmten Prominenten informieren lassen.

Operation saubere Hände

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In Frankreich beeilen sich zahlreiche Politiker, ihre Vermögensverhältnisse offenzulegen. Der Grund: Die Internetzeitung Mediapart will einen "republikanischen Skandal" enthüllen.


Die Angst vor einem "fin de règne" beschleicht die regierenden Sozialisten in Paris. Präsident François Hollande empfängt im Élysée-Palast den Premier und wichtige Minister einzeln zu Krisengesprächen. Parteichef Harlem Désir schlägt vor, die Bürger sollten per Volksentscheid Regeln beschließen, um eine Moralisierung des öffentlichen Lebens zu erzwingen. Die Opposition überschlägt sich mit Rücktrittsforderungen. Derweil blicken alle gespannt auf die kleine Redaktion einer Internetzeitung im Bastille-Viertel. Mediapart hat angekündigt, bald einen neuen "republikanischen Skandal" aufzudecken.

Wen wird es als Nächstes treffen? Mediapart hatte mit seinen Enthüllungen über die Bettencourt-Affäre bereits die konservative Regierung unter Präsident Nicolas Sarkozy in Bedrängnis gebracht. Im Jahr 2010 witzelte der Oppositionspolitiker Hollande gegenüber Chefredakteur Edwy Plenel, wenn die Sozialisten an die Regierung kämen, werde Mediapart auch sie das Fürchten lehren. Aus dem Scherz ist Ernst geworden. Plenels Online-Zeitung hat den Budgetminister Jérôme Cahuzac wegen dessen Lügen über ein Auslandskonto zu Fall gebracht. Ertappt Mediapart einen weiteren Minister, dürfte die ganze Regierung stürzen.



2010 brachte die Internetzeitung Mediapart mit ihren Enthüllungen schon die Regierung unter Nicolas Sarkozy in Bedrängnis. Jetzt will sie erneut einen "republikanischen Skandal" aufgedeckt haben. 

Noch hüllt sich Plenel in Schweigen, wohin die neuen Recherchen seiner Redaktion führen. Die Zeitung Libération, die wie Mediapart dem linken Pressespektrum angehört, berichtete am Montag, das Ziel sei kein Geringerer als der französische Außenminister Laurent Fabius. Libération schreibt, in der gesamten Regierung herrsche Aufregung, weil Mediapart Beweise für heimliche Auslandskonten des Ministers in der Schweiz haben könnte.

Fabius beruhigte noch am Wochenende seinen Präsidenten, an der Geschichte sei nichts dran. Zugleich sagte sein Anwalt: "Der Minister versichert, niemals Konten in der Schweiz oder in irgendeinem Steuerparadies gehabt zu haben." Fabius wolle gerichtlich gegen die Gerüchte vorgehen, die haltlos seien. Außerdem forderte er mehrere Schweizer Banken auf zu bestätigen, dass er kein Konto bei ihnen habe.

Ex-Budgetminister Cahuzac drohen aus der Schweiz weitere Enthüllungen. Der Minister hat bisher öffentlich nur eingestanden, dort ein geheimes Konto mit 600000 Euro besessen zu haben. Nun berichtete der staatliche Schweizer Sender Radio Télévision Suisse (RTS), Cahuzac habe 2009 versucht, 15 Millionen Euro in der Schweiz zu deponieren. Er habe deswegen ein "diskretes und sicheres" Genfer Geldinstitut kontaktiert. Er sei jedoch abgewiesen worden, weil er als exponierter Politiker ein zu großes Risiko gewesen wäre. Der Sender beruft sich dabei auf "Schweizer Bankenquellen".

Die Rechtsvertreter Cahuzacs, der einst als Chirurg und Chef einer Schönheitsklinik viel Geld verdient hat, dementierten die Vorwürfe. Einer der Anwälte sagte, selbst wenn Cahuzac saudischen Milliardären Haare verpflanzt hätte, hätte er keine solchen Summen verdient.

Präsident Hollande muss nun befürchten, durch immer neue echte oder angebliche Enthüllungen über Mitglieder seiner Regierung blockiert zu werden. Er will versuchen, sich mit einem großen Schlag zu befreien. Eine rasche Regierungsumbildung hat er dabei wohl bereits verworfen, weil dies als Eingeständnis des Scheiterns wahrgenommen würde. Stattdessen will Hollande am 24. April ein Gesetzesbündel vorschlagen, das mehr Lauterkeit in der Politik erzwingen und Interessenkonflikte vermeiden helfen soll. In Paris ist, in Anspielung an das Italien der Neunzigerjahre, von einer Aktion "saubere Hände" die Rede, und von einem "Ethik-Schock".

Hierzu kursieren bereits zahlreiche Vorschläge. So wird gefordert, Abgeordneten alle Nebentätigkeiten zu verbieten, die in Frankreich verbreitete Ämterhäufung zu untersagen und Politiker, die wegen Korruption angeklagt sind, von öffentlichen Ämtern auszuschließen. Finanzminister Pierre Moscovici will seinen europäischen Kollegen Vorschläge machen, wie der Steuerbetrug und die Geldwäsche besser bekämpft werden können. Er fordert beispielsweise einen automatischen Informationsaustausch.

Eine Folge Cahuzac-Affäre dürfte sein, dass die Vermögensverhältnisse französischer Minister und Parlamentarier künftig stärker durchleuchtet werden. Am Montag gingen bereits einige Politiker voran. Marie-Arlette Carlotti, die Ministerin für Behinderte, legte als erstes Regierungsmitglied ihr Vermögen - von der 130-Quadratmeter-Wohnung in Marseille bis zum gebrauchten Smart. Sie erklärte auch, wie sie zu ihrem Vermögen kam. "Ich kämpfe für Transparenz in der Politik", sagte Carlotti. Cahuzacs schwerer Fehler dürfe nicht alle Politiker in Misskredit bringen.

Auch Laurent Wauquiez, Vize-Parteichef und große Nachwuchshoffnung der konservativen UMP-Partei, veröffentlichte eine Liste seiner Besitztümer. Er sei nicht in die Politik gegangen, um ein Vermögen zu machen, sagte er. Die publizierten Zahlen geben ihm recht. Etliche andere Politiker kündigten an, dem Beispiel Carlottis und Wauquiezs zu folgen, unter ihnen viele Vertreter der Grünen. Premier Jean-Marc Ayrault versprach in einem Interview, per Gesetz eine "totale Transparenz bei den Vermögen" durchzusetzen. Bis Mitte April sollen Erklärungen über die Vermögensverhältnisse aller Minister veröffentlicht werden. Das Magazin Nouvel Observateur schrieb in seiner Internet-Ausgabe: "Die Operation saubere Hände hat begonnen."

In Frankreich wird aber auch Kritik an dem Enthüllungsreigen laut. Die Affären und Transparenz-Versprechen seien ein großes Theater, das von den Problemen des Landes ablenke, finden manche Beobachter. Der Philosophie-Professor Jean-Jacques Delfour spottet: "Ein neuer Pakt eint die politische Klasse - die glühende Liebe zur Wahrheit." Statt die Steuer- und Bankenpolitik der Regierung Hollande oder die Verschwendung öffentlichen Geldes zu durchleuchten, stürze man sich auf die privaten Verhältnisse der Politiker. Die Affäre Cahuzac sei nur eine Operette.

Es brodelt in Europa

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Die UN-Arbeitsorganisation ILO sieht in den Krisenländern des Kontinents ein wachsendes Risiko für soziale Unruhen.

Kürzlich traf es Soraya Sáenz de Santamaría, die Stellvertreterin des spanischen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy und mächtigste Frau in der Regierung. Vor ihrem Haus in Madrid versammelten sich an die zweihundert Menschen, denen wegen der Schuldenkrise der Verlust ihrer Wohnung droht. Sie riefen: 'Die Zwangsräumungen sind Mord!', womit die Demonstranten auf die Suizide anspielten, die zahlungsfähige Schuldner in den letzten Monaten in Spanien verübt hatten. Escrache nennt man in Spanien diese Methode, missliebigen Politikern direkt auf die Pelle zu rücken und sie an den Pranger zu stellen. Sie kommt aus Argentinien und ist auch in der Protestbewegung umstritten, greift aber immer mehr um sich. Sogar Gemeinderäte mussten schon von der Polizei zum Sitzungssaal eskortiert werden.


Beim ILO Meeting in Oslo am Montag

Es ist das erste Anzeichen aggressiven Protestes in Spanien, der demokratische Spielregeln nach Meinung vieler Kommentatoren hinter sich lässt - und ein mögliches Anzeichen, dass eine Studie, welche die UN-Arbeitsorganisation (ILO) am Montag in Genf veröffentlichte, ihre Berechtigung haben könnte: Die ILO stellt in ihrem Arbeitsmarktbericht 2012 ein wachsendes Risiko sozialer Unruhen in Europas Krisenländern wie Zypern, Griechenland, Portugal, Spanien, Slowenien und Italien fest, aber auch in Tschechien. In Deutschland, Finnland, der Slowakei und Belgien hingegen sank das Risiko laut der Studie.

Dieses erhöhte Risiko hat die ILO anhand eines Indikators errechnet. Er setzt sich zusammen aus Faktoren, die über Umfragen ermittelt wurden. Zu Grunde liegen Erhebungen, die das Meinungsforschungsinstitut Gallup anfertigt. Darin werden in mehr als hundert Ländern je tausend Bürger einen Monat lang täglich in direkten Interviews danach befragt, wie sie ihr Leben einschätzen. Sie machen Angaben, ob sie ihrer Regierung vertrauen, ob ihr Lebensstandard sich verbessert oder verschlechtert hat, wie sie die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt sehen und wie es um die Demokratie in ihrem Land bestellt ist.

Die ILO geht davon aus, dass negative Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt und ungleich verteiltes Einkommen im Land das Risiko sozialer Unruhen erheblich verstärken. Schwankungen beim Wirtschaftswachstum allein seien dafür noch nicht ausreichend. Laut dem Indikator ist dieses Risiko in der gesamten EU 2012 gegenüber dem Vorjahr um zwölf Prozentpunkte gestiegen, während es in anderen Weltgegenden, etwa dem prosperierenden Lateinamerika oder in Ostasien, abnehme. Die Steigerung in der EU sei im Vergleich mit anderen Teilen des Globus die gravierendste. Zurückzuführen ist sie vor allen Dingen auf die starke Unzufriedenheit im Süden des Kontinents.

Die ILO macht dafür vor allen Dingen die Arbeitslosigkeit verantwortlich. Sie hebt hervor, dass die Beschäftigung in nur fünf der 27 EU-Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, wieder über dem Niveau von vor der Finanzkrise liege. Deutschland sei das einzige Land, in dem die Jugendarbeitslosigkeit seit 2008 gesunken sei. Deshalb sei auch die Wahrscheinlichkeit von Unruhen gering. In Griechenland, Portugal und Spanien hingegen sei die Anzahl der Beschäftigten in den vergangenen zwei Jahren um mehr als drei Prozentpunkte gesunken. Insgesamt sind laut ILO in der EU 26Millionen Menschen arbeitslos - 10,2Millionen mehr als 2008. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen liege bei elf Millionen, in etwa doppelt so viele wie 2008. Viele hätten die Jobsuche längst aufgegeben.

Die UN-Organisation gibt dazu eine politische Bewertung ab: Sie macht die Sparpolitik, die den Krisenländern verordnet wurde, für den Anstieg der Arbeitslosigkeit verantwortlich. Bemühungen um die Bewältigung der Krisenfolgen müssten viel stärker auf die Schaffung von Jobs als allein auf Spar- oder ziellose Strukturmaßnahmen gerichtet sein, forderte die ILO kurz vor ihrer Europäischen Regionalkonferenz in Oslo. Konkret fordert sie etwa eine Beschäftigungsgarantie für junge Leute. Außerdem müsse man in den einzelnen Ländern die strukturellen Probleme angehen, die hinter der Krise stünden. Auch die systemischen Defizite des Finanzmarkts seien noch nicht ausreichend gelöst worden.

Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) warf der ILO vor, die Reformbemühungen in Krisenstaaten mies zu machen. Sie diskreditiere 'einseitig die in den Krisenländern angestoßenen Strukturreformen für solide öffentliche Finanzen und eine Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit', heißt es in einer empörten Reaktion des BDA auf den ILO-Bericht. Strukturreformen benötigten Zeit, um ihre volle Wirkung zu entfalten, erklärte der BDA, sie seien jedoch der richtige Ansatz.

Endlagersuche, die dritte

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Bund und Länder wollen über die Zukunft des deutschen Atommülls reden. Es ist die letzte Chance für ein neues Gesetz vor der Bundestagswahl. Es könnte das Ende des umstrittenen Salzstocks Gorleben bedeuten

Alle haben sie sich an Gorleben abgearbeitet, seit 15 Jahren schon. Der grüne Bundesumweltminister Jürgen Trittin setzte erst ein Moratorium für das umstrittene Atommüll-Projekt durch, und im Sommer 2005 legte er einen Gesetzentwurf für eine neue Standortsuche vor. Zu einem Gesetz kam es aber nie: Kurz darauf wurde Rot-Grün abgewählt. Sein Nachfolger, der SPD-Politiker Sigmar Gabriel, stellte gut ein Jahr später ebenfalls einen Gesetzentwurf vor. Schon der Titel war Programm: 'Verantwortung übernehmen, den Endlagerkonsens realisieren'. Stattdessen aber realisierte die große Koalition nur Streit: Das Gesetz scheiterte. Nach Fukushima unternahm der CDU-Mann Norbert Röttgen einen neuen Anlauf, bis ihn die Wahl in Nordrhein-Westfalen stoppte.


Die Suche um ein geeignetes Endlager geht weiter

Und nun dieser Dienstag.

Ein letztes Mal wollen Bund und Länder an diesem Dienstag zusammenkommen, um den Weg zu bereiten für eine neue Standortsuche - diesmal mit Bundesumweltminister Peter Altmaier (CDU), der das Projekt von Röttgen geerbt hat. Gut 70 Seiten umfasst der Gesetzentwurf, mit dem alles von vorne begönne. Ein Überblick.

Warum überhaupt eine neue Suche?

Der bisherige Favorit Gorleben ist seit Jahrzehnten umstritten. 1977 war Gorleben Ergebnis eines eher laxen Auswahlverfahrens, das obendrein nur am Rande geologischen Kriterien folgte. Seinerzeit suchte der Bund einen Platz für ein 'nukleares Entsorgungszentrum'. Der Ort im Wendland, nur einen Steinwurf von der damaligen Zonengrenze entfernt, schien dafür ideal zu sein. Und obendrein lag er auf einem gewaltigen Salzstock, er sollte den Atommüll aufnehmen. Stattdessen ist Gorleben seitdem nukleares Protestzentrum der Republik - vor allem bei den Castor-Transporten ins dortige Zwischenlager. Ob ein Endlager in Gorleben angesichts dieses Auswahlverfahrens jemals vor Gerichten Bestand gehabt hätte, ist ohnehin fraglich.

Was wird nun anders?

Grundlage der neuen Suche soll eine 'weiße Landkarte' sein. Soll heißen: Überall in Deutschland könnte ein Endlager entstehen - sofern die Bedingungen dafür stimmen. Dazu werden zunächst alle Gegenden ausgeschlossen, die nicht in Frage kommen. Übrig bliebe eine Handvoll von Regionen, die zunächst oberirdisch untersucht würden. Welche Standorte das sein werden, wird per Bundesgesetz festgelegt; wie viele es sein werden, ist noch offen. Aus diesen wiederum sollen dann bis 2023 Standorte ausgewählt werden, die auch unter Tage erkundet werden. Beschlossen werden diese Orte ebenfalls per Gesetz. Aus diesen würde dann ein Favorit erwählt - wenn alles glattläuft. Die Öffentlichkeit soll, anders als bisher, Einblick in alle Entscheidungen erlangen. 'Am Ende sollen alle sagen, dieses Verfahren ist so nachvollziehbar und transparent, dass es über jede Kritik erhaben ist', sagt Altmaier.

Welche Regionen kämen in Frage?

Theoretisch eignet sich neben Salz auch Ton oder Granit für die Lagerung von Atommüll. Salz findet sich vor allem in Norddeutschland, Ton dagegen vorwiegend in Baden-Württemberg. Ob auch der hiesige Granit in Frage kommt, wie er sich in Teilen Sachsens und Bayerns vorkommt, ist umstritten. Welche Regionen in Frage kommen, hängt damit vor allem von den Kriterien und Vorgaben ab, nach denen sich die Suche richtet.

Wer entscheidet über diese Kriterien?

Noch vor der Bundestagswahl soll eine 'Enquete-Kommission' ihre Arbeit aufnehmen, um Grundsatzfragen der Endlagerung zu diskutieren - inklusive dieser Kriterien. Dem 24-köpfigen Gremium sollen neben Abgeordneten auch Vertreter von Kirchen, Umweltverbänden, Wirtschaft und Wissenschaft angehören. Auch über den konkreten Arbeitsauftrag dieser Kommission wollen Bund und Länder an diesem Dienstag beraten. Bis Ende 2015 soll sie Ergebnisse vorlegen, die dann noch in das Gesetz eingearbeitet werden können - wenn sich im Bundestag die entsprechende Mehrheit findet. Ansonsten hätte die Kommission umsonst gearbeitet.

Wer organisiert die Suche?

Dazu soll eine neue Regulierungsbehörde entstehen. Sie überwacht die entscheidenden Schritte der Suche. Das Bundesamt für Strahlenschutz, bisher für Atom-Endlager zuständig, würde zum 'Vorhabenträger', also die eigentliche Erkundung der Standorte leiten. Diese Konstruktion birgt Konflikte, denn letztlich müssen beide Behörden stets kooperieren - vorschreiben können sie einander nichts.

Und wer zahlt das alles?

Nach geltendem Recht haben die Atomkraftbetreiber Suche und Errichtung eines Atomendlagers zu zahlen. Das Umweltministerium taxiert die Kosten der Suche auf zwei Milliarden Euro. Allerdings seien dafür 'die Dauer des Verfahrens und die Kosten für die Erkundung potenzieller Standorte bestimmend', heißt es im Entwurf - sehr zum Missfallen der Industrie. 'Einen Blankoscheck wird es von uns bestimmt nicht geben', heißt es aus Kreisen der Atomkraftbetreiber. Ohnehin bleibt unklar, ob sie jemals etwas von den 1,6 Milliarden Euro wiedersehen, die schon im Salzbergwerk Gorleben vergraben sind.

Was wird aus Gorleben?

Umweltverbände, aber auch das Land Niedersachsen, hatten auf ein Ende des Projektes im Wendland gepocht, aus geologischen wie politischen Gründen. Dies sieht das Gesetz nicht vor. Stattdessen legt ein eigener Paragraf dar, unter welchen Bedingungen Gorleben aus dem Kreis der Kandidaten genommen wird. Damit kann Gorleben nach wie vor Ergebnis des Suchverfahrens sein, es könnte aber auch auf Grundlage der neu zu verabredenden Kriterien herausfallen. Kritik an den geologischen Gegebenheiten - etwa wegen der Beschaffenheit des Salzes oder der darin eingeschlossenen Kohlenwasserstoffe - gibt es schon länger. Obendrein wäre der Bund fein raus, ließe sich der Salzstock im Rahmen des Verfahrens ausschließen: Die Atomwirtschaft hätte es dann wesentlich schwerer, ihre verlorenen Gorleben-Investitionen zurückzufordern. Ein erstes Zugeständnis allerdings erreichten die Gorleben-Gegner: Weitere Castortransporte ins dortige Zwischenlager sollen nicht mehr stattfinden.

Wohin gehen die Castoren stattdessen?

Aus Frankreich und Großbritannien kommen in den nächsten Jahren noch insgesamt 26 Castor-Behälter, die ursprünglich in Gorleben zwischengelagert werden sollten. Die Behälter enthalten die Reste deutschen Nuklearmaterials, das in Sellafield und La Hague wiederaufbereitet worden war. Fällt aber Gorleben als Zwischenlager flach, blieben nach Lage der Dinge nur die AKW-eigenen Lager - etwa im schleswig-holsteinischen Brunsbüttel und in Philippsburg in Baden-Württemberg. Auch darüber müssen Bund und Länder an diesem Dienstag beraten. Zumal es bislang Genehmigungen für die Castor-Transporte nur nach Gorleben gibt; und entsprechende Anträge müssen die AKW-Betreiber schon selbst stellen. Die aber schweigen.

Gelingt das Endlagergesetz noch vor der Wahl?

Sollte die Einigung am Dienstag gelingen, könnte die Zeit reichen. Zieldatum für die abschließende Beratung im Bundesrat ist der 5. Juli. Viel schiefgehen darf dann allerdings nicht mehr.

Und wann gäbe es ein neues Endlager?

Bis 2031, so will es das Gesetz, soll das Suchverfahren abgeschlossen sein. Dann erst beginnt die eigentliche Errichtung - Arbeit satt für noch eine ganze Generation Umweltminister.

Kommentar: Auf Facebook gegen die Krise

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Sie mussten ihr Land für einen Job verlassen - gegen das "erzwungene Exil" demonstrieren die Spanier auf Facebook. Der Verbündete ist die Justiz.


Am Wochenende haben junge Spanier in 33 Städten der Welt, von Amsterdam über Brüssel, Berlin, New York bis Buenos Aires, gegen das protestiert, was sie ihr 'erzwungenes Exil' nennen. Sie sind keine politisch Verfolgten und kein Gastarbeiter-Proletariat früherer Jahrzehnte, sondern gut ausgebildete Akademiker, die in ihrem krisengeschüttelten Heimatland keine Arbeit finden. 'Wir gehen nicht, sondern sie werfen uns raus', lautet ihr Slogan. Verbreitet wurde der Aufruf über eine Facebook-Seite, die in wenigen Wochen mehr als 100000 Freunde gewonnen hat.

Es gibt Dutzende solche Seiten in Spanien und anderen Ländern Südeuropas. Ihre Anhängerschaft lässt die der klassischen Medien und der Parteien weit hinter sich. Über sie artikulieren sich Arbeitslose, Opfer der Immobilienkrise, aufrührerische Senioren. Sie sind Foren einer hitzigen, im Kern aber konstruktiven Debatte, in der es darum geht, die nationale Katastrophe zu begreifen. Die meisten dieser Netzwerke entstanden infolge der Massenproteste des Jahres 2011. Man darf ja nicht vergessen, dass die Occupy-Bewegung in Madrid ihren Ursprung hat, an der Puerta del Sol versammelten sich am 15. Mai 2011 erstmals Hunderttausende, um gegen das Spardiktat zu protestieren.



Auf die Sparmaßnahmen der Regierung reagierten die Spanier im vergangenen Jahr mit Massenprotesten. Junge Spanier, die für einen Job ins Ausland gehen mussten, haben sich auch in Protestbewegungen im Internet vernetzt.

Da Demonstrieren alleine auf Dauer nichts bringt, hat sich die Diskussion ins Internet verlagert, wo manche Gruppen zum Teil sehr konkrete Forderungen stellen - und das mit Erfolg. So ist die Korruption, lange Zeit endemisch in Spanien, inzwischen sozial geächtet. Die Plattform der Hypothekengeschädigten erreichte über Umwege, dass der Europäische Gerichtshof das harsche spanische Schuldengesetz kürzlich für unvereinbar mit europäischem Verbraucherschutz erklärte.

Die Justiz ist bisher einziger institutioneller Bundesgenosse dieser Netzwerke: Gefeiert wird der Ermittlungsrichter, der sich traute, die spanische Königstochter im Korruptionsprozess gegen ihren Ehemann vorzuladen. Oder das portugiesische Verfassungsgericht, das Teile des Sparhaushalts kassierte. Andere Verbündete will die iberische Protestbewegung auch gar nicht. Ein Phänomen wie Beppe Grillo in Italien ist dort bisher ausgeblieben. Jeder, der versucht, politisch Kapital aus der Krise zu schlagen, wird ausgebuht.

Dass die Proteste friedlich geblieben sind, ist angesichts des Ausmaßes der Probleme bemerkenswert. Man male sich aus, was in Deutschland los wäre, wenn hier die Hälfte der Jugend arbeitslos und Millionen Menschen überschuldet wären. Doch Vandalismus, wie er sich etwa 2011 in Großbritannien Bahn brach, ist den Spaniern fremd. Noch immer haben sie zu viel zu verlieren. Die traditionelle Familiensolidarität fängt die schlimmsten sozialen Folgen ab. Wie lange noch? Die Proteste werden aggressiver. Beim umstrittenen escrache etwa belagern Demonstranten Häuser von Politikern, um dort laut ihre Forderungen vorzubringen. Es ist ein erstes Zeichen, dass das Ventil der sozialen Netzwerke bald nicht mehr reichen könnte.

Nazi-Talk zur besten Sendezeit

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Der griechische Privatsender Skai bietet Abgeordneten der rechtsradikalen Partei Chrysi Avgi ein Forum am Sonntagabend

Viele Zuschauer haben ihren Augen nicht getraut, als sie am Sonntagabend das Programm des privaten griechischen Fernsehsenders Skai einschalteten. 'Freischütz' heißt die Sendung, die aber mit der gleichnamigen romantischen Oper von Carl Maria von Weber nichts zu tun hat.

Passender wäre es auch, den Titel 'Eleftheros Skopeftis' mit Scharfschütze zu übersetzen. Denn zu der Sendung hatte der als Provokateur reichlich bekannte Journalist Giorgos Trangas, der erst seit kurzem für den bisher als liberal geltenden Sender Skai arbeiten darf, gleich vier Abgeordnete der griechischen Neonazi-Partei Chrysi Avgi (Goldene Morgenröte) eingeladen. Die durften eine Stunde lang unwidersprochen ihre rechtsradikalen Parolen verbreiten.


Das Symbol der Chrysi-Avgi-Abgeordneten: die geballte Faust

Stichwortgeber Trangas ließ gleich zu Beginn der Sendung wissen, bei den vier Herren handle es sich keineswegs um die Verkörperung des Bösen, das sitze vielmehr im Kanzleramt in Berlin. Für Trangas-Kenner sind solche Sprüche keine Überraschung. Der Mann gibt auch das Magazin Crash heraus, auf dessen Titel er Kanzlerin Angela Merkel schon in Handschellen zeigte. Sich selbst rückt er auch gern schon mal mit Hitler-Bildern und flankiert von Männern in Nazi-Uniformen ins Bild. Die Provokation in dem Privatsender aber hatte besonderen Geschmack: Es war auch ein Filmteam der ARD anwesend, das einen Beitrag für das Nachtmagazin der Tagesschau drehen wollte. Trangas hatte dem Team allerdings vorher nicht gesagt, wen er an diesem Abend ins Studio bitten würde.

Am Dienstag protestierten die Redakteure der liberal-konservativen Zeitung Kathimerini, die zu demselben Medienunternehmen wie Skai gehört, gegen den 'Freischütz'. In dem Protestbrief der Journalisten heißt es: 'Uns interessiert, warum hier vier nazinahen Hitler-Nostalgikern ohne journalistisches Gegengewicht ein Podium geboten wurde, auf dem sie ihre für die Demokratie gefährlichen Ansichten verbreiten konnten?'

Die größte Oppositionspartei, die linke Syriza, protestierte ebenso gegen die Sendung wie die zwei Koalitionsparteien der Linken, Pasok und Dimar. Nur von der konservativen Nea Dimokratia (ND) von Premierminister Antonis Samaras war keine öffentliche Kritik zu vernehmen. Die ND ist unter Druck von rechts und darin gespalten, wie sie mit dem Erfolg der Neonazi-Partei umgehen soll, deren Parteisymbol einem Hakenkreuz ähnelt. Ein Teil der ND hofft, die abtrünnigen Wähler mit national getönten Parolen zurückgewinnen zu können. Der Erfolg der Goldenen Morgenröte aber hat alle Parteien erschreckt. In der Wahl am 17. Juni 2012 gewann diese mit 6,92 Prozent 18 von 300 Parlamentssitzen. Während ihrer Vereidigung hoben alle Chrysi-Avgi-Abgeordneten demonstrativ den rechten Arm und ballten die Faust. In Umfragen legte die Partei inzwischen noch zu und kam zuletzt auf Platz drei hinter ND und Syriza.

Auch Syriza-Politiker hat Trangas schon in seine Sendungen eingeladen. Seine Botschaft ist dabei im Kern immer gleich: Sie richtet sich gegen das von der EU und dem Internationalen Währungsfonds auferlegte Reform- und Sparprogramm. Dabei zielt er vor allem auf Deutschland. Die Verantwortung für die griechische Misere wird allein im Ausland gesucht, nicht bei den eigenen Politikern, vor allem nicht bei den Konservativen der früheren Regierung von Kostas Karamanlis. Stattdessen gibt es höchst schlichte Verschwörungstheorien über eine angebliche deutsche Machtergreifung in Europa. Damit trifft Trangas durchaus den Geschmack eines beachtlichen Teils des griechischen Publikums, was offenbar auch für seine Beschäftigung bei Skai sprach. Die stieß auch im Sender und nicht nur bei der mit ihm verbundenen seriösen Zeitung Kathimerini sofort auf inneren Widerstand. Allerdings hat der aber bisher wenig bewirkt.

Bis vor zwei Monaten hatte der 64-jährige Journalist noch ein viel kleineres Forum in einem anderen Kanal (Kontra Channel), dessen Besitzer der Steuerhinterziehung in großem Stil bezichtigt wird. In dem Kanal sammeln sich viele Reformgegner. Die Unabhängigkeit der griechischen Medienhäuser von politischen Interessen war auch in der Vergangenheit zweifelhaft. Nun sind viele tief verschuldet, doch die Banken dürfen ihnen keine weitere Hilfe gewähren, weil sie gerade mit Milliardenkrediten der internationalen Geldgeber rekapitalisiert werden.

In einem ARD-Interview nach seinem Auftritt sagte Trangas, er habe die vier Chrysi-Avgi-Leute nur eingeladen, 'damit sie sich entlarven'. Er selbst sei gar kein Unterstützer dieser Partei. Dann wetterte er gegen Wolfgang Schäuble. Der Bundesfinanzminister sei ja einst Opfer eines feigen Anschlags geworden, sagte Trangas, 'und mit derselben Feigheit' ziele er nun 'auf Millionen von Europäern'. Der ARD-Reporter Bernd Niebrügge wusste am Dienstag noch nicht, wie viel von dem Trangas-Interview er seinem Publikum am Donnerstag um 24 Uhr zumuten soll.

Reizende Kollegen

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Wie weit darf die Staatsgewalt gegen Demonstranten vorgehen? Um diese Frage geht es jedes Jahr am 1. Mai. Vor einem Berliner Gericht wurde sie nun erneut gestellt - allerdings von Polizisten, die selbst Opfer wurden.

Es war eine vergleichsweise ruhige Demonstration für einen 1. Mai in Berlin: Vereinzelt wurden am Kottbusser Tor in Kreuzberg Flaschen geworfen, vereinzelt Steine. Die Demonstranten sangen Lieder, in denen sie die Polizei beschimpften. Und die Polizisten versuchten, die Protestler zu kontrollieren, und das nicht nur mit freundlichen Worten. So weit, so üblich. Ansonsten war an diesem Tag aber alles anders. Denn am Ende gab es verletzte Beamte, deren Blessuren nicht auf das Konto der Demonstranten gingen. Die Männer wurden von ihren eigenen Kollegen attackiert. Aber der Reihe nach.

An diesem Dienstag hat das Kriminalgericht Moabit über zwei Beamte der 'Einsatzhundertschaft 5' verhandelt. Die Staatsanwaltschaft warf den beiden Männern gefährliche Körperverletzung vor. Sie sollen sich mit Schlägen und Tritten durch eine Gruppe von anderen Beamten gedrängt haben - ohne Not, ohne Anlass. Kläger sind die betroffenen Kollegen, die an jenem 1. Mai 2011 auch in Kreuzberg im Einsatz waren. Der Unterschied: Sie trugen keine Uniformen.



Bandmitglieder zünden am Dienstag (01.05.2012) in Berlin auf der Bühne des 'Antikapitalistischen Barrios' beim 'Myfest' bengalische Feuer

Fest steht: Die zwei Gruppen der Einsatzhundertschaft liefen an diesem Tag durch die Menge. Wer nicht zur Seite ging, wurde weggeschubst; das haben Beamte von Landes- und Bundespolizei bestätigt. Doch der Rest des Geschehens ist ein einziges Durcheinander. Vor Gericht geht es um viele Details. Wer kam aus welcher Richtung? Wer trug gehärtete Schutzhandschuhe? Wer eine Uniform? Wer hatte Reizgas dabei? Doch vor allem geht es um eine Frage: Wie weit darf die Staatsgewalt im Umgang mit Demonstranten gehen?

Man kennt diese Frage vom 1. Mai. Sie kehrt jedes Jahr wieder. Doch in der Regel wird sie nur von den Demonstranten gestellt - deren lautere Absichten an diesem berüchtigten Berliner Randale-Tag nicht immer klar sind. Nun aber stellt die Polizei diese Frage. Ein Novum.

Die Mai-Demos fordern die Einsatzkräfte jedes Jahr enorm heraus. Es gibt Kundgebungen von Neonazis, Gegenkundgebungen von Linksradikalen. Manche Demonstranten sind vermummt, manche gewalttätig. Die Polizei muss Plätze sperren, Räumfahrzeuge und Wasserwerfer einsetzen. Sie ist nicht zu beneiden: Die eine, die richtige Maßnahme, um die Unruhen zu kontrollieren, hat sie bisher nicht gefunden.

Und so werden vor dem Kriminalgericht in Moabit auch die zwei Vorgehensweisen verhandelt, mit denen die Beamten es seit Jahren im Wechsel probieren: die aggressiv-abschreckende und die unauffällig-deeskalierende. Als Zeugen werden zunächst die betroffenen Zivilbeamten vernommen. Sie berichten, dass die Lage am Kottbusser Tor ruhig gewesen sei. Dann hätten sie einen Demonstranten festnehmen wollen, der eine Flasche geworfen hatte. Plötzlich seien jedoch Mitglieder der Einsatzhundertschaft 5 aus verschiedenen Richtungen auf sie zugelaufen. Einer der Zivilpolizisten habe einen seiner Kollegen zur Seite ziehen müssen. Ein anderer sei ins Gesicht geschlagen worden, außerdem sei nach ihm getreten worden. Die Uniformierten versprühten Reizgas, ihre Kollegen in Zivil zogen sich zurück. Der geschlagene Polizist blutete aus der Lippe, andere Kollegen hatten Reizungen im Gesicht. Wer geschlagen und wer getreten hat, können die Zivilbeamten vor Gericht nicht sagen. Groß seien die Uniformierten gewesen. 'Wie eine Wand' seien sie gelaufen. Erkannt habe man die Männer der Einsatzhundertschaft an der Kennung auf der Uniform: 'E'.

Die Angeklagten, 1,90 und 1,92 Meter groß, kantige Gesichtszüge, verweigern ihre Aussage. Ob es besondere Vorkommnisse an jenem Abend gab, werden weitere Mitglieder der Einsatzgruppe gefragt. Die Männer verneinen. Ob jemand geschlagen oder getreten habe? Sie verneinen. Der Staatsanwalt nennt das Vorgehen der Angeklagten 'völlig sinn- und anlasslos', er fordert für den einen eine Freiheitsstrafe von neun Monaten auf Bewährung, für den anderen eine Geldstrafe von 3000 Euro. Die Verteidigung nennt den 1. Mai zwar auch eine 'gruselige Schöpfung', fordert aber einen Freispruch - aus Mangel an übereinstimmenden Beweisen. Die Richterin folgt dieser Argumentation, auch wenn sie 'keinen Zweifel' an den Schlägen hat, auch nicht daran, dass es einer aus der Gruppe der Angeklagten war. Nur wer genau?

Nach der Urteilsverkündung steht einer der Zivilbeamten vor dem Gericht, ein kleiner, schmächtiger Mann mit Brille. Ob er dieses Jahr am 1. Mai im Einsatz sei? Nee, sagt er. 'Gott sei Dank nicht.'

Im Namen des Radieschens

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Wie detailliert die Ermittler auch den absurdesten Vermutungen im Fall Christian Wulff nachgegangen sind.

Sechsmal Ente, einmal Spanferkel, einmal Bratwürste und ein Bauernhendl, vorher Speckplatten, Brezen und jede Menge Radieschen. Im Käfer-Festzelt auf der Wiesn, Tisch Drei, im Obergeschoss rechts in der Ecke, ließen es sich die Besucher gut gehen: 13 Maß Bier, sechs Liter Champagner, einige Radler und eine Menge Wasser standen nach Mitternacht auf der Rechnung, dreimal Milchkaffee auch. Insgesamt wurden an diesem 27. September 2008 an Tisch drei Speisen und Getränke für 3209,30 Euro verzehrt. Manche lassen es halt krachen auf dem Oktoberfest.


Christian und Bettina Wulff ließen es sich auf dem Oktoberfest gut gehen

Bezahlt hat das alles der Filmmanager David Groenewold. Mit am Tisch saßen, zeitweilig zumindest, unter anderem der Verleger Hubert Burda, seine Frau Maria Furtwängler und das Ehepaar Bettina und Christian Wulff.

Wer wann wie viel genau gegessen und getrunken hat, ist für die Korruptionsermittler aus Hannover von ziemlicher Bedeutung gewesen. Die Angaben darüber sind Glaubwürdigkeitstest in dem Verfahren. Auf den 24 Seiten eines 'Fakten-Checks/Analyse: Zeugenaussage B. Wulff vs. Ermittlungsergebnisse', findet sich unter Punkt fünf die Sache mit Tisch Drei.

Bettina Wulff hatte in ihrer fast hundert Seiten umfassenden Vernehmung im September vorigen Jahres erklärt, sie habe damals Sohn Linus gestillt und deshalb allenfalls ein 'halbes Glas Sekt oder Champagner' getrunken. Ihr Mann, der keinen Alkohol möge, habe Wasser getrunken, und 'nach zwei Stunden' seien sie wieder gegangen. Ob sie 'Brathendl vielleicht, also ein halbes Hähnchen oder so?' gegessen habe, fragte ein Oberstaatsanwalt. 'Ja'.

Die Ermittler haben, erst per Telefon, dann in einer Zeugenvernehmung, die Kellnerin befragt, die Tisch Drei bediente. Auch Burda wurde dazu vernommen. Viel kam dabei nicht ans Licht.

Egal. 'Entgegen der Aussage' von Bettina Wulff sei 'bei lebensnaher Betrachtung' davon auszugehen, schrieb ein Kriminalkommissar, dass das Ehepaar Wulff mehr getrunken und gegessen habe als angegeben. Und 'entgegen der Aussage der Zeugin' sei das Ehepaar nach Zeugenaussagen mindestens dreieinhalb Stunden im Festzelt gesessen.

Groenewolds Anwalt Bernd Schneider teilte vorigen Monat den Ermittlern die 'Vermutung' seines Mandanten mit, Christian Wulff habe 'anteilig ein paar Radieschen oder Würstchen vom Vorspeisenteller, eine halbe Ente' gegessen und 'zwei alkoholfreie Maß Bier und eine Flasche Wasser' getrunken. Bei Bettina Wulff würde er auf 'anteilig ein paar Radieschen oder Gemüse vom Vorspeisenteller, ein halbes Hendl sowie zwei Flaschen Wasser' tippen. Als die Wulffs weg waren, seien Gäste gekommen, die tüchtig gebechert hätten.

Auch egal - die Radieschen, das Hendl und die halbe Ente zumindest, für die Groenewold Verzehrgutscheine erworben hatte, werden wohl irgendwie in der Anklage vorkommen.

Alte Bekannte

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Bis 2030 werden sechs Millionen Deutsche älter als 80 Jahre sein. Einen Umzug ins Heim können sich viele weder vorstellen noch leisten. Eine Alternative

In seinem neuen Wohnquartier hat Horst Bertuleit viele Fans. Sie warten auf ihn, gleich unten im Haus. Der alte Mann muss nur die zwei Stockwerke aus seinem Appartement im Fahrstuhl nach unten fahren, an Krücken über den Kopfsteinpflaster-Hof humpeln und die Tür zum Kindergarten aufdrücken. Ein kleines Mädchen rennt ihm schon im Flur entgegen, schlingt die Arme um seine Beine. 'Hallo Herr Bertuleit!', ruft das Kind.

Es ist ein Moment des Glücks - ein kleines Mädchen umarmt einen alten Mann. Eine Szene, die völlig alltäglich sein sollte und doch auffällt in einer Welt, in der kleine Kinder vor allem von jungen Frauen betreut werden und alte Menschen viel zu selten ihre Wege kreuzen.


Für viele alte Menschen kommt ein Altersheim nicht in Frage

Horst Bertuleit ist 85 Jahre alt. Er hat eine neue Herzklappe, zwei Hörgeräte und steife Beine. In dem Reihenhaus mit den vielen Stufen am Stadtrand von Bremen hätte er nach seiner Herzoperation nicht bleiben können. Das Wort 'Altersheim' aber fand seine Frau schrecklich. Und so machte sich das Paar auf die Suche nach einer anderen Wohnmöglichkeit und fand das 'Haus im Viertel', ein Wohnprojekt der Bremer Heimstiftung für alte und körperlich behinderte Menschen in der Bremer Innenstadt. Eine Wohnanlage, wie sie künftig für viele Menschen eine Alternative zum Heim werden könnte.

Horst Bertuleit und seine Frau repräsentieren gewissermaßen die Zukunft des Alters. Menschen wie sie werden künftig verstärkt das Stadtbild prägen. Denn der Anteil von alten Menschen an der Bevölkerung wächst rasant. Statt wie heute gut vier Millionen werden schon 2030 mehr als sechs Millionen Deutsche älter als 80 Jahre sein, prognostiziert das Statistische Bundesamt. Vor allem aber werden es auch andere alte Menschen sein. Die künftigen Alten sind in einer Zeit sozialisiert worden, in der es mehr Raum für individuelle Lebensentwürfe gab als bei der Kriegsgeneration. Den Anspruch auf Individualität werden sie auch im Alter nicht so leicht aufgeben, sagen Soziologen voraus.

Die nächste Senioren-Generation wird sich nicht in große Pflege-Blocks am Stadtrand abschieben lassen, davon ist Alexander Künzel überzeugt. Künzel ist der Vorstand der Bremer Heimstiftung und damit auch Chef von 15 Pflegeheimen. Doch sein Herz schlägt nicht für diese Art der Altenpflege. 'Niemand will in ein Heim ziehen', sagt er. Vor fünfzehn Jahren eröffnete die Stiftung das 'Haus im Viertel'. Es war ein Test. Der Versuch, das Zusammenleben von Alt und Jung neu zu gestalten, so dass sich die Menschen gegenseitig helfen. So könnte mancher Heimplatz überflüssig werden, glaubt Künzel: 'Mindestens die Hälfte der heutigen Heimbewohner könnte auch alleine zurecht kommen, wenn es genügend Hilfsstrukturen gäbe.'

In der Pflegebranche ist Künzel mit seinen Thesen ein Außenseiter. Zwar gibt es neue altersgerechte Wohnformen inzwischen an vielen Orten in Deutschland. Das Gesundheitsministerium fördert die Einrichtung von Alten-WGs. Die meisten großen Anbieter setzen aber weiter auf den Bau neuer Pflegeheime. Nicht so die Bremer Heimstiftung: Sie hat einen Baustopp für klassische Pflegeheime beschlossen und verringert in ihren großen Häusern sogar die Bettenzahl. Manch einer aus der Branche hält Künzel deshalb für naiv. Doch der Mann mit den kurzen grauen Haaren und dem verschmitzten Lächeln gefällt sich in der Rolle des Rebellen. Er hat mit drei anderen Anbietern das Netz 'Soziales neu gestalten' gegründet, um auch politisch für ein Umdenken zu werben: 'Große anonyme Pflegeheime sind kein guter Ort - weder zum Leben noch zum Arbeiten', sagt er. Das zeigten auch die höheren Krankheitsquoten von Mitarbeitern in großen Häusern. Es sei an der Zeit, große Heime aufzulösen oder umzugestalten.

Die Bremer Heimstiftung bietet inzwischen in allen Vierteln Bremens altersgerechte Wohnmöglichkeiten. Das Konzept ist immer das gleiche: Wohnungen baut die Stiftung dort, wo öffentliches Leben stattfindet oder integriert werden kann: In einem Komplex ist eine Theaterschule mit aufs Gelände gezogen, in einem anderen ist die Mensa der Berufsschule - so dass die Auszubildenden nun einmal im Monat für die betagten Nachbarn kochen.

Aus der Wohnung der Bertuleits überblickt man durch große Fenster den ganzen Hof. 'Ich kriege alles mit', sagt Horst Bertuleit. 92 altersgerechte Wohnungen in modernen Gebäuden gruppieren sich um ein früheres Feuerwehrhaus aus rotem Backstein. Wo einst Feuerwehrautos parkten, stehen jetzt die Tische eines Restaurants. Die Räume im oberen Stock nutzt die Volkshochschule, und auch Bewohner und Nachbarn bieten Kurse an - darunter Bremer Stadtkunde und Yoga im Sitzen. Die Stiftung vermietet nur die Wohnungen, stellt Gemeinschaftsräume zur Verfügung und hilft den Bewohnern, sich zu organisieren. Anders als in einem Heim gibt es keinen Essensservice. Wer nicht mehr kochen kann, muss Essen kommen lassen. Und wer gar nicht mehr allein zurecht kommt, kann in einer Pflege-WG unterkommen. Ein Teil der Bewohner aber zieht irgendwann doch ins Heim, wenn das Leben im Viertel an seine Grenzen stößt.

Manch ein Experte bewertet die Quartierswohnungen denn auch skeptisch. Ambulante Pflege im Quartier als Ersatz zum Heim etablieren zu wollen, sei 'Sozialromantik', sagt Josef Thiel, Geschäftsführer der Firma Terranus, die Pflegeheime berät. Künftig würden so viele Menschen Pflege brauchen, dass alle Betreuungsformen ausgebaut werden müssen, sowohl Heime als auch die Pflege zu Hause. Wichter als schicke neue Quartiers-Häuser seien dabei Angebote in den bestehenden Wohnanlagen, denn viele Menschen könnten sich einen Umzug schon wegen der damit verbundenen Mieterhöhung gar nicht leisten.

Zukunftsfeste Quartiere müssen also dort geschaffen werden, wo die Menschen heute schon wohnen. Das weiß auch Künzel. Die Bremer Heimstiftung hat deshalb zuletzt keine neuen Quartierswohnungen gebaut, sondern engagiert sich im Umbau von Hochhaussiedlungen. In den Mehrparteienhäusern bleibt jetzt eine Etage unvermietet und dient als Treffpunkt. Im 'Haus im Viertel' hat sich Horst Bertuleit in einer Abstellkammer eine Werkstatt eingerichtet. Dort stapelt sich, was er bereits mit den Kindergartenkindern gebaut hat: Ein Kasperletheater samt Puppen aus Pappmasché, hölzerne Dampfer und selbstgezimmerte Verkehrsschilder, mit denen er den Kindern die Verkehrsregeln beibringt.

'Wer will heute mit Herrn Bertuleit basteln?', fragt die Erzieherin. Viele Kinder wollen, doch nur sechs dürfen. Wenig später sitzen sie auf Stühlchen um einen Kindertisch. Bertuleit hat sich mühsam in einen von ihm selbst aus früheren Bürozeiten geretteten Drehstuhl fallen lassen und verteilt Ausmal-Bilder. Er thront etwas erhöht über den Kindern. Ein großer alter Mann mit immer noch starken Händen, weißen Haaren und tausend Fältchen hinter der altmodisch großen Brille. Ein ehemaliger Sicherheitsingenieur der AEG, ehemaliger Kirchenvorstand und jetzt längster, freiwilliger Kindergartenmitarbeiter, wie er selbst betont.

'Nicht über den Strich malen', ermahnt er mit einer altmodischen Strenge. Die Kinder beobachten ihn neugierig. 'Was ist das?', fragt ein Junge, als Bertuleit ein Hörgerät auf den Kindertisch auseinanderbaut und eine neue Batterie einsetzt. Ein Mädchen im Sternenkleid fasst ihn am Handgelenk und zeigt ihm ihr Bild. 'Das hast du ganz toll gemacht', sagt Bertuleit. Das Mädchen lächelt stolz.

Nur wenige Bewohner engagieren sich so aktiv in der Wohnanlage wie Bertuleit. 'Den meisten ist der Kindergarten völlig egal', sagt eine Rentnerin, die selbst regelmäßig mit den Kindern frühstückt. Auch die Kursangebote nutzen die wenigsten. Für Hausleiterin Ursula Schnell ist das kein Argument gegen das Konzept. Ihr seien kleine, von den Bewohner selbst erdachte Kurse lieber als die Veranstaltungen, die sie aus Heimen kennt: 'Da hat man die alten Menschen in einen Raum gefahren, egal ob sie Lust hatten oder nicht.' Es gehe auch gar nicht darum, dass alle Bewohner überall mitmachen müssten. 'Wir brauchen hier Leben. Es müssen Menschen ein und ausgehen. Sonst ist das hier tot.'

Schuldenfalle Studium

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Die Commerzbank hat Studenten nicht über das Auslaufen ihrer Kredite informiert und hohe Überziehungszinsen gefordert. Manche Hochschüler warten seit langem auf eine Lösung

München - Studienabschluss oder schuldenfrei: Anna Mante* würde sich noch einmal für Ersteres entscheiden. Die 26-Jährige bereut es nicht zu studieren. Wenn sie nach ihrem Master die Hochschule verlässt, wird die Absolventin aber mit hohen Schulden ins Berufsleben eintreten. Schon jetzt summieren sich ihre Verbindlichkeiten auf mehr als 39000 Euro - mehr als geplant. Als Mante vor fünf Jahren ihr Bachelorstudium in Medienwissenschaften begann, nahm sie einen Studienkredit bei der Dresdner Bank auf. Höchstens 34000 Euro sollte Mante inklusive Zinsen zurückzahlen, so war es mit der Bank vereinbart.

"Flexi-Studienkredit" nannte sich das Angebot für Studenten, das die Dresdner Bank von 2006 bis 2009 im Portfolio hatte. Das "Flexi" im Namen stand für volle Flexibilität, die Rückzahlungskonditionen blieben bei Abschluss des Kreditvertrages offen. Erst bei Fälligkeit nach einer Karenzzeit von einem Jahr sollte vereinbart werden, zu welchem Zinssatz, in wie vielen Raten und in welcher Höhe der Kredit zurückgezahlt werden würde. Die Berufsanfänger sollten die Tilgungsbedingungen so ihrem Einkommen nach dem Studium angleichen können. Da Mante an einer privaten Medienakademie während ihres Bachelor-Studiums allein um die 20000 Euro Studiengebühren zahlte, war sie auf solch einen Kredit angewiesen: "Ohne das Geld wäre das Studium für mich niemals möglich gewesen", sagt die 26-Jährige.



Für einige Studenten wäre der Hochschulabschluss ohne Studienkredit nicht möglich. Ein angeblich flexibler Kredit hat sich für manche allerdings als Schuldenfalle herausgestellt.

Während Mante noch studierte, schluckte die Commerzbank 2009 die Dresdner Bank und übernahm damit auch die Flexi-Studienkredite. Als für Anna Mante im Oktober vergangenen Jahres die Rückzahlung anstand, war von der versprochenen Flexibilität nicht mehr viel übrig: Zunächst informierte die Commerzbank die Studentin überhaupt nicht über die Fälligkeit des Darlehens. Monate später forderte das Institut dann innerhalb von wenigen Wochen die Tilgung der gesamten Kreditsumme - für die Masterstudentin ohne geregeltes Einkommen kaum realisierbar. Mittlerweile sind hohe Überziehungszinsen angefallen und Anna Mantes Schuld beläuft sich auf mehr als 39000 Euro. Wie sie das Geld sofort zurückzahlen soll, dies weiß sie nicht.

Ähnlich geht es vielen Studenten, deren "flexible" Kreditverträge von der Commerzbank übernommen wurden. Schon im vergangenen Jahr berichteten vermehrt Studierende, dass die Bank sie über das Auslaufen der Darlehen nicht rechtzeitig in Kenntnis gesetzt hatte. Die Commerzbank forderte ohne Vorwarnung entweder die sofortige Rückzahlung des gesamten Kredites - in manchen Fällen mit Überziehungszinsen von bis zu 18 Prozent - oder die Aufnahme eines neuen Kredites zu ebenfalls hohen Zinssätzen. Die Commerzbank selbst räumt ein, "mit einigen wenigen Kunden" nicht rechtzeitig über die Rückzahlungsbedingungen gesprochen zu haben. Mit allen Kunden seien aber nun einvernehmliche Lösungen getroffen worden, sagt ein Sprecher der Bank.

Der Kieler Rechtsanwalt Helge Petersen, der allein 2012 mehr als 90 Fälle in dieser Sache betreute, sieht das anders. Er vermutet hinter dem Verhalten der Bank System: "Bei sehr vielen Vertragsverhältnissen mit Beträgen im Bereich von 30000 bis 50000 Euro ist das für die Bank natürlich auch ein gutes Geschäft. Das ist mit Sicherheit kein Zufall". In vielen Fällen sei die Bank nach einem Schreiben der Kanzlei zwar eingeknickt und habe tatsächlich angemessene Umschuldungsangebote gemacht. Doch noch immer melden sich Studenten bei der Kanzlei, die über sofortige Rückzahlungsforderungen seitens der Bank oder horrende Zinssätze klagen, noch immer haben manche kein akzeptables Angebot erhalten.

Auch Mareike Finz* hat bis heute mit der Commerzbank keine Einigung erzielt. Für ihr Studium in den USA nahm die heute 25-Jährige vor sechs Jahren einen Flexi-Studienkredit bei der Dresdner Bank auf, 2009 wurde der Kreditrahmen für ihr Masterstudium noch einmal erhöht. Als sie sich einige Monate vor Beginn der Rückzahlungsphase Ende 2011 selbst bei der Commerzbank nach den Konditionen erkundigte, erhielt sie keine Antwort. Erst Monate später meldete sich das Kreditinstitut und machte der Studentin ein Angebot mit einem Zinssatz von mehr als 13 Prozent. Mareike Finz lehnte ab, seitdem kamen Bank und Studentin nicht überein. Fast 30000 Euro Schulden haben sich auf dem Konto von Mareike Finz angehäuft, immerhin 6000 Euro mehr als die Studentin eigentlich kalkuliert hatte.

"Bei der Vergabe eines Studienkredites ohne vorher vereinbarte Zinsbindung für die Rückzahlungsphase ist der Kreditnehmer der Bank ausgeliefert", sagt ein Sprecher der Verbraucherzentrale Bayern zu den Vorfällen. Wer gleich nach dem Studium keine Anstellung bekomme, habe es schwer, eine Bank zu finden, die den Studienkredit zu fairen Konditionen ablöse. Der Kreditnehmer muss daher die von der Bank gewählten Zinssätze akzeptieren. Hier werde der Verbraucherzentrale zufolge eine Notsituation ausgenutzt.

Anwalt Helge Petersen rät betroffenen Studierenden, sich in keinem Fall auf zu hohe Zinssätze einzulassen: "Bei diesen Vertragsverhältnissen scheint bei Abschluss bewusst eine Lücke gelassen worden zu sein. Hier muss der Vertrag konkludent in seinem Sinn ausgefüllt werden, das heißt der Zinssatz muss sich in jedem Fall am günstigsten Vertrag orientieren". Beim staatlichen Studienkredit des Marktführers, der als studentenfreundlich geltenden KfW-Bank, lag der Zinssatz in den vergangenen Jahren noch nie oberhalb von 6,5 Prozent. Obwohl die Studiengebühren bereits in fast allen Bundesländern abgeschafft worden sind, verzeichnet die KfW-Bank von Jahr zu Jahr mehr ausgegebene Darlehen.

*Namen geändert

Internet statt Hörsaal

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Die Plattform Iversity bringt Uni-Kurse ins Netz. Jeder kann so etwas für seine Bildung tun, wann und wo er will - und zum großen Ärger mancher Hochschule

Berlin - Als die vier jungen Männer an einem grauen Herbsttag das feine Berliner Hotel Adlon verlassen, fühlen sie sich, als könnten sie die Welt einreißen. "Vielleicht nicht die ganze, aber mindestens die halbe", sagt Hannes Klöpper damals, viereinhalb Jahre ist das her. Die Freunde studieren noch, ein Jahr lang haben sie in ihrer Freizeit an einem Konzept für ein Bildungsportal gearbeitet, das sie im Netz zur zentralen Plattform für akademisches Wissen machen wollen: Vorlesungen an Hochschulen und Universitäten, Vorträge und Kolloquien, Seminare und Diskussionsrunden sollen bald online verbreitet werden, am besten interaktiv. Jeder, Schüler, Wissenschaftler, Rentner sollen mitmachen.

An jenem Novembertag erhalten die Studenten für ihre Idee einen ordentlich dotierten Preis und viel aufmunterndes Schulterklopfen. Dann passiert: nichts. Die jungen Männer finden keinen Investoren für das Projekt. Selbst der innovationsfreudige SAP-Gründer Hasso Plattner, der heute ein ähnliches Portal an seinem Potsdamer Institut betreibt, lässt sich damals nicht von ihnen überzeugen. "Da haben uns Mut und Elan verlassen", sagt Klöpper. Sie bringen die Bildungsplattform nie ans Netz, die Gruppe gibt die Zusammenarbeit auf, einer schreibt nun seine Doktorarbeit in München, ein anderer ist jetzt Referent einer Stiftung in Westfalen.

Nur Hannes Klöpper ist doch noch Unternehmer geworden. Auf Umwegen. Klöpper wird bald 30, er hat an einem Buch über die Universität des 21. Jahrhunderts mitgearbeitet - und er hat vor zwei Jahren Jonas Liepmann, einen angehenden Theaterwissenschaftler, kennengelernt. Der ärgerte sich während seines Studiums über wenig taugliche Intranet-Lösungen zweier Universitäten. Klöpper wiederum beschäftigte sich mit der Frage, wie das Internet Hochschulen und Bildung zum Besseren verändern könnte. "Wir hatten ein gemeinsames Thema und bald die Idee, daraus etwas zu machen", sagt Klöpper. Herausgekommen ist Iversity, eine Online-Plattform für Forschung und Lehre, zum Kommunizieren und Arbeiten: ihr digitaler Campus.



Ob es auch in Zukunft so voll sein wird im Hörsaal? Bildungsplattformen wie "Iversity" bieten Online-Vorlesungen an - und werden immer beliebter.

Diesmal sollte es nicht am Geld scheitern, die Plattform ans Netz und das Unternehmen zum Laufen zu bringen. Die beiden setzten mit ihrer Geschäftsidee auf einen Trend, der, ausgehend von den USA, mehr und mehr Universitäten in der Welt erfasst: frei zugängliche und kostenlose Online-Lehrveranstaltungen, auch Massive Open Online Courses (MOOC) genannt. "Viele Lebensbereiche hat das Internet bislang revolutioniert", sagt Klöpper. "Warum nicht auch die Uni-Welt?" Von einem Fonds haben die beiden Gründer ein Startkapital von einer Million Euro bekommen - ausreichend Kapital, um das Iversity-Netzwerk zum Wintersemester 2011/2012 zu starten. Mit der Telekom, weiteren Risikokapitalfonds und privaten Geschäftsleuten haben die Gründer weitere Geldgeber gefunden. Kapital und Erfahrung bringt seit kurzem auch Marcus Riecke ein, der einst bei Ebay und Studi-VZ Geld verdiente und nun bei Iversity als Geschäftsführer eingestiegen ist.

Nach einem Jahr nutzen über 60000 Studenten und mehrere hundert Professoren die Online-Plattform, Tendenz steigend. Die Gründer und ihre nun mehr als 20 Mitarbeiter wollen mehr: Mindestens Europas führende MOOC-Plattform werden. Einfach wird das nicht. Inzwischen bieten andere ähnliche Plattformen an: In Potsdam experimentiert das Hasso-Plattner-Institut mit frei zugänglichen Online-Kursen. In Lüneburg hat die Universität die Leuphana Digital School gestartet. In München haben sich die beiden Universitäten zu dem Iversity-Pendant Coursera zusammengeschlossen. Allein auf dieser Plattform haben sich bereits zwei Millionen Studenten eingeschrieben.

Klöpper sagt, Iversity könne dagegen gut bestehen: "Die meisten Angebote wärmen im Netz nur ziemlich abgestandene Lehrmethoden auf", sagt er. Mit seinem Portal solle Schritt für Schritt ein soziales Netzwerk entstehen, in dem sich Bildungshungrige sämtlicher Generationen und Interessen treffen, um interaktiv mit- und voneinander zu lernen. Technisch ist das längst möglich: Computer oder Tablets und Internetanschlüsse besitzen die meisten Menschen. Klöppers Team will die Geräte nun mit Lehrprogrammen, Videos, Aufgabenstellungen und Quiz-Formaten füttern. In Hoppegarten, gleich neben der Berliner Pferderennbahn, hat das junge Unternehmen gerade sein neues Quartier bezogen. "Die Umgebung stimmt, ausreichend Startkapital ist da", sagt Klöpper.

Für Lernwillige soll die Plattform dabei kostenlos bleiben. Geld verdienen wollen die Iversity-Gründer mit Gebühren für Abschlussexamen, für Lizenzen oder für das Finden und die Vermittlung von Spezialisten an Unternehmen. "Konzerne könnten sich die Weiterbildung ihrer Mitarbeiter von Hochschulen maßschneidern lassen oder selbst Bildungsangebote machen", sagt Klöpper. "Wenn etwa BMW einsteigen würde, wären Tausende Studenten dabei."

Dafür muss Klöpper aber noch mehr Universitäten und Professoren von Iversity überzeugen. Viele Hochschulen schrecken vor dem Aufwand für Online-Kurse zurück oder wollen ihre Studenten lieber vor Ort haben. Zudem steht bei solchen Kursen noch nicht fest, wie Prüfungen abgelegt werden können. Gemeinsam mit dem Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft hat Klöpper daher einen Wettbewerb organisiert, Professoren sollen Online-Kurse und Vorlesungen für die Plattform erarbeiten. Die zehn überzeugendsten Konzepte, von einer Jury ausgewählt, werden dann mit jeweils 25 000 Euro prämiert. "Wir brauchen die Besten und Originellsten", sagt der Unternehmer, der nun erstmals vom Kapitalnehmer zum Geldgeber aufgestiegen ist. "Auch das", sagt Klöpper und grinst, "ist eine neue Erfahrung für mich."

Pullis im TV

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Nach Heidi Klum, will Pro Sieben nun auch Claudia Schiffer für eine Casting-Show anwerben. Dabei soll sie nach neuen Designertalenten suchen.


Es gibt ein paar Dinge, die vernünftige Frauen besser nicht gemeinsam haben. Designerkleider zum Beispiel - oder Männer. Für den Privatsender Pro Sieben kommt es jetzt darauf an, nicht in diese unmögliche Kategorie zu fallen, zumindest nicht in den Augen von Heidi Klum und Claudia Schiffer. Der Sender will Schiffer anwerben und muss gewissermaßen den beiden international berühmten blonden deutschen Superfrauen erklären: Es ist wirklich okay, wenn ihr Pro Sieben gemeinsam habt.


Schon Ende des Monats sollen die Dreharbeiten mit Claudia Schiffer beginnen

Nach Klum, 39, die mit Germany"s next Topmodel im Programm vertreten bleibt, soll nun auch Schiffer eine Casting-Show bekommen. Die Verhandlungen mit der 42-Jährigen laufen. Claudia Schiffer, die sich ähnlich wie Heidi Klum vom einstigen Supermodel zur Supermama gewandelt hat und vielleicht noch einen gut bezahlten Zeitvertreib sucht, könnte sich bald im deutschen TV mit Mode beschäftigen. Während Klum aber blutjunge Mädchen zu mehr oder weniger Professionellen der Modelbranche formt, soll sich Schiffer ums Stoffliche kümmern und gemeinsam mit einer Jury Designertalente suchen.

So oder so, lange wird ihre Entscheidung nicht auf sich warten lassen, bereits Ende des Monats sollen die Dreharbeiten für das neue Format beginnen. Pro Sieben bestätigte auf Anfrage am Mittwoch lediglich, eine Sendung zu planen, die Fashion Hero heißt. Es geht demnach um jene Art Unterhaltungsfernsehen, das Kandidaten den großen Karriereaufstieg verheißt, in dem Fall als Kreative im Modebusiness. Vorbild ist die amerikanische Show Fashion Star von NBC. Die konkurriert wiederum mit der thematisch ähnlich gelagerten US-Castingsendung Project Runway, deren Star - nun ja, Heidi Klum ist.

Schiffer und Klum sollen gelegentlich auch schon im gleichen Kleid gesehen worden sein. Vielleicht hat man sich bei Pro Sieben aber auch daran erinnert, dass Claudia Schiffer, die mit dem britischen Filmproduzenten Matthew Vaughn verheiratet ist, für Luxusmarken warb und sich als Schauspielerin versuchte, bereits eine eigene Pulloverkollektion herausgebracht hat. Sachen für beschäftigte Mütter wie sie selbst, die dann nicht nachdenken müssen, sondern stattdessen erleichtert einfach mal schnell den wahnsinnig schlichten Edelkaschmirpulli überwerfen, wenn sie die Kleinen in die Schule fahren. Sie male zwar eher so wie ihre kleine Tochter, sagte Schiffer dazu einmal der FAZ, aber sie wisse, 'wann etwas sitzt'. Insofern ist sie natürlich Expertin.

Wenn Schiffer sich als 'Mentorin' für Fashion Hero gewinnen lässt, wird ihr eine Jury zur Seite stehen, die mit Designern und anderen Vertretern der Bekleidungsindustrie besetzt ist. Durch sie sollen die Kandidaten am Ende angeblich auch groß rauskommen: Die Kleidung für Männer und Frauen, die sie entwerfen, wird es kurz nach Ausstrahlung der Sendung im Laden zu kaufen geben. Schließlich geht es für alle ums Geschäft.

Der Sommer der Veränderung

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Kein DDR-Dämmerungsbuch: Jochen Schmidts 'Schneckenmühle' handelt von der Wende der Pubertät.


"Schneckenmühle" - einen besseren Namen für ein Ferienlager, in dem Kinder langsam durch die Mühle des Erwachsenwerdens gedreht werden, kann man kaum erfinden. Die "Schneckenmühle" gibt es wirklich, nahe Dresden, mitten in einem Naturschutzgebiet. Schon in Vorwendezeiten verbrachten dort vor allem Berliner Jugendliche ihre Sommerferien.

Der 42-jährige Autor und Journalist Jochen Schmidt hat diesen Ort zum Schauplatz seines neuen Romans gewählt. Im Zentrum steht ein zurückhaltender, etwas unbeholfener und ziemlich nachdenklicher Ich-Erzähler namens Jens, der in diesem Sommer des Jahres 1989 mit großer Vorfreude in die Schneckenmühle fährt. Ein paar skurrile Abenteuer wird er dabei erleben und einiges Unverständliche erfahren: Er wird sich verlieben, und vielleicht wagt sich dieser schüchterne 14-Jährige am letzten Abend bei der Abschlussparty sogar auf die Tanzfläche -was für einen introvertierten Eckensteher eine ziemliche Herausforderung darstellt.



Ein Ferienlager nahe Dresden: In "Schneckenmühle" erzählt der Autor Jochen Schmidt von den Irrungen und Wirrungen des Erwachsenwerdens. 

"Langsame Runde" nennt Jochen Schmidt seinen Roman im Untertitel. "Langsame Runde" bezeichnet nicht nur eine bestimmte Art des Tanzens, die man in westlichen Dorfdiskotheken einmal als "Stehblues" bezeichnet hat. Es sagt auch etwas über den Zustand, in dem sich Schmidts junge Helden befinden: Während um sie herum die DDR gerade dabei ist zu implodieren, sprießen bei den Jugendlichen die ersten Pickel, kommen sie in ein Stadium, das man gemeinhin Pubertät nennt. Die Kindheit wird unweigerlich von etwas Undurchschaubarem abgelöst. Das alte System zerbröselt, und das neue ist unvorstellbar. Man dreht noch einmal eine langsame Runde, bevor die Zukunft so richtig in Fahrt kommt.

Es ist eine Verlangsamung, zugleich aber auch eine zunehmende Beschleunigung: ein rasender Stillstand. Die Jugendlichen befinden sich in einer Zeitkapsel, spielen Skat und Tischtennis und versuchen, sich die Welt zu erklären, auch wenn es nur winzige Partikel sind, die sie von ihr zu Gesicht bekommen. Der Ich-Erzähler Jens ist geradezu ein Grübel-Weltmeister: Durch den Kokon seines Kindseins dringen schon die schwerwiegenderen Probleme, die das Erwachsenenleben bereithalten wird - der Junge sinniert über Dinge, die sich nicht mehr greifen lassen, über die Zeit, die Vergänglichkeit schlechthin. "Es ist das letzte Mal, dass ich fahren darf, weil ich in diesem Jahr 14 geworden bin. Ein Sechstel meines Lebens ist vorbei, denn ich werde ja irgendetwas zwischen 80 und 100. Ein Sechstel, halb kommt mir das beruhigend wenig vor, aber eigentlich auch beunruhigend viel."

Nun ist es nicht gerade so, dass Jugenderinnerungen an die untergegangene DDR in den letzten Jahren Mangelware gewesen wären. Von "Sonnenallee" bis "Zonenkinder" beamten sich Autoren mehr oder minder sentimental in eine Zeit zurück, die in der Kinderwahrnehmung nur peripher berührt war von ideologischen Erwägungen. Die Nöte, Wünsche und Erlebnisse in der Pubertät sind immer absolut und immer von Autorität bedroht, ob unter realsozialistischen oder kapitalistischen Verhältnissen. Jede Geschichte ist aber, auch wenn sie vielen anderen ähneln mag, von einer unhintergehbaren Einzigartigkeit - keine repräsentiert, allen Stilisierungen zu Generationenerfahrungen zum Trotz, das Ganze. Und jede Geschichte hat zudem ihre zeitliche Bedingtheit und Begrenzung.

Das ist das Schöne an Jochen Schmidts komisch-traurigem Roman: Dass sich die persönlichen Erfahrungen gegen die Überlagerung mit kollektiven Erinnerungen zur Wehr setzen. Und zwar auch auf der strukturellen Ebene des Buches, das mit der gewitzten Ahnungslosigkeit der Protagonisten spielt. Die Erzählhaltung ist ja bewusst gewählt; auch sie trägt zum Effekt von Unmittelbarkeit bei. Schmidt schreibt auf Augenhöhe seiner Protagonisten, und nur ganz selten schleicht sich ein klügeres älteres Ich mit Sätzen wie "jede Erinnerung ist eine Narbe" ins Bewusstsein des 14-Jährigen. Die Wendevorboten werden von den Jugendlichen mit einer gewissen Naivität gelesen und ins eigene System einsortiert. Dass immer mehr der erwachsenen Ferienlager-Betreuer verschwinden, führt zu wilden Spekulationen, die sich mit den Westfernseh-Erfahrungen und spielerischen Gedanken der Kinder vermischen. Die Anverwandlung eines nur vage erklärbaren Geschehens erzeugt die grotesk-heiteren Momente dieses Romans.

Manche der Jugendlichen sind schon weiter - sie sehen relativ klar, was geschieht. Jens, der einerseits jeden Gedanken hin- und herwälzt, hat andererseits bis zum Ende keine Idee von dem Wandel, der sich gerade vollzieht. Das liegt nicht zuletzt daran, dass er sich mit einer Außenseiterin des Camps anfreundet, sich gar zum ersten Mal verknallt und dementsprechend ein wenig wirklichkeitsresistent ist: Peggy kommt aus Sachsen, sie redet starken Dialekt, über den sich die Hauptstadt-Kinder lustig machen. Und auch sie möchte verschwinden, während sich um sie herum die Dinge unweigerlich auflösen. Jens versorgt sie in ihrem Versteck mit Essen, und er merkt plötzlich, wie sich eine nie gekannte Nähe herstellt. Auch in dieser Hinsicht ist dieser Sommer einer der Veränderung: Die Wahrnehmung der eigenen Gefühle wird noch schärfer, und in all die Verwirrung dringt eine ernsthafte Sehnsucht ein. Aus Spaß wird ein schönes ernstes Spiel.

Jochen Schmidt hat für dieses Erinnerungsbuch einen einnehmenden Ton getroffen, eine Sprache gefunden, in der alles vermischt ist, was auch in den Kindergehirnen munter durcheinanderpurzelt. In kleinen Szenen lässt er die Propagandamaschine DDR an der Fantasieproduktion der Jugendlichen heißlaufen. Und er versteht es, seinen Helden immer wieder die richtigen, von einer durchaus bitteren Ahnung durchsetzten Fragen in den Mund zu legen. "Was mich antreibt? Ich weiß es gar nicht. Daß immer möglichst viel Zeit bleiben soll, bis die Zukunft beginnt?"

Jochen Schmidts lustiger "Wenderoman" ist am Ende gar keiner. Jedenfalls kein DDR-Dämmerungsbuch. Dass hier der politische Umbruch mit einem persönlichen zusammenfällt, ist zwar kein Zufall - diesen symbolischen Überschuss darf man als Autor durchaus nutzen. Aber eigentlich dreht sich "Schneckenmühle" um Wesentlicheres, darum, eine Haltung zum Leben zu finden, ums sogenannte Erwachsenwerden. Und das ist dann für Jens und jede einzelne von Schmidts Figuren doch die viel bedeutsamere Wende.

Schatten der Geschichte

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Während es wirtschaftlich gut läuft, verharrt das moderne Polen politisch in seiner Vergangenheit und erscheint nach außen in Bösglaubigkeit gefangen zu sein.

Als vor drei Jahren in einem Wald bei Smolensk das Flugzeug des polnischen Präsidenten abstürzte, verloren 96 Menschen ihr Leben. Zu ihnen zählten der Staatschef Lech Kaczynski, seine Frau und höchste Repräsentanten des Landes. Das 97. Opfer dieser Katastrophe aber war die polnische Politik - so bilanziert es jetzt die Zeitschrift Polityka.


Die polnische Zeitung Uwazam Rze zeigte Angela Merkel in KZ-Kluft

Die Analyse hat viel für sich. Denn seit Smolensk hat sich die Spaltung der Gesellschaft in zwei Lager noch vertieft, ein hysterisches Lamento überlagert den Diskurs. Die sonst so charmante, höfliche Art der Polen sucht man in der Politik vergebens. Zwischen der Außenwahrnehmung als erfolgreichstes postkommunistisches Land und dem quälerischen Selbstbild besteht ein evidenter Gegensatz. Die Wirtschaft floriert, aus allen Ecken lugt die Innovation, und die Kultur bietet aufregende Neuheiten an. Nur die Politik scheint gefangen in Bösgläubigkeit, sonst wäre Smolensk kein so überdimensionales Thema mehr.

Die Urheber sind leicht im Lager der nationalkatholischen Rechten zu orten, im publizistischen Umfeld des Oppositionsführers Jaroslaw Kaczynski. Der überlebende Zwillingsbruder kommt nach der Abstrafung durch die Wähler 2007 aus der Ecke des beleidigten Rechthabers nicht heraus. Bis heute deutet er mit Blick auf Smolensk die Möglichkeit eines Anschlags an, ohne den geringsten Beweis. Dies trägt zur Verunsicherung bei. Auch wenn Kaczynski nicht mehr als ein Viertel der Wähler hinter sich hat, glaubt mittlerweile jeder dritte Pole an ein Attentat. Polnische und russische Ermittler hingegen haben Pilotenfehler als Unglücksursache definiert.

Die russische Regierung freilich leistet den Verdächtigungen Vorschub, weil sie mauert und beispielsweise bis heute das Flugzeugwrack nicht zurückgegeben hat. Polens Premier Donald Tusk wiederum tritt den Verdächtigungen der Gegenseite nicht sehr häufig und nicht sehr entschieden entgegen, so wie er überhaupt seine Politik nicht allzu gerne erklärt - darin ist er seiner Freundin Angela Merkel recht ähnlich. Das ist einer der Gründe, warum im öffentlichen Raum oft die Martyrologen dominieren, die Polens Adler auf ewig als gefleddertes Opfer zu zeichnen gewillt sind.

Dies gilt nicht nur im Verhältnis zu Russland, sondern auch zu Deutschland. Gerade hat der ZDF-Film 'Unsere Mütter, unsere Väter' die Gemüter sehr erregt. Noch drei Wochen nach der Ausstrahlung brachte jetzt die Zeitschrift Uwazam Rze als Titelbild eine Angela Merkel in KZ-Kluft. Gemeint ist: die Deutschen lügen sich zu Opfern des Zweiten Weltkrieges um.

Hier muss man nun streng unterscheiden. Einerseits gibt es die Pauschalangriffe aus der Ecke Kaczynski, wie sie sich in diesem Titelbild spiegeln. Und es gibt die berechtigte Kritik auch liberaler Stimmen. Im Brennpunkt stehen jene Passagen des Films, in denen polnische Partisanen der Armia Krajowa (Heimatarmee) als hasserfüllte Antisemiten gezeichnet werden, die einen deutschen Juden als Mitkämpfer ausstoßen, nachdem er andere Juden aus einem KZ-Zug befreit hat.

Niemand leugnet, dass es auch in Polen einen starken Antisemitismus gab, doch wird eine Parallelsetzung deutschen und polnischen Verhaltens in dieser Sache allgemein als ungerecht und verletzend empfunden, wie Polens Botschafter in Berlin, Jerzy Marganski, erklärte. Es darf auch nicht vergessen werden, dass der polnische Widerstand eigene Organisationen gründete, um Tausende Juden zu retten.

Beide Vorgänge - die Diskussion um den deutschen NS-Film wie die politische Instrumentalisierung des Themas Smolensk - belegen erneut, wie stark die Geschichte in der polnischen Politik gegenwärtig ist. So wie die Geschichte nun leider war, kann das gar nicht anders sein. Das Land geht seinen Weg in seiner Art.

Ein bisschen Herz für Millionäre

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In ihrem Wahlprogramm stellten die Linken hohe Steuerforderungen an Einkommensmillionäre. Nun rudert die Partei zurück.

Menschen mit einem Jahreseinkommen von mehr als einer Millionen Euro gehören, um es vorsichtig zu sagen, nicht zur Kernklientel der Linkspartei. Und doch hat die Linke nun ihr Herz für solche Menschen entdeckt - ein klein wenig zumindest. Im neuesten, der Süddeutschen Zeitung vorliegenden Entwurf des Wahlprogramms wird die Gruppe der Superreichen entlastet, wenn auch nur im Vergleich zur vorherigen Fassung. Dort hatte es zur insbesondere von Vize-Partei-und Fraktionschefin Sahra Wagenknecht geforderten Reichensteuer geheißen: "Sehr hohe Einkommen wollen wir besonders besteuern: jeder Euro, der über einer Million Einkommen liegt, soll 75 Prozent besteuert werden."

Das heißt: Dem Einkommensmillionär blieben von jedem verdienten Euro gerade mal 25 Cent. Das mag noch in der Logik der Linken liegen, wenn - ja, wenn nicht noch ein paar andere Belastungen hinzu kämen. Die Kirchensteuer zum Beispiel oder der Solidaritätszuschlag. Oder, so wollten es die Linken ursprünglich, die volle Höhe der Beiträge zur Sozialversicherung. Volle Höhe, das heißt ohne den Deckel der Beitragsbemessungsgrenze, der die Zahlungen nach oben begrenzt. Der Berliner Steuerprofessor Frank Hechtner hat für die Süddeutsche Zeitung berechnet, was das Vorhaben der Linken diesen Gutverdiener gekostet hätte. Das Ergebnis: Jeder Euro, der über eine Million Euro Einkommen liegt, wäre nicht mit 75, sondern mit 91 Prozent besteuert worden. Insgesamt müsste er mehr als zwei Drittel seines Einkommens an den Staat abgeben (68,49 Prozent). Doch nicht nur die absoluten Spitzenverdiener hätten unter den Plänen der Linken zu leiden gehabt. Von jedem Euro Einkommen jenseits von 108000 Euro wären 75 Cent an den Staat gegangen und wer 90000 Euro im Jahr verdient, hätte fast die Hälfte davon (48 Prozent) dem Fiskus geben müssen.



Einem Einkommensmillionär wären nach den Forderungen der Linken von jedem verdienten Euro nur noch 25 Cent geblieben - jetzt rudert die Partei zurück.

Das war denn auch vielen bei der Linken zu viel, Gregor Gysi zu Beispiel. Im neuen Entwurf, über den der Parteivorstand an diesem Wochenende abstimmt, heißt es nun gnädiger: "Jeder Euro, der - nach Abzug der Sozialversicherungsbeiträge - über einer Million Euro liegt, soll mit 75 Prozent besteuert werden." Dadurch sinkt die Gesamtlast der Abgaben für alle, denn Beiträge machen einen hohen Anteil aus.

Die jüngste Fassung des Entwurfs ist aber nicht nur für Millionäre besser, sondern auch für Niedrigverdiener. Die Position zum Mindestlohn wurde verschärft. Neben der Forderung, sofort einen Mindestlohn in Höhe von zehn Euro pro Stunde festzuschreiben, war bisher davon die Rede, bis zum Ende der Wahlperiode sei "ein Anstieg des Mindestlohns auf bis zu zwölf Euro denkbar". Nun heißt es: "Bis zum Ende der Wahlperiode sollte der gesetzliche Mindestlohn auf zwölf Euro steigen."

Große Zerwürfnisse bahnen sich bisher zwar nicht an, Streit über das Wahlprogramm gibt es aber doch. So regt sich unter ostdeutschen Genossen Unmut, weil sie die neuen Länder - immerhin die Hochburgen der Linken - im Entwurf nicht ausreichend berücksichtigt sehen. "Was die Thematik Ostdeutschland betrifft, gibt es im neuen Entwurf ein Verbesserungen, aber das reicht meines Erachtens nicht aus. Dieses Thema muss sich stärker im Wahlprogramm widerspiegeln", sagt Dietmar Bartsch, Vize-Fraktionschef der Linken im Bundestag und Mitglied des achtköpfigen Spitzenteams für den Wahlkampf. Schon in den bisherigen Entwürfen wird "Gerechtigkeit für die Menschen in Ostdeutschland" gefordert, etwa bei Renten und Löhnen. Was aus Sicht der führenden Ostdeutschen in der Partei aber stärker im Wahlprogramm zum Ausdruck kommen sollte, ist ostdeutsches Selbstbewusstsein.

Gestritten wird, wie das parteinahe Neue Deutschland am Mittwoch berichtete, in der Linken auch über ein Thema, bei dem Außenstehende Einigkeit erwarten würden. "Hartz IV muss weg", heißt es deutlich im Programmentwurf. Kurzfristig müssten die Regelsätze auf 500 Euro erhöht werden; benötigt werde eine "sanktionsfreie Mindestsicherung" von nicht weniger als 1050 Euro. Der in der "Sozialistischen Linken" organisierte Gewerkschaftsflügel wendet sich gegen so eine Pauschalsumme. Betrachtet werden müsse die Lage des Einzelnen.
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