Quantcast
Channel: jetzt.de - SZ
Viewing all 3345 articles
Browse latest View live

Über die Dörfer

$
0
0
Eine Sparkasse im Norden Hessens hat sich für 750000 Euro einen High-Tech-Bus angeschafft, um Kunden auf dem flachen Land Geldgeschäfte zu ermöglichen.

Na so was aber auch. Der fast 90-jährige Kunde in Jogginghose und grünen Gummistiefeln erlebt gerade seine persönliche Bankenkrise. Er war heute schon einmal da, um Geld abzuheben. Und jetzt: 'Die Karte hab ich hier, aber das Geld nicht', sagt er zur Bankangestellten Carmen Morgenthal. Es gibt zwei Möglichkeiten. Er hat vergessen, die 400 Euro zu nehmen, und der Geldautomat hat sie kurz darauf eingezogen. Oder aber, weit schlimmer, der nächste Kunde hat sie mitgenommen. 'So was aber auch, bei mir wird"s auch immer schlimmer', sagt der Kunde.


Der Sparkassen-Bus ermöglicht mobile Geldgeschäfte


Würde es sich um eine normale Bankfiliale handeln, könnte Carmen Morgenthal jetzt den Geldautomaten aufsperren und nachsehen, ob die 400Euro eingezogen sind. Es handelt sich aber um eine besondere Filiale. Sie ist 13Meter lang, 2,50Meter breit und hat acht Räder. Der Überlandbus der Sparkasse Werra-Meißner in Nordhessen ist der modernste seiner Art in Deutschland. Er verfügt über eine Verbindung zum Rechenzentrum der Sparkassen per Satellit. Deshalb können Kunden in dem Bus jedes Bankgeschäft machen, bis hin zum Aktienkauf. Nur eines ist nicht möglich: 'Aus Sicherheitsgründen dürfen die Mitarbeiter keinen Kontakt mit Bargeld haben', sagt Bankchef Frank Nickel. 'Das heißt, dass sie auch keinen Schlüssel zum Geldautomaten haben.' Leider ist das die Funktion, die der Kunde in den grünen Gummistiefeln gerade am dringendsten bräuchte. Beraterin Morgenthal muss ihn vertrösten: 'Wir können erst später nachsehen, ob Ihr Geld eingezogen ist, Sie müssen nächste Woche wiederkommen.'

Der Bus steht an diesem Vormittag im 1200-Einwohner-Ort Rommerode. Am Nachmittag zieht er weiter nach Datterode. So geht das fünf Tage in der Woche, insgesamt steuert er zehn Orte mit je etwa 1000 Einwohnern an. Ältere Bundesbürger kennen Sparkassenbusse noch aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Nach der Wiedervereinigung erlebte der Bankbus eine Renaissance in den neuen Bundesländern. Inzwischen sind sie etwas in Vergessenheit geraten. Nur noch wenige Sparkassen oder Volks- und Raiffeisenbanken in Deutschland verfügen über einen Bus, mit dem sie kleine Orte anfahren.

Bankchef Nickel will sein Institut trotzdem mit einem Bus in die Zukunft führen. 'Es ist kein Sparbus, wie man sie noch von früher kennt, bei denen es im Wesentlichen Barauszahlungen und Überweisungen gab', sagt er. Im Überlandbus sei jedes Bankgeschäft möglich, wie in einer normalen Filiale. Es gibt einen Geldautomaten, ein Serviceterminal für Überweisungen oder Daueraufträge, einen weiteren Bildschirm, an dem der Berater dem Kunden helfen kann, und ein kleines Zimmer für Beratungsgespräche. Dort sitzt gerade ein anderer älterer Kunde, er hat einen Stapel unsortierter Versicherungsunterlagen mitgebracht. Carmen Morgenthal ist durch die Tür zu hören, wie sie sagt: 'Jetzt pass mal auf, Herbert.' Sie wird die Unterlagen hinterher für ihn ordnen, 'fair, menschlich, nah, wie ich bin', zitiert sie einen Sparkassen-Werbeslogan. Sie sei hier ein bisschen Mädchen für alles, 'ich helfe manchmal vielleicht mehr, als ich müsste'.

Eine Rentnerin aus Rommerode kommt in den Bus, um am Terminal eine Überweisung aufzugeben. 'Ich muss jetzt nicht mehr in die Filiale am nächsten Ort fahren, gerade im Winter ist das schwierig', sagt sie. Vor vier Jahren führte Nickel den Überlandbus ein. Er ließ ihn bei einem Spezialisten für Campingbusse anfertigen. 750000Euro kostete das Fahrzeug, jedes Jahr sind weitere rund 50000 Euro für laufende Kosten fällig. Den Bus fährt nicht der Bankberater, wie es früher der Fall war, sondern der Fahrer einer Spedition. 'Es ist ein Prototyp', sagt Nickel. Andere Bankchefs würden sich regelmäßig nach seinen Erfahrungen damit erkundigen. Mancher überlege, es ihm nachzumachen.

In Deutschland gab es Mitte der 1990er Jahre fast 70000Bank-Geschäftsstellen. Heute ist es gerade einmal noch die Hälfte davon. Das Filialsterben auf dem flachen Land ist gewaltig. Auch die Sparkasse Werra-Meißner hat vor zehn Jahren die Hälfte ihrer 40 Filialen geschlossen. Seitdem hat Bankchef Nickel aber die Erfahrung gemacht: 'Wo wir keine Geschäftsstelle haben, wachsen wir nicht.' Deshalb habe man sich gefragt: 'Wie kommen wir da wieder hin?' Eine kleine Filiale zu bauen, koste auch rund 750000 Euro. 'Hätten wir zehn Filialen eröffnet, hätten wir jetzt ein Kosten-Problem.'

Die Angestellte Morgenthal war damals schon dabei, 'als wir die Filiale hier ausgeräumt haben'. Der Unmut der Kunden sei groß gewesen. Seit es den Überlandbus gebe, hätten sich die Leute wieder beruhigt.

Betriebswirtschaftlich hat sich der Bus nicht gelohnt, das gibt Nickel zu. Aber man dürfe es nicht nur betriebswirtschaftlich sehen: Die Sparkassen hätten einen öffentlichen Versorgungsauftrag. 'Außerdem ist es ein ziemlich großer Imageträger, der da herumfährt', sagt der Bankchef. Er werde auch auf Messen und Gewerbeschauen eingesetzt. Man müsse das Ganze umgekehrt sehen: 'Was würden wir verlieren, wenn wir die Orte alle nicht mehr bedienen?'

Der Werra-Meißner-Kreis ist typisch für Deutschland außerhalb der Ballungsräume. Die Einwohnerzahl lag in den 1990er Jahren einmal bei 115000. Für das Jahr 2020 sind 95000 prognostiziert. Früher war es Zonenrandgebiet und bekam Fördergeld. Mit der Wiedervereinigung fiel das weg, Groß-Arbeitgeber wie Landmaschinenhersteller Massey Ferguson wurden viel kleiner oder wanderten ganz ab. 'In unserem Geschäftsgebiet ist es nicht so, dass man nur den Löffel raushalten muss, und es regnet Brei', sagt Nickel. Man müsse das Geschäft suchen wie ein Trüffelschwein. Das Bus könne dazu einen kleinen Beitrag leisten. 'Wir müssen wachsen, allein mit dem Halten der Marktanteile kommen wir nicht weiter', sagt Nickel. Wenn der Bus helfe, Kunden an die Bank zu binden, habe er seine Mission erfüllt.

Die betriebswirtschaftliche Bilanz nach einem Vormittag in Rommerode dürfte auch eher rot ausfallen. Die meisten Kunden haben Geld abgehoben oder Überweisungen veranlasst. Eine Rentnerin hat sich über Versicherungen beraten lassen, ohne einen Vertrag abzuschließen. Ein Rentner hat der Beraterin einen Packen Unterlagen zum Sortieren da gelassen. Und der alte Mann mit den Gummistiefeln erfährt erst nächste Woche, wie das mit seinen 400 Euro ausgegangen ist. 'So was, nein, das ist mir auch noch nicht passiert', sagt er. Aber das mit dem Bus, 'das ist schon okay'.

Da hört der Spaß auf

$
0
0
Weil er Witze über Präsident Mursi und seine Muslimbrüder macht, nehmen die Staatsanwälte den ägyptischen Satiriker Bassem Jussef ins Visier. Kollegen aus Amerika stehen ihm bei.


Der differenzierteste Beitrag kam von einem befreundeten Satiriker. Der Amerikaner Jon Stewart widmete den Angriffen auf seinen ägyptischen Kollegen Bassem Jussef ganze elf Minuten seiner "Daily Show". Jussef drohe Gefängnis, weil er Witze über die Kopfbedeckung und das dürftige Englisch des Präsidenten gemacht habe? "Genau damit hab ich acht Jahre lang Karriere gemacht." Dann zeigte Stewart George W. Bush mit Cowboyhut. Die ägyptische Staatsanwaltschaft habe Jussef verhört, weil dieser in seiner Sendung "El-Bernamig" (Das Programm) die Religion beleidige? Stewart führte Videos mit antisemitischen Ausfällen Mohammed Mursis vor, in denen er, zum Beispiel, dazu aufrief, "unsere Kinder und Enkel mit dem Hass auf sie zu nähren: auf Zionisten, auf Juden." Er zeigte ein Mursi-Interview, in dem dieser - nun Präsident - schwört, Jussef und die Opposition hätten nichts zu befürchten. Ohne Jussef, so Stewart an Mursi, ohne Blogger, Journalisten und Protestierende, die vor zwei Jahren auf den Tahrir-Platz gezogen waren, "hätten Sie, Herr Präsident, heute gar keine Gelegenheit, sie zu unterdrücken."



Über das Englisch des ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi witzelte der Satiriker Bassem Jussef. Damit wird er nun zum Staatsfeind.

Die feine Dialektik im Verhältnis der Islamisten zur Meinungsfreiheit hätte Bassem Jussef nicht besser zeigen können. Aber wie das mit Zwischenrufen aus Amerika so ist: Sie finden in Ägypten oft ein anderes Echo. Die juristischen Angriffe auf Bassem Jussef und seine Satire-Show gingen trotz amerikanischer Kommentare weiter. Mehr noch: Sie haben auch das Klima zwischen Kairo und Washington verdüstert.

Im Interview mit Christiane Amanpour von CNN hatte sich Jussef unbeeindruckt gegeben. Ägypten gehe eben durch eine Phase, die Islamisten wälzten die Verantwortung für ihr Scheitern in der Regierung auf die Medien ab, er sei Ägypter und Muslim und stolz darauf, aber er ertrage eben jene nicht, die ein Monopol auf den Islam erhöben und so der Religion schadeten, kurz: auch in der nächsten Sendung werde er "Spaß" haben. Auf Twitter aber vermeldete er kurz darauf neue Ermittlungen gegen die letzte Folge des Programms. Man werfe ihm vor, Gerüchte zu verbreiten und den Frieden zu stören. Jussef: "Sieht so aus, als wollten sie uns physisch, emotional und finanziell zermürben." Mehr noch: Die Investitionsbehörde drohte dem Sender CBC mit Lizenzentzug, sollte dieser Jussefs Show in unveränderter Form ausstrahlen: Sendungen, die Extremismus schürten und gegen staatliche Organe hetzten, werde man nicht tolerieren.

Informationsminister Salah Abdel Maksud erklärte dennoch, Ägyptens Medien seien so frei wie nie. Und Präsident Mursi wies twitternd alle Kritik von sich. Nicht er, sondern ägyptische Bürger hätten die Klage gegen Jussef angestrengt. Die Staatsanwaltschaft sei unabhängig, teilte Mursi mit, erwähnte aber nicht, dass er den Generalstaatsanwalt eingesetzt hatte und ein Gericht die Entscheidung erst vor kurzem für unrechtmäßig erklärt hatte, so dass Ägypten derzeit eigentlich zwei Generalstaatsanwälte hat. Schließlich schrieb Mursi den schönen Satz: "Alle Bürger haben das Recht, ihre Meinung zu sagen ohne die Einschränkungen des früheren Regimes."

Dies nun sieht man in Washington nicht mehr ganz so. Der Haftbefehl gegen den einstigen Herzchirurgen und heutigen Star-Satiriker Jussef sei "Beweis für eine beunruhigende Tendenz, die Meinungsfreiheit einzuschränken", sagte Victoria Nuland, Sprecherin des State Department. Außenminister John Kerry äußerte "schwere Bedenken" über Ägyptens Weg, nachdem er erst vor ein paar Tagen ein paar Millionen Dollar Finanzhilfe versprochen hatte: "Dies ist ein Schlüsselmoment." Die amerikanische Botschaft in Kairo goss Öl ins Feuer und verbreitete den Link mit der Jon-Stewart-Show. Und das alles vor der Ankunft von Delegierten des Internationalen Währungsfonds, der einen dringend benötigten Milliardenkredit bewilligen soll.

Für die Muslimbrüder in und um die Regierung waren die Mahnungen aus Amerika eine "himmelschreiende" Einmischung, "dreist" und grundlos. Amerika übe zu viel Nachsicht angesichts der Verleumdung des Islam. "Wieder ein undiplomatischer und unkluger Zug der amerikanischen Botschaft in Kairo, ergreift Partei in einer laufenden Ermittlung, ignoriert ägyptische Gesetze und Kultur", twitterte die Muslimbruder-Partei "Freiheit und Gerechtigkeit" säuerlich.

Es ist ein seltener Dissens. Die amerikanische Regierung, so kritisieren nämlich Ägyptens Liberale, habe sich mit den Muslimbrüdern viel zu gut arrangiert. Im begreiflichen Bemühen, einen gewählten Präsidenten zu respektieren, übergehe Washington die Opposition. Der liberale Abgeordnete Amr Hamsawi beispielsweise wirft Amerika vor, alte Fehler zu wiederholen: Wie unter Mubarak schweige Washington zu Menschenrechtsverletzungen und politischer Unterdrückung. Wie damals behandele Washington die Regierungspartei als alternativlos, schreibt er. Für Hamsawi ist das eine Katastrophe. Für den Satiriker Jussef ein Fest.

Kommentar: Ein bisschen Sicherheit

$
0
0
Das neue Abkommen zur Kontrolle des internationalen Waffenhandels ist ein Vertrag mit Schlupflöchern - aber der moralische Druck steigt.


Einen 'historischen Moment' bejubelten Menschenrechtler, nachdem die Generalversammlung der Vereinten Nationen am Dienstag in New York mit 154 Jastimmen bei 23 Enthaltungen und drei Gegenstimmen das erste Abkommen zur Kontrolle des internationalen Waffenhandels beschlossen hatte. Außenminister Guido Westerwelle, der die Abrüstung zu einem seiner Lieblingsthemen erkoren hat, erkannte in dem Vertrag einen 'Meilenstein im weltweiten Bemühen um Rüstungskontrolle und Sicherheit'.

Die Euphorie hat eine gewisse Berechtigung, wenn man bedenkt, dass die Bemühungen um einen Pakt über den Waffenhandel vor mehr als zehn Jahren begonnen haben. Bei den Vereinten Nationen wurde seit sieben Jahren darüber verhandelt. Allerdings ist noch lange nicht klar, ob das Abkommen ein wirksames Mittel sein wird, Waffenhandel und am Ende auch bewaffnete Konflikte besser in den Griff zu bekommen. Ungewiss ist etwa, wer tatsächlich bereit ist, die Abmachung einzuhalten. Ungewiss ist, ob die Vertragsworte ausreichen, um Waffentransfers in Krisen- und Kriegsgebiete tatsächlich zu verhindern.



Die Skulptur "Non-Violence" des schwedischen Künstlers Carl Fredrik Reuterswärd steht in New York vor dem Gebäude der Vereinten Nationen. Die UN-Vollversammlung hat nun einen Vertrag zur Regulierung des internationalen Waffenhandels verabschiedet.

Bezeichnend ist, dass einige der großen Waffen-Exportnationen dem Abkommen äußerst kritisch gegenüberstehen. Das dürfte seine normative Kraft aushöhlen. Nordkorea, Iran und Syrien hatten bereits vergangene Woche einen Vertrag abgelehnt, der zwischen Staaten geschlossen werden sollte. Jetzt mussten China und Russland Farbe bekennen, nachdem die Initiative in die Vollversammlung der UN gewandert war: Beide enthielten sich, und Russland meldete Zweifel an, ob es je den Vertrag ratifizieren werde. Peking dürfte sich - wie so oft - im Windschatten der Russen halten.

Auch in den USA wird die Ratifizierung schwierig: Präsident Barack Obama hat zwar die Verhandlungen in Schwung gebracht, indem er die ablehnende Haltung der Regierung Bush revidierte. Aber er braucht nun die Zustimmung von zwei Dritteln der 100 Senatoren. Nicht nur viele Republikaner teilen die Ansicht der Waffenlobby, der Vertrag sei unvereinbar mit dem in der Verfassung verbrieften, traditionell weit ausgelegten Recht auf Waffenbesitz.

Offen ist auch, was die Mindeststandards wert sind, auf die sich die Signatarstaaten verpflichten. Verboten ist es, bestimmtes Kriegsgerät, Bauteile oder Munition zu liefern, wenn diese bei Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Angriffen auf Zivilisten eingesetzt würden. Handgranaten oder Truppentransporter etwa fallen nicht unter die Klausel. Zudem ist es Interpretationssache, ob Waffen zu Menschenrechtsverletzungen missbraucht werden könnten. Solange nicht Embargos dem Export entgegenstehen, fällen Regierungen diese Urteile. Niemand wird zugeben, dass er mit einer Lieferung Menschenrechtsverletzungen Vorschub leistet. Deutschland, die anderen EU-Staaten und die USA sind allemal der Meinung, dass ihre bestehenden Exportkontrollen die Anforderungen des Vertrags erfüllen.

Positiv gewendet lässt sich sagen: Etliche Waffenexporte kämen nicht zustande, legten alle Staaten diese Kriterien an. Die Kehrseite: Auch Deutschland hat an Staaten geliefert, deren Menschenrechtsbilanz zweifelhaft ist. Und schließt weitere solche Exporte nicht aus - etwa an Saudi-Arabien.

Das neue Abkommen kann dennoch gute Dienste leisten: So werden Waffenlieferungen an Unrechtsregime und in Krisengebiete mehr und mehr stigmatisiert. Hier wirkt der öffentliche Druck durch Menschenrechtler und Nichtregierungsorganisationen. Mit ihrer beharrlichen Arbeit treiben sie bereits die Ächtung von Minen und Streubomben voran. Und bei den Verhandlungen zum Waffenhandelsvertrag haben sie erneut Ausdauer und Hartnäckigkeit bewiesen.

Afterhour-Stehblues

$
0
0
Es darf geschwoft werden: Elektronische Tanzmusik entdeckt Zärtlichkeit und liefert damit den perfekten Soundtrack zur Clubkultur der Gegenwart.


Es gibt diese Momente im Club, da ist die Musik plötzlich mit einem Ausrufezeichen versehen. Gemeinhin merkt man das daran, dass ein Ruck durch die Menge der Tanzenden geht, dem dann in die Luft erhobene Hände und entzückte Jubelrufe folgen: das Prinzip Szenen-Applaus, übertragen in den Club. Es gibt mehrere Möglichkeiten, diese Selbstverortung der Tanzenden in einer Ausnahmesituation auszulösen. Die einfachste ist sicher, einen akzeptierten Hit zu spielen. Aber auch genau anders herum funktioniert es: auch das Neue, Unerwartete wird in der innovationsversessenen Tanzmusikszene gerne mit Jubel und Verbrüderung begrüßt. Wie dieses Neue geschaffen sein konnte, dafür gab es in den letzten Jahren einige Regeln. Was immer ging, waren die klassischen Steigerungsgeschichten: noch mehr Genres und lokale Musikszenen, die vermischt wurden, noch wobbeligere Basslines, noch vertracktere Beats. Seit über zehn Jahren auch sehr beliebt und irgendwie nicht totzukriegen, sind Retro-Innovationen: jeder noch so absurde Stil der letzten Dekaden feierte in den Clubs seine Renaissance.



Elektronische Musik entdeckt Zärtlichkeit - mit neuen, ungewöhnlichen Klängen.

Das alles muss vorausgeschickt werden, um zu erklären, wieso die neuesten Ausrufezeichen-Songs, so ungewöhnlich sind. Etwa das Stück 'It"s Only'. Das stammt ursprünglich von dem britischen 'Intellektuellen-House'-Produzenten Matthew Herbert und hat schon über zehn Jahre auf dem Buckel. Der Matthew Herbert-Song ist ein etwas aus der Zeit gefallenes jazziges House-Stück, das jedoch durch die unglaublichen Vocals der Sängerin Dani Siciliano besticht, die mit sehr warmer und zugleich gebrochener Stimme eine Ode an ihren abwesenden Geliebten singt: '...you carefully stealing pieces of me...' Dieser eigentlich längst vergessene Song wurde Ende letzen Jahres vom Hamburger Musiker DJ Koze geremixt. Und was er daraus machte, lässt die Clubs gerade erschauern, im wahrsten Sinn des Wortes. DJ Koze baut seinen komplett neu komponierten Remix um die Fragilität des Gesangs herum auf, er unterstreicht diese: gerade in Schwung gekommen, bricht das Song quasi ab, was bleibt, ist eine weniger hör- als spürbare Bassfläche, über der eine dünne, wackelige Keyboard-Melodie pfeift. Das in Verbindung mit dem Gesang Dani Sicilianos evoziert eine derart authentische (weil brüchige) Intimität, wie sie auch in 'intimitätsaffinen' Pop-Segmenten wie R"n"B nur selten zu spüren - und in der Dance Music vollkommen ungewöhnlich ist. Ungewöhnlich auch deshalb, weil auf einmal die Tänzer zu einem Song jubeln, zu dem geschwenkte Feuerzeuge vielleicht der adäquatere Ausdruck wären.

Also ein neuer Trend namens 'Kuscheltechno' oder 'Schmusehouse'? Dazu muss man wissen, dass es klar definierte, größere Trends im Augenblick im Bereich der Dancemusic (die damit einmal wieder als Brennpunkt von Pop im Allgemeinen erweist) nicht gibt. So sehr wie noch nie ist die Devise ein Anything goes: es gibt Neuauflagen von Detroit Techno und Oldschool House, ein nicht enden wollendes Disco-Revival, Dubstep- und Breakbeat-informierte Tanzmusik, jazziges Geklimper genau so wie düsteres Synthesizer-Geraune und dazu noch eine Sammelschublade namens 'Outsider-Dance' (in der alles steckt, was gar nicht mehr labelbar ist). Was jedoch bei aller Unübersichtlichkeit auffällt, ist eine Häufung von dezidiert emotionalen Stücken.

Zum Beispiel das unglaubliche 'Howling' von Ry Cuming und Frank Wiedemann: Cuming, ein in Berlin lebender Australier mit Vollbart (wie könnte es anders sein?) singt mit sehr zärtlicher Falsett-Stimme von nächtlichen, amourösen Angelegenheiten - und vom Heulen. Darum baut sich - im Remix des Berliner Duos Âme, der schnell zum Hauptsong wurde - ein derart schwebendes, warmes, melancholisches House-Stück auf, dass man aus Holz sein muss, um davon nicht ergriffen zu werden. Auch die meisten Stücke auf dem dieser Tage erschienen Album 'Amygdala' von DJ Koze, etwa das sehr ätherische 'Nices Wölkchen', sind in ihrer Harmonie und 'Tenderness' (interessanter Weise verwendete DJ Koze selbst den Begriff 'tender', um eines seiner Stücke, 'La Ducquesa', im Internet zu beschreiben) erstaunlich. Kronprinz dieses Mini-Trends ist jedoch der Ire Mano Le Tough, der natürlich auch in Berlin lebt und dort regelmäßig in der Panorama-Bar auflegt. Der veröffentlichte im letzten Monat auf dem Münchner Label Permanent Vacation sein Album 'Changing Days'. Auch er singt mit Falsett-Stimme über tiefsinnig-melancholischen Technosongs, die allesamt eine etwas unheimliche, irgendwie desperate Stimmung verströmen. Es wären noch viele andere Stücke zu nennen, etwa aus dem Umfeld des Berliner 'Innervisions' oder des Kölner 'Kompakt'-Labels, aber auch von alten Hasen wie dem Frankfurter Act Isolée oder der Berlin-Pariser Band Terranova. Bei aller Unterschiedlichkeit dieser Musik lässt sie sich doch auf einen gemeinsamen Nenner bringen: emotional, mehrdeutig, unkitschig.

All das kommt natürlich nicht aus dem Nichts. Die beschriebene Musik ist nichts als eine weitere Erscheinungsform des musikalischen Chamäleons House, genauer gesagt: Deep House. Wenn man böse wäre, könnte man den neuen Kuschelsound auch als 'Verweißbrotung' (also des Takeovers durch weiße Männer) der ursprünglich schwarzen Housemusic beschreiben. Die hatte und hat ihre ganz eigene Form von Emotionalität. Textzeilen wie 'Move your body' oder 'Baby wants to ride', die über einem monoton stampfenden Beat gestöhnt werden, sind eben alles andere als authentischer Ausdruck des 'Je ne sais Quoi' der Liebe - sie sind, und das ist so großartig daran - Emphase des Augenblicks. Die neue Art von House Music hingegen ist stark beeinfluss von dem Barden-Boom der letzten Jahre, von den neuen, bärtigen (und weißen) Singer-Songwriters wie Bon Iver, Scott Matthew oder William Fitzsimmons. Die besingen das Leben in all seiner Brüchigkeit und werden dafür gerne mit dem unschönen, weil machistischen Beinahmen 'Schmerzensmänner' belegt.

Bei der Übertragung dieses sentimentalen Konzepts in den Club findet jedoch eine entscheidende (und damit typisch popistische) Umcodierung statt. Was an den Barden ja bisweilen nervt, ist die Tatsache, dass ihr Leiden und Lieben oft etwas Narzisstisches hat. Im Kontext Club jedoch hat Narzissmus nichts verloren. Auf dem Dancefloor geht es nicht um den Rückzug ins Ich, es geht um den Kontakt. Das Bemerkenswerte am 'tender techno' ist, das er einem ganz speziellen Gefühl ein musikalisches Denkmal setzt. Ein Gefühl, das auf interessante Weise quer steht zu den Vorstellungen, die sich eine breite Öffentlichkeit über das Treiben in Clubs, vor allem im Berliner 'Berghain', macht. Alle die, die noch nicht drinnen waren, raunen ehrfürchtig-schaudernd von den 'unknown pleasures' in den Darkrooms und sind froh, dass es einen Ort gibt, an dem Exzessivität kaserniert ist.

All das gibt es, natürlich. Wesentlich verbreiteter aber als das, nämlich auf jedem guten Dancefloor zu fortgeschrittener Stunde, zur Afterhour, zu finden, ist die spezielle Intimsituation, die die Heterotopie Club und nur diese erschafft: diese Mischung aus abschwellendem Rausch und körperlicher Erschöpfung, die allgemein spürbare Gravitationskraft, die dazu führt, dass die Körper sich anziehen, das tänzerische Sich-Umkreisen. Natürlich gibt es auch das schon lange. Neu hingegen ist die Verbreitung des Afterhours-Feierns im Club: dass dieses Angebot eben nicht mehr nur von 'Technoheads' oder sonstigen Eingeweihten angenommen wird, sondern heute popkulturelles Allgemeingut ist. Allein schon deshalb braucht man sich - was dennoch so oft geschieht - über den Zustand von Pop in der Gegenwart keine Sorgen zu machen.

Kommentar: Bildungskatzenjammer

$
0
0
Das Gymnasium ist die neue 'Hauptschule' - in Baden-Württemberg geht sogar die Furcht vor dem Ende des Gymnasiums um.


Mehr als 1000 Jahre Bildungstradition - von heute auf morgen beerdigt. So ist es aus den erbosten Äußerungen herauszulesen. Selbst die "Mittelmäßigen" strebten danach, sich eine möglichst hohe Geistesbildung zu verschaffen, um es den "Talentvollen" gleichzutun, warnt ein Pädagoge: Je gebildeter der Mittelstand werde, desto mehr ziehe er die Bildung hinab.

Anlass für dieses Lamento war das Erstarken von Realgymnasien mit naturwissenschaftlichem Profil und modernen Sprachen, auf Kosten von Latein und Griechisch. Die preußische Schulkonferenz räumte den Absolventen der Realgymnasien im Jahr 1900 den Hochschulzugang ein. Gut hundert Jahre später ist das Abendland ob der damaligen Reform nicht untergegangen. Aber das, was man heute unter klassischer höherer Bildung versteht, ist erneut im Fokus. Die Furcht vor dem Ende des Gymnasiums geht um.



Keine Landesregierung will das Gymnasium bisher abschaffen. In Baden-Württemberg fürchten manche Eltern trotzdem das Ende des Gymnasiums.

Das dreigliedrige Bildungssystem aus Hauptschule, Realschule und Gymnasium ist weitgehend an sein Ende gelangt. In vielen Bundesländern gibt es nur noch eine einzige Schulform neben den Gymnasien; und manche Regierungen experimentieren zudem mit Gemeinschaftsschulen, an denen Kinder alle Abschlüsse machen können und auch bis zur Oberstufe nicht aufgeteilt werden. Etwa in Baden-Württemberg: Dort rät eine Kommission nun zum einheitlichen Lehramtsstudium für alle weiterführenden Schulformen, auf dem Niveau der bisherigen Gymnasialstandards. Bildungskatzenjammer stört nun die österliche Ferienruhe - die Opposition poltert, Eltern sind in Sorge, konservative Lehrerverbände wähnen die "Zerstörung" des Gymnasiums. Die grün-rote Regierung, heißt es, wolle "die Fachlichkeit der gymnasialen Lehrerbildung aushebeln", um alle Gymnasien mit Gemeinschaftsschulen zu verschmelzen.

Es wäre zu simpel, den Widerstand als dünkelhaftes Spießbürgertum zu deuten, wonach der vermeintlich minderbegabte Pöbel die vermeintlich besseren Klassenkameraden ausbremst (wenngleich es diese Haltung sehr wohl gibt). Die Sorge ist ernst zu nehmen, dass durch eine Lehramtsreform die gymnasialen Prinzipien schwinden. Die Debatte wirft eine legitime Frage auf: Welche Zukunft hat das Gymnasium? Ohne Pathos sollte man sich dazu erst einmal fragen: Was sind Gymnasien heute? Die Schulform erhebt den Anspruch, ein "Wissenschaftspropädeutikum" zu sein; also auf akademische Bildung vorzubereiten, mit Vermittlung von Fachwissen sowie Persönlichkeitsreife. Manche Kritiker, die nun in Rage geraten, haben ein Bild im Kopf, auf dem die Schüler Sallust rezitierend durch ehrwürdige Flure flanieren. Gymnasien sind heute aber Effizienzanstalten, sie sollen mehr oder weniger auf den Beruf vorbereiten, Altgriechisch lernt jeder Zweihundertste. Mit dem Tempo der achtjährigen Schulzeit geraten ganze historische Epochen im Unterricht zur Randnotiz, für kulturelle Bildung wie Theaterspiel findet sich wenig Zeit. Deutsch wurde in manchen Ländern auf drei Stunden gekürzt, neulich haben Professoren Defizite bei der Rechtschreibung von Abiturienten beklagt, viele könnten "kaum einen Gedanken im Kern erfassen und Kritik daran üben".

Die Schülerschaft ist so heterogen wie nie - kein Wunder bei Übertrittsquoten von 40 Prozent und mehr. Das Gymnasium ist, im Wortsinn, die neue "Hauptschule"; und damit keine Bildungsoase, sondern ein Ort, wo sich gesellschaftliche Probleme wiederfinden. Lehrer haben es mit einer Klientel zu tun, die früher am Gymnasium nichts verloren hatte. Wieso sollte man also nicht erwägen, in der Pädagogenausbildung auf "Alleskönner" zu setzen, die nicht nur das strebsame Bildungsbürgertum im Blick haben, sondern etwa problematische Elternhäuser; und unterschiedliche Lerngeschwindigkeiten? Das würde das Gymnasium nicht eliminieren, sondern es für die Zukunft aufstellen.

Keine Regierung will bisher das Gymnasium abschaffen, auch in Baden-Württemberg kommt jede Gemeinschaftsschule auf Antrag der Kommune zustande. Die neuen Schulen sind zwar einerseits politisch gewollt, um die frühe und ungerechte Trennung von Kindern zu verhindern. Da ist aber andererseits ein Akteur im Bildungswesen, der mächtiger ist als jeder Minister: die Demografie. Angesichts sinkender Schülerzahlen sind Komplettfusionen auf dem Land oft der letzte Weg, um Schulen im Heimatort zu erhalten. Die Option der einheitlichen Lehrerbildung zu prüfen, ist aus zwei Gründen klug. Erstens: Sie baut vor für den Tag X - an dem, falls der negative Geburtentrend anhält, auch den Gymnasien die nötigen Schüler fehlen könnten. Zweitens: Sie reagiert eben auf die Bedürfnisse eines Gymnasiums, das seinen sozialen und intellektuellen Nimbus immer mehr einbüßt.

Verlorene Generation

$
0
0
Die Arbeitslosigkeit unter Europas Jugend klettert auf Rekordstände - in Spanien und Griechenland ist jeder zweite unter 25 Jahren ohne Job.


Die jüngsten Zahlen zum Ausmaß der Wirtschaftskrise in Europa sind schockierend: Mehr als 19 Millionen Menschen in der Euro-Zone haben derzeit keine Arbeit - so viele wie noch nie seit Einführung des Euro. Allein in den vergangenen zwölf Monaten haben 1,8 Millionen Menschen ihren Job verloren. Die neueste Statistik europäischer Behörden macht damit endgültig klar: Europa erlebt in diesen Wochen den folgenreichsten sozialen Umbruch seit Jahrzehnten. Eine neue gesellschaftliche Unwucht kann nicht nur Nord und Süd noch weiter auseinandertreiben, sondern auch Reich und Arm. Vor allem aber Alt und Jung.

Denn ausgerechnet die Arbeitslosigkeit unter Europas Jugend hat dramatische Dimensionen angenommen. In Südeuropa, wo die Finanz- und Wirtschaftskrise die tiefsten Spuren hinterlassen hat, wachsen die Arbeitslosenquoten auf kaum fassbare Höchststände: Jeder zweite unter 25 Jahren ist in Spanien und Griechenland mittlerweile ohne Job. In Portugal und Italien hat statistisch gesehen jeder Dritte keine Arbeit. Im Durchschnitt liegt die Jugendarbeitslosigkeit in den 17 Ländern der Euro-Zone bei fast 24 Prozent - Tendenz steigend.



In Spanien ist mittlerweile jeder zweite unter 25 Jahren ohne Job.

Ausgerechnet die jüngsten Europäer zahlen da den höchsten Preis für eine Krise, die ihnen die alten Eliten des Kontinents eingebrockt haben.

Die neuen Daten machen deutlich, was in Europa im Schatten von Bankenrettung und dem Kampf gegen Staatspleiten zum nächsten Riesenproblem der Regierungen von Lissabon bis Dublin und Reykjavik bis Athen wird: Die ökonomisch folgenreiche Perspektivlosigkeit einer ganzen Generation. Wer heute Ende zwanzig ist, in Spanien oder Griechenland lebt und weder Studien- noch Ausbildungsplatz hat, kann den Einstieg ins Berufsleben leicht für immer verpassen, warnen Experten. Ein Problem, das längst millionenfach auftritt.

Jenseits der persönlichen Schicksale treibt die wachsende Arbeitslosigkeit ganze Volkswirtschaften noch tiefer in die Krise. Sozialausgaben steigen und lasten auf den angeschlagenen Haushalten. Die Gefahr von Altersarmut wächst, weil junge Menschen ohne Einkommen nicht vorsorgen können. Vor allem aber raubt die Jugendarbeitslosigkeit ausgerechnet schwachen Volkswirtschaften jene Wachstumschancen, die sie so dringend brauchen. Denn so kommt die am besten ausgebildete Generation Südeuropas auf dem Arbeitsmarkt nicht zum Zug.

Die Politik spürt die Brisanz des Themas: EU-Arbeitskommissar Laszlo Andor nennt es eine 'Tragödie für Europa'. Luxemburgs Ministerpräsident Jean-Claude Juncker warnt vor 'Risiken für den sozialen Frieden'. Von einer 'großen Last' spricht Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Und dennoch tun Europas Mächtige bislang wenig Konkretes, um den größten Verlierern der Krise zu helfen. Dabei ist Besserung nicht in Sicht. Brüssel rechnet in diesem Jahr mit einem neuen Anstieg der Quoten. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) sieht auch für die nähere Zukunft schwarz. Selbst in fünf Jahren werde die Erwerbsquote der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Krisenländern noch nicht annähernd das Vorkrisenniveau erreichen.

Millionen Arbeitslose, die von der Gesellschaft das Signal bekommen, nicht gebraucht zu werden - in Europa tickt eine Zeitbombe. Angesichts der Dimension des Problems müsste es einen Aufschrei in der Politik geben, doch es bleibt gespenstisch still. Wohl auch, weil den Jugendlichen die Lobby fehlt. Befristete Jobs und Gelegenheitsarbeiten lassen sie durchs Raster der Organisation in Gewerkschaften fallen. Und so scheinen Rettungspläne für Banken und löchrige Haushalte vielen Regierungen wichtiger als Rettungspläne für Jugendliche.

Immerhin, es gibt erste Ansätze: Die EU fordert von ihren Mitgliedsländern die Einhaltung einer Jobgarantie. Sechs Milliarden Euro stehen für die Programme in den nächsten sieben Jahren bereit. Nach vier Monaten Arbeitslosigkeit soll Jugendlichen eine Perspektive geboten werden - wenigstens ein Praktikum. Doch der Beschluss von Anfang März ist nur eine Empfehlung an die Regierungen und verpflichtet sie zu nichts.

Dass Hilfen gut investiert wären und die Jugend Europas viel Hoffnung liefern kann, zeigt das Beispiel Island. Die Inselrepublik in Nordeuropa war der erste Staat der Euro-Zone, den die Finanzkrise erwischte. Und nun ist er auch der erste, in dem eine neue Generation das Land umkrempelt. Die alten Eliten mussten ihre Ämter verlassen. Der ehemalige Ministerpräsident steht vor Gericht, die Schulden sind abgeschrieben. Und Reykjaviks neuer Bürgermeister? Ein Punkrocker.

Wiederholungstäter

$
0
0
Stanley Kubricks "Shining" ist einer der stärksten Schreckensfilme der Kinogeschichte. Und steckt offensichtlich voller geheimnisvoller Anspielungen. Ein Film über den Film versucht die Rätsel lösen

Wie oft Jack Nicholson mit der Axt die Tür einschlagen musste, bis Stanley Kubrick die grausigste Grimasse der Filmgeschichte im Kasten hatte, ist nicht exakt überliefert, doch irgendwann ab der hundertsten Wiederholung allerdings könnte das legendäre diabolische Grinsen des Akteurs durchaus seinem Regisseur gegolten haben. Der Perfektionist Kubrick hatte sich vorgenommen, den unheimlichsten Film überhaupt zu drehen, und in Stephen Kings Roman 'The Shining' die geeignete Schablone für seinen Mix aus intellektuellem Horror und sanft verrätselter Genreparodie gefunden.

Der Dokumentarfilm 'Room 237', der nach diversen Festivalstationen 2012, unter anderem in Sundance, Cannes, Wien, in diesen Tagen in den USA im Kino und als Video on Demand gestartet ist (einen deutschen Verleih gibt es bislang nicht), hat sich nun zur Aufgabe gemacht, das überreiche Material zusammenzutragen, das die internationale Kombinier- und Deutungskunst dreier Jahrzehnte, seit der Schocker 1980 in die Kinos kam, erschlossen hat. In den letzten Jahren ist im Internet ein richtiger 'Shining'-Hype ausgebrochen. Die Interpretationswut steht der zu den Filmen in nichts nach, die von den Kubrickianern bislang heftigst angegangen wurden, an der Spitze '2001 - Odyssee im Weltraum'! Besonders besessen sind viele Interpreten vom verfluchten Hotelzimmer 237, auf das der Titel der Doku anspielt.



Stanley Kubrick (hier am Set zu "Clockwork Orange" wolte mit "Shining" den unheimlichsten Film überhaupt drehen.

Regisseur Rodney Asher versteht seinen Film allerdings weniger als letztgültige semiotische Lupe, sondern als leidenschaftlichen Liebesbeweis ans Kino und an die Macht seiner Bilder. Denn die verborgenen Bedeutungen in 'Shining', denen Asher in Interviews mit Journalisten, Wissenschaftlern und Verschwörungsjägern nachgeht, sind - das reflektiert der Film mit einem großen Augenzwinkern - im postmodernen Interpretationsmodus natürlich allesamt gleichzeitig so falsch wie sie richtig sind. Anhand von Filmausschnitten erklären Ashers Interviewpartner ihre ausgetüftelten Theorien bis in die kleinsten Details - die meist erst durch ausgiebige Sezierung am Schneidetisch, durch Zeitlupen, Zooms und Wiederholungen, vorwärts wie rückwärts, sichtbar werden.

Das Lied vom bösen Wolf und den Schweinchen, das von Nicholsons Lippen klingt, wird so zum Verweis auf den Horror der KZs, mit dem sich Kubrick lange Zeit beschäftigt hat. Auch der Genozid an den Indianern Amerikas, so eine andere These, sei im Film thematisiert. Und die filmwissenschaftlich schon länger etablierte These, dass Kubrick mit 'Shining' auf die Geschichtsvergessenheit der Menschen anspiele, die trotz der Genozide, die sich durch die Menschheitsgeschichte ziehen, immer wieder dieselben Fehler machten. Der Film strotzt vor Anspielungen auf Mythen und Märchen, in denen Sagengestalten sich mit Schuld beladen. Jack Nicholson alias Jack Torrance ist der selbstvergessene Wiederholungstäter, der in einer endlosen Schleife sein Unwesen im unheilvollen Overlook-Hotel treibt; sein Sohn Danny, der die Fähigkeit des Shining besitzt, mit dem man alles sehen kann, was war und was sein wird, zeigt einen Ausweg aus diesem endlosen Loop auf und kann schließlich sich und seine Mutter vor dem axtschwingenden Daddy retten. Ein Film über Vergangenheit ('past-ness') nennt ein Professor das in der Dokumentation.

Verschwörungstheoretischer gehen es die Internet-Geeks an, die glauben, in 'Shining' einen Beweis für den alten Hollywood-Witz gefunden zu haben, das Manipulationsgenie Kubrick habe 1969 die Mondlandung inszeniert - da trägt doch tatsächlich Klein-Danny in einer Szene einen Apollo 11-Pulli! Ein vehementen Gegner all dieser Theorien ist Leon Vitali, der beim Dreh Kubricks persönlicher Assistent war und beim Start von 'Room 237' in Amerika sich in der New York Times über die zahllosen Bemühungen lustig machte. Viel von dem, was hier als wohl intendiert dargestellt werde, sei am Set improvisiert worden. Und was den vieldiskutierten Minotaurus auf einem Gemälde an der Wand angeht ... 'Ich habe das Ding Wochen lang angeguckt, während wir drehten. Es ist ein Skifahrer. Kein Minotaurus.'

Viel spannender als die teilweise kruden Interpretationen ist an 'Room 237' aber die genaue Analyse der filmischen Mittel, mit denen Kubrick ein ausgefeiltes System der Konfusion und permanenten Bedrohung geschaffen hat. Besonders mit der Architektur des Overlook-Hotels hat er experimentiert. Nach und nach zertrümmert er die Logik des Raums, den er zunächst so sorgfältig konstruiert hat: Zimmer, die plötzlich an einer anderen Stelle sind; Klein-Danny lässt Kubrick in legendären Steadycam-Fahrten im Tretauto durchs menschenleere Hotel scheinbar im Kreis fahren, durch einen heimlichen Schnitt aber ist der Junge plötzlich in einem anderen Stockwerk.

Kubrick hat sich zur Entstehungszeit des Films exzessiv mit Werbung und ihren subversiven Methoden der Zuschauerbeeinflussung beschäftigt. 'Room 237' zeigt, wie unbewusst durch all die kleinen logischen Brüche im Film ein großes masochistisches Unwohlsein entsteht, und offeriert damit im schwierigen Genre 'Film über Film' einen wesentlich interessanteren Beitrag als beispielsweise der vor einigen Wochen gestartete 'Hitchcock' über die Dreharbeiten von 'Psycho'.

Dabei haben ausgerechnet diese beiden Filme und ihre Macher ziemlich viel gemeinsam. Hitchcock und Kubrick hatten jeweils an einem bestimmten Punkt ihrer Karriere einen Star-Status an Perfektion und Aufmerksamkeit bei Publikum und Kritik erreicht, der kaum noch zu überbieten war. Beide entschieden sich, etwas völlig Neues zu wagen, und beide griffen dafür auf literarische Horrorvorlagen zurück. Beide Filme spielen in Hotels und in beiden Filmen wird eine Frau mit der Klinge attackiert - pure Vergewaltigungsphantasien. Der Duschmord in 'Psycho' und der Axt-Amoklauf in 'Shining' gehören längst zum klassischen Kanon des Gruselkinos, laden bis heute zu Imitationen und Parodien ein.

Während der Spielfilm 'Hitchcock' die fiktive Reproduktion von Sir Alfred vornimmt und sich letztlich in eine Art Zickenkrieg zwischen Hitchcock und seiner Frau Alma verliert, wagt sich der Dokumentarfilm 'Room 237' an die zahllosen Puzzleteile, aus denen der Film, dem er huldigt, zusammengesetzt ist. Stets in dem Wissen, dass einige Teile fehlen und andere nicht zusammenpassen werden, so wie es Kubrick vermutlich auch intendiert hat.

Einigen können sich die 'Shining'-Apologeten zumindest auf die Sache mit dem Käfer. Der Kopfmensch Kubrick und der Autor des Romans, der Bauchmensch Stephen King, gerieten in Streit, da Kubrick mit der Vorlage einfach machte, was er wollte. Und dann das: Im Roman fährt die Hauptfigur einen detailliert beschriebenen roten VW Käfer, im fertigen Film nicht. Dafür gibt es in einer Szene am verschneiten Straßenrand - man muss sich das in Zeitlupe anschauen - ein von einem monströsen Lkw zerquetschten roten Käfer. So leidenschaftlich wie Stephen King den Regisseur noch heute gern in Interviews verflucht, könnte an dieser Stinkefinger-Theorie, wie sie im Film heißt, tatsächlich etwas dran sein.

So schön backt nur Oma

$
0
0
Magazine auf mattem Papier erobern den Kiosk. Sie sind die mediale Antwort auf eine junge Bürgerlichkeit.

Es ist wenige Jahre her, da erinnerte der Zeitschriftenmarkt plötzlich an die Schulbänke der Neunzigerjahre. Wer Bescheid wusste, wählte statt weißem, glänzendem Papier die matte, leicht gräuliche Alternative. Erst war es ein Magazin, dann mehrere, und mittlerweile sehen Gala und InStyle neben den vielen dezenten Heften aus wie Strasssteinchen auf Jeanshemden neben dem Kaschmirpulli. In wenigen Jahren hat matt die Magazinwelt erobert.

Die Idee ist nicht neu: Das ehemalige jetzt-Heft der SZ war matt, ebenso sind es das Fußballheft 11 Freunde, das Nähmagazin Cut und der in nur vier Ausgaben veröffentlichte Human-globale Zufall. Derart häufig wie heute war Anti-Hochglanz allerdings selten am Kiosk vertreten.



Unter all die altbekannten Zeitungen und günstigen Heftchen am Kios mischen sich immer mehr edle Magazine.

Eines der schönen Beispiele: Der Weekender. Für die Macher des Heftes, Dirk Mönkemöller und Christian Schneider, war von vorne herein klar: Hochglanz kommt nicht infrage. Jahrelang hatten die beiden Fanzines produziert, mochten die Dummy, lasen AD, fanden sich darin nicht wieder und bedauerten, dass der deutsche Markt ohne das spanische Wohnmagazin Apartamento auskommen musste. Ohne Marktforschung beschlossen sie deshalb 2010, ein Heft für Menschen zu machen, die sich für Einrichtung interessieren.

Sie träumten von drei Ausgaben, die erste erschien im April 2011. Die Entscheidung für das matte Papier fiel, eben weil nicht Designermöbel im Vordergrund stehen sollten, sondern 'ein Blick in die Wohnung des Nachbarn' geplant war. Mittlerweile ist das zehnte Heft in Produktion, längst erweitert um die Themen Reisen und Natur, noch immer kreiert von Mönkemöller und Schneider neben ihren regulären Jobs. Doch die Auflage von 5000 ist teilweise ausverkauft, die Hefte werden bis nach Tokio ausgeliefert und wurden bei den Lead-Awards ausgezeichnet.

Wenig verwunderlich, dass der Weekender am Kiosk Gesellschaft bekommen hat. Päng!, das Stuttgarter Ergebnis einer Masterarbeit, ist gefolgt und erscheint zum vierten Mal in 15000 Exemplaren, ebenso Mensch aus Köln und weitere Hefte auf sogenanntem ungestrichenen Papier. Es geht um Einrichtung, Reise und Natur, Essen, gute Kleidung (CUT) und Menschen hinter Produkten und Ideen. Zu sehen sind Instagram-artige Bilder von restaurierten Möbeln, selbstgenähte Turnbeutel, Rennräder, Gebäck auf Oma-Porzellan. Die Protagonisten haben oft Hornbrillen und lange Bärte und erzählen von ihrer Reise, ihrem Atelier oder ihrem Leben auf dem Land. Eine typische Geschichte aus Ausgabe fünf des Weekender: Der amerikanische Webpionier Zach Klein baut mit Kumpels Hütten in den Wäldern vor New York.

Diese Hefte und ihre internationalen Artgenossen, Flamingo aus London oder Frankie aus Australien, gehen über den einst als Lebensgefühljournalismus bezeichneten Stil hinaus. Sie sind die mediale Antwort auf eine junge Bürgerlichkeit, der, wie die FAZ zuletzt entsetzt feststellte, ihre Freizeit gelegentlich wichtiger ist als die Arbeit. Päng!-Chefin Josephine Götz versucht, 'Inhalte zu bringen, die uns helfen, den Laptop auszumachen'. Dirk Mönkemöller nennt sein 'Magazin für Einblicke und Ausflüge' einen Gegenpol zum digitalen Alltag. Ein matter Look ist da die logische Konsequenz, er gehört zu den Landgeschichten, die Ödnis und Spießertum nicht verschweigen, das Papier vermittele dazu 'Authentizität', findet Mönkemöller.

Gleichzeitig wirken die Hefte genau deshalb auch widersprüchlich: Mit dem Matten geht die Vorstellung von Nachhaltigkeit einher, und die Geschichten spielen häufig in der Natur. Dennoch steht Konsum erstaunlich oft im Mittelpunkt. Nun ist Tiefgang auch nicht der grundlegende Anspruch - im Gegensatz etwa zu den ebenfalls matt erscheinenden neuen Philosophie-Magazinen. Und natürlich ist es sympathischer, wenn Menschen von einer Hütte träumen als von einer Designer-Couchgarnitur. Dass sie Erstere je bauen, ist derweil ebenso unwahrscheinlich wie ein Reihenhaus-Wohnzimmer, das nach AD aussieht. Was bleibt, ist der griffbereite Traum auf dem Coffeetable. Wenn auch der Coffeetable ein Nierentisch ist - und das Magazin darauf matt.

Wildwest-Methoden

$
0
0
USA setzen Kopfgeld auf ugandischen Rebellenchef Kony aus

Als das Gericht 2002 seine Arbeit aufgenommen hat, haben sie sich mit aller Macht dagegen gesträubt. Und bis heute erkennen die USA es nicht an. Doch jetzt verkündet Washington, es wolle den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag verstärkt unterstützen, wenn auch auf sehr amerikanische Art: mit Kopfgeld. Bis zu fünf Millionen Dollar will Washington für Hinweise zahlen, die zur Ergreifung des ugandischen Rebellenführers Joseph Kony führen. Die Namen weiterer Flüchtiger sollen übers Radio und auf Fahndungsplakaten verbreitet werden. Die Ausschreibung von Kopfgeld für mutmaßliche Kriegsverbrecher sei 'der größte Schritt, den wir bisher gemacht haben zur Unterstützung des Gerichts', sagte der US-Botschafter für internationale Strafjustiz, Stephen Rapp, der New York Times.



Bis zu fünf Millionen Dollar wollen die USA für Hinweise zahlen, die zur Ergreifung des ugandischen Rebellenführers Joseph Kony führen.

Von einer Unterstützung des Gerichts konnte in der Tat lange Zeit keine Rede sein. In der Anfangsphase torpedierten die USA die Einrichtung, drohten anderen Ländern mit Sanktionen, sollten die das Gründungsstatut unterzeichnen. Erst unter Obama entspannte sich das Verhältnis zwischen Washington und Den Haag, und im Januar verabschiedete der Kongress ein Gesetz, das es nun immerhin ermöglicht, Geld an Dritte zu zahlen für Hinweise zur Ergreifung von Flüchtigen.

Kritiker vermuten hinter der Hilfe für die Arbeit des Weltstrafgerichts vor allem strategisches Kalkül, um moralisch jene Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen, welche die USA etwa durch das Foltern von Gefangenen im Irak-Krieg verspielt hat. So werde nun abgelenkt von eigenen 'Verstößen der Amerikaner gegen das Völkerrecht', sagte Antoine Bernard, Direktor der International Federation for Human Rights, der New York Times.

Joseph Kony ist indes eine Figur, wie gemacht für eine wildwestartige Fahndungskampagne. Er gilt als einer der gefürchtetsten und zugleich bizarrsten Rebellenführer Afrikas. Er behauptet, in seinem Heimatland Uganda eine Regierung auf der Basis der Zehn Gebote errichten zu wollen. Doch seine Kämpfer marodieren quer durch Kongo, Südsudan und die Zentralafrikanische Republik. Gegründet wurde seine Truppe, die Lord"s Resistance Army, von einer früheren Prostituierten, mit der Kony verwandt sein soll. Der Internationale Strafgerichtshof sucht ihn wegen Mordes, Vergewaltigung, Zwangsrekrutierung von Kindern als Soldaten und Sexsklaven. Gerade mussten ugandische Truppen ihre Suche in der Zentralafrikanischen Republik einstellen: Die neue Putsch-Regierung stehe dem Einsatz 'feindselig' gegenüber.

Wie wichtig die Obama-Regierung das Weltstrafgericht nimmt, hat sie erst kürzlich demonstriert, als sie Kenias neuem Präsidenten Uhuru Kenyatta verhalten gratulierte und ihn an die 'internationalen Verpflichtungen' seines Landes erinnerte. Gemeint war offenkundig das Verfahren, das gegen Kenyatta in Den Haag läuft. Er soll Ende 2007 Milizen gegen Angehörige rivalisierender Ethnien aufgehetzt haben. Anders als die USA gehört Kenia zu den 122 Staaten, die das Gründungsstatut des Internationalen Strafgerichtshofs ratifiziert haben.

"Jeder Shitstorm will ordentlich betreut sein"

$
0
0
Reaktionen der Netzgemeinde wirken spontan. Sind sie nicht immer. Ein Gespräch mit Oliver Bienkowski, der gegen Bezahlung Wutausbrüche lanciert.


Oliver Bienkowski führt die 'Caveman'-Guerilla-Marketing-Agentur. Seit Kurzem bietet sie ihren Kunden an, Shitstorms im Internet anzuzetteln, jene vermeintlich spontanen Aufwallung massenhaften Zorns. Oder das Gegenteil: Candystorms, die kollektiven Liebesbekundungen der Crowd. Zwischen 4999 Euro für den Shitstorm S und 199999 Euro für den Shitstorm XL kostet diese Dienstleistung.

SZ: Herr Bienkowski, was ist Guerilla- Marketing?
Bienkowski: Guerilla-Marketing ist eine neue, urbane Form von Werbung. Wir entwerfen also keine Plakate, setzen keine Werbebanner ins Netz. Wir bauen etwa Elektrodrohnen und Heliumballons mit Werbeaufbau oder wir projizieren Licht-Embleme auf Gebäude. Wir machen auch Street-Branding, das ist partielles Reinigen von verschmutzten Flächen, hier wird dann das Logo unseres Kunden in Schmutz reingereinigt. Genauso bedrucken wir Schnee mit Kundenlogos.



Der letzte Shitstorm hagelte auf Amazon ein. Allerdings ungewollt - eine Reportage von ARD berichtete zuvor über die Arbeitsbedingungen beim Liefergiganten.

Nun bieten Sie Ihren Kunden an, 'Shitstorms' anzuzetteln. Bitte erklären Sie, was ein Shitstorm ist.
Shitstorms sind konzertierte Anläufe auf ein Thema, ein Produkt oder eine Person im Internet. Es gibt die geballte Empörung, den Shitstorm, oder die kollektive Sympathie, den Candystorm.

Wenn Sie Shitstorms anbieten, was beinhaltet Ihre Dienstleistung: Demonstrationen vor Geschäften?
Ja, auch das ist möglich. Aber unser Fokus liegt im Netz. Nicht nur in Deutschland, sondern in allen gängigen Sozialen Netzwerken auf der Welt: Twitter, Facebook oder das russische Vkontakte.

Und was genau passiert da?
Dazu muss ich etwas ausholen. Im Sommer 2009 hat die Anti-Globalisierungs-Organisation Attac unter dem Motto: 'Starte deine eigene Revolution' einen Preis für soziales Engagement ausgelobt. Den hat der Verein, dem ich vorstehe, 'Die Macher E.V.', für ein Obdachlosen-Projekt gewonnen. Das Preisgeld haben wir in weitere Obdachlosen-Projekte gesteckt. Sie erinnern sich: Im strengen Winter 2011 sind in Deutschland Obdachlose draußen erfroren. Wir haben überlegt, wie wir die Obdachlosen von der Straße holen und ihnen Arbeit verschaffen können. Wir haben sie also untergebracht, dazu haben wir Büro-Räume gemietet und ihnen netzfähige PCs zur Verfügung gestellt. Und dann ging es los. Anfangs auf Twitter: Wir haben den Parteien in Deutschland unaufgefordert Follower beschert, um auf uns aufmerksam zu machen - und auf die Parteien-Ignoranz hinzuweisen.

Bitte? Was haben Sie getan?
Ich nicht. Die Obdachlosen, die wir beschäftigt haben. Wir nennen sie unsere Partner. Nach einer kurzen Einweisung arbeiten sie mit ihren PCs: Sie schreiben auf Facebook Nutzerkommentare im Kundenauftrag, 'liken' Profile, drücken also ihr Einverständnis aus, oder werden 'Follower', Anhänger und Fans, von Personen und Parteien auf Twitter. So haben wir der CDU unaufgefordert 5000 neue 'Fans' verschafft.

Haben Sie 5000 Partner, die im Auftrag für Sie 'liken'?
Nein, nein. Jeder einzelne Partner hat zwischen 50 und 250 unterschiedliche Nutzerprofile, die er betreut. Eine Person kann also bis zu 250 neue Follower auf Twitter generieren. Sie melden sich als eine Person an, 'liken', 'followen', melden sich wieder ab, wechseln zu einem anderen Profil und machen damit dasselbe. Und so weiter. So kamen relativ schnell die 5000 neuen CDU-Follower zusammen.

Was war Ihre Motivation, die CDU unaufgefordert mit neuen Fans zu beglücken?
Das war ein Stück Gesellschaftskritik. Im letzten Bundestagswahlkampf vor vier Jahren haben alle Parteien das Thema Social Media für sich entdeckt - ohne Social Media zu leben. Die haben sich mit der schieren Zahl ihrer Follower auf Twitter und den Likes auf Facebook gebrüstet, ohne mit ihren Fans zu kommunizieren oder auf ihre Fragen zu antworten. Und nach der Wahl hat man diese falsche Social Mania wieder einstauben lassen. Dabei sind doch Dialog und Vernetzung wichtig, nicht die Anzahl von bloßen Likes. Also haben wir erst die CDU innerhalb eines Tages mit 5000 Zombie-Fans beglückt. Und, nachdem sich die Christdemokraten gewundert und auch geärgert hatten, haben wir am nächsten Tag alle anderen zur Wahl zugelassenen Parteien ebenfalls mit jeweils 5000 neuen 'Freunden' versehen. Die sind ja auch nicht besser mit ihren Fans umgegangen, haben mit Zahlen blenden wollen, die sie für Beliebtheit halten.

Das, was da von den Parteien aufgesetzt wurde, war also nicht authentisch?
Nicht nur von den Parteien. Gucken Sie sich nur die sogenannten Diskussionsforen an, in denen sich Menschen anonym beschimpfen oder auch viele Nutzerkommentare unter Artikeln von klassischen Medien. Das sind doch keine Dialoge. Da toben sich nur Trolle aus.

Also wollen Sie auf Mangel an Authentizität im Netz aufmerksam machen?
Ja, als Aktionskunst, gewissermaßen.

Und die von Ihnen angezettelten Shitstorms? Ist das auch Aktionskunst?
Wir haben 2011 mit den Twitter-Followern angefangen. Da war der Shitstorm noch gar nicht ins allgemeine Bewusstsein vorgedrungen. Danach haben wir unsere Partner das Online-Spiel World of Warcraft spielen lassen. Man kann dort virtuelles Gold erwirtschaften, das man - etwa über Ebay - real verkaufen kann. Das war die erste Einnahmequelle. Jetzt eben Shitstorms. Wir verfügen über die Infrastruktur, instruieren unsere Partner, hier mal was zu liken, dort diesen Satz unter ein Profil zu setzen. Aber unsere Kernkompetenz bleiben Guerilla-Marketing und Lichtinstallationen.

Sind die Shitstorms, die Ihre Agentur anbietet, also tatsächlich ernst gemeint?
Ja, klar. Uns geht es vor allem darum, unsere Partner von der Straße zu holen, sie zu beschäftigen. Wenn sie damit auch noch Geld verdienen, umso besser. Wir könnten ihnen nun sagen: Geht auf die Seite von sueddeutsche.de, liked diesen Artikel und schreibt Kommentare, die in diese oder jene Richtung gehen. Weil ein Kunde sich eben wünscht, die Diskussion so oder so zu beeinflussen. Das wird dann gemacht.

Ist das nicht zynisch? Haben Sie ein negatives Menschenbild, wenn sie Nutzer für so beeinflussbar halten?
Gar nicht. Ich sehe unsere Partner, die nicht mehr auf der Straße leben müssen und regelmäßig etwas zu essen haben. Wir haben natürlich einen moralischen Kodex: Wir schädigen keine Personen und Firmen und wir diffamieren keine Produkte. Wir lenken lediglich Diskussionen in bestimmte Richtungen. Und das von verschiedenen Standorten in Deutschland aus.

Wie viele Partner haben Sie denn?
Es sind schon ein paar mehr als 100.

Erklären Sie mir bitte Ihre Moral.
Wir machen nichts, was Menschen ausgrenzt. Wir verbreiten keine Lügen. Wir beeinflussen im Kundenauftrag Diskussionen. Und, das dürfen Sie nicht vergessen: Unsere Agentur bietet diese Dienste offen und offensiv an. Aber wir sind ja nicht die einzigen Dienstleister für Diskussionslenkung auf der Welt, auch nicht in Deutschland. Das passiert allerorten. Gekaufte Foren-Einträge sind heute selbstverständlich. Was wir machen, ist, uns auf Twitter und Facebook zu fokussieren. Wir retweeten Kundenbeiträge, wir kommentieren Nachrichten von Kunden auf Facebook. Aber wir echauffieren uns nicht künstlich. Ein Shitstorm kann sich gegen alles richten, auch klar. Aber wir machen nicht alles. Da wundern sich viele Kunden und manche regen sich auch auf. Wir versuchen außerdem, einen Mix hinzubekommen, also genauso viele Candystorms umzusetzen. Es ist ja auch für unsere Partner angenehmer, positive Dinge in die Welt zu setzen.

Trotzdem: Sie hängen Preisschilder an Ihre Shitstorms: Fast 200000 Euro für 15000 Kommentare und 5000 Likes. Was ist das für eine Währung?
Sie müssen sich einmal vorstellen, wie viele Menschen an solch einem Sturm arbeiten. Das kostet. Wir kriegen locker bis zu 2000 Netz-Interaktionen am Tag hin - es geht bei Stürmen immer um Schnelligkeit -, wir können auch hochskalieren. Die Preise sind so kalkuliert, dass unsere Partner davon leben können.

Das heißt: Ihre Stürme kommen von Menschenhand. Sie setzen keine Automatismen ein, Robots oder Skripte, die Textbausteine irgendwohin posten?
Natürlich bekommt man solche Interaktionen ohne technische Infrastruktur gar nicht hin. Wir setzen natürlich Skripte ein, um den Wechsel zwischen den vielen Nutzerprofilen für unsere Partner zu erleichtern und zu beschleunigen. Außerdem arbeiten wir mit virtuellen Maschinen, das heißt man kann auf einen Computer bis zu 50 virtuelle System aufsetzen.

Warum ist Erregung im Netz so viel wert? Dass 15000 Kommentare 200000 Euro kosten könnten, darauf wäre man vor zehn Jahren nicht gekommen.
Das hat mit Angebot und Nachfrage zu tun. Einfache Marktmechanismen. Jetzt, heute, ist Erregung soviel wert. Wenn Sie Fragen zum Kapitalismus haben, müssen Sie sie Leuten stellen, die sich damit besser auskennen. Wir sind die einzige Agentur im Netz, die Shitstorms offen anbietet, darum können wir die Preise auch fordern, weil die Kunden sie auch zahlen.

Das heißt also, Sie haben Kunden?
Definitiv.

Wer sind denn die Kunden, die Ihre Shitstorm-Pakete buchen?
Sie verstehen, dass ich Ihnen hier keine Namen nennen kann.

Sind es Firmen oder Privatleute?
Es sind meist mittelständische Unternehmen, keine Großkonzerne, soviel kann ich sagen. Aber auch Privatleute sind unsere Kunden. Für die finden wir Lösungen unterhalb des Shitstorm-S-Bereichs.

Die Vermutung liegt nahe, dass man jetzt viel skeptischer auf die großen Zahlen an Bewunderern und Kritikern blickt, die sich über irgendwas erregen. Eigentlich muss diese Skepsis doch Ihrem Geschäftsmodell schaden. Denn, wenn jedem klar ist, dass Erregung gekauft sein kann, ist Erregung bald nichts mehr wert.
Ich kann Ihnen keine Antwort darauf geben: Für mich ist diese Erregung wert, dass eine ganze Reihe von Menschen nicht mehr nachts auf einer Parkbank schlafen müssen. Ich kann Ihnen leider keine andere Antwort darauf geben. Wenn es damit nicht mehr gehen sollte, müssen wir uns eben etwas anderes überlegen, um die Partner von der Straße zu holen.

Verfolgen Sie eigentlich nach, ob sich, nachdem Sie einen Shitstorm initiiert haben, eine eigenständige Erregungswelle bildet, die nicht mehr Sie und Ihre Partner, sondern 'normale' Nutzer in Schwung halten?
Das gehört selbstverständlich zu den Aufgaben: jeder Shitstorm will ordentlich betreut sein. Statistische Auswertung gehört dazu und ständige Beobachtung des Diskussionsstrangs. Läuft die Diskussion einmal in eine Richtung, sorgen unsere Partner dafür, dass sie auch dort bleibt. Sie kippen immer wieder neues Öl ins Feuer. Aber es ist ja auch ganz einfach: Wenn auf einem Marktplatz zehn Leute mit dem Finger auf den Himmel zeigen, dann gucken alle nach oben. Das ist das deutsche Lemming-Prinzip. Einer läuft über die Klippe, dann laufen alle anderen hinterher.

Sind Shitstorms ein deutsches Phänomen?
Nein, das kann man weltweit adaptieren. Wir versuchen gerade, unser Modell in die USA zu exportieren. Auch dort gibt es ja genug Obdachlose, die man aus der Gosse holen muss. Sie müssen verstehen: Wir bieten Shitstorms aus humanitären Gründen an, um Menschen zu helfen. Das ist eher eine Sache des Vereins 'Die Macher'. Mit dem Kerngeschäft unserer Agentur hat das wenig zu tun.

Ihr humanitäres Engagement in Ehren, ist nicht trotzdem zynisch, was Sie anbieten?
Guerilla-Marketing arbeitet immer in einer Grauzone. Und solange nicht höchstrichterlich entschieden ist, dass das verboten ist, solange machen wir das.


Kommentar: Videoclips und weiße Unterwäsche

$
0
0
Es gibt viele Unternehmen, die ihre Mitarbeiter über die Grenzen des guten Geschmacks hinaus ausspionieren. Aber nicht jede Verhaltensvorschrift ist sittenwidrig.


Nichts bringt Arbeitnehmer mehr auf die Palme als die Bespitzelung durch Chefs. In der Vergangenheit hat es viele solcher Fälle gegeben. Der Discounter Lidl etwa ließ Mitarbeiter mit versteckten Kameras überwachen. Das Unternehmen beauftragte Detektive, um die Lebensverhältnisse der Beschäftigen auszuspionieren. Der Textildiscounter Kik soll sogar die private Finanzlage seiner Angestellten überprüft haben. Auch Bahn, Post und Telekom und andere waren in Verruf geraten. Die Bahn etwa bespitzelte Mitarbeiter, hörte Telefongespräche ab, weil sie Korruption auf die Spur kommen wollte. Und die Telekom ließ Telefonate von Mitarbeitern und von Journalisten überwachen. Die Post hat an einigen Standorten Krankenakten über Mitarbeiter geführt und sogar intimste Details über den Gesundheitszustand der Angestellten gesammelt.

Das alles war nicht in Ordnung.

Nicht okay war auch eine ganz besondere Vorschrift der US-Supermarktkette Wal-Mart. Die wollte nämlich in ihren sogenannten Ethik-Richtlinien durchsetzen, dass Mitarbeiter private Kontakte vermeiden. Die Sache ging vor Gericht: Der deutsche Betriebsrat war gegen diese Ethik-Richtlinien vorgegangen. Das Arbeitsgericht in Wuppertal untersagte einige Bestimmungen in der 28 Seiten starken Abhandlung, darunter das Flirtverbot. Wal-Mart wollte den Beschäftigten vorschreiben: "Sie dürfen nicht mit jemandem ausgehen oder in eine Liebesbeziehung zu jemandem treten, wenn Sie die Arbeitsbedingungen dieser Person beeinflussen können oder der Mitarbeiter Ihre Arbeitsbedingungen beeinflussen kann." Auch untersagt die Richtlinie "sexuell deutbare Kommunikation jeder Art". Die Gewerkschaft Verdi verbuchte den Beschluss des Gerichts als Erfolg. Der Kodex beinhalte schwerwiegende Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte, hieß es damals. Wal-Mart hat sich längst aus Deutschland zurückgezogen und seine deutschen Filialen an den Konkurrenten Metro verkauft.



Die Deutsche Post stand in der Kritik, weil sie teilweise intimste Details über den Gesundheitszustand ihrer Mitarbeiter sammelte.

Allerdings: Nicht jede Verhaltensvorschrift ist sittenwidrig. Dazu gehört etwa, wenn Verkäufern das Wording vorgegeben wird. Immerhin bestimmen gerade sie das Image der Firma in den Läden mit. Handlungsanweisungen und Sprachregelungen sind in vielen Unternehmen nicht unüblich. Dies soll nach außen ein einheitliches Erscheinungsbild und eine klare Kundenansprache sicherstellen. Der US-Computerkonzern Apple etwa soll in einem Arbeitsbuch solche Sprachregeln zusammengefasst haben. Das Apple-Buch kursiert in Auszügen im Technikblog gizmodo. Dort gibt es klare Anweisungen an Verkäufer und Berater, was sie sagen dürfen und was nicht. Auf dem Index etwa steht das Wort "crash", Absturz. "Never say crash", heißt es in dem Blog. Apple-Computer stürzen eben nicht ab, sondern sie "antworten nicht". "Probleme" sind "Situationen" oder "Bedingungen". Die Laptops laufen nicht "heiß", sondern sie "erwärmen sich" und die Produkte sind keinesfalls "nicht kompatibel", sondern "arbeiten nicht zusammen". Das Schulungsbuch soll sogar die Körpersprache vorschreiben: Wer Nase oder Augen reibt, signalisiere Geheimnistuerei, wer den Kopf in die Hand stützt, zeige Langeweile und wer auf der Stuhlkante sitze, sei aufgeschlossen und kooperativ. Ziel aller Anweisungen sei es, dem Kunden ein gutes Gefühl zu vermitteln. Er soll glücklich und zufrieden mit einem Kaufvertrag in der Tasche den Laden verlassen.

Auch eine Kleiderordnung dürfen Firmen durchaus vorgeben - besonders für Mitarbeiter mit Kundenkontakt. Dies entschied das Landesarbeitsgericht Köln vor zwei Jahren für die Fluggastkontrolleure am Flughafen Köln/Bonn. Die dürfen seither nur in weißer oder fleischfarbener Unterwäsche erscheinen, wenn dies dem Schutz der vom Arbeitgeber gestellten Dienstkleidung und einen ordentlichen Erscheinungsbild dient. Muster- und Farblosigkeit gilt auch für Feinstrumpfhosen und Socken. Außerdem kann der Chef verlangen, dass das Haar gewaschen und der Bart rasiert wurde. Dass Männern dagegen verboten wurde, die Haare zu färben und dass Frauen die Fingernägel nur einfarbig lackieren sollten, ging den Richtern zu weit. Dresscodes sind es überdies auch bei Banken üblich. Bei der Schweizer Großbank UBS sind enge Röcke und knallbunte Krawatten für Schalterleute verpönt.

Unumstritten ist dagegen, dass eine Duz-Vorschrift, so wie beim Möbelhaus Ikea, nicht erzwungen werden kann. Mitarbeiter machen sich aber womöglich zu Außenseitern, wenn sie auf dem "Sie" beharren. Gehört das "Du" zur Firmenkultur dann sollten sie sich daran halten - oder eine neue Firma suchen.

Wühlen in der fremden Tasche

$
0
0
Wie verhindert man, dass Mitarbeiter klauen? Der US-Modekonzern Abercrombie & Fitch versuchte es bei seiner Tochter Hollister in Deutschland mit ganz eigenen Kontrollmethoden. Jetzt traf man sich vor Gericht.


Stefan Garbotz ist das, was man bei der amerikanischen Modemarke Hollister einen "Overnighter" nennt. Sein Dienst fängt um 21 Uhr an, wenn der Laden in der Frankfurter Einkaufspassage MyZeil zugemacht hat. Bis zwei Uhr morgens füllt er dann Kapuzenpullis, Jeans und Sweatshirts in Lager und Laden auf, faltet die Ware, sichert sie gegen Diebstahl.

Diebstahl ist schon das richtige Stichwort, um das es an diesem Donnerstag auch vor dem Landesarbeitsgericht Frankfurt geht. Garbotz sitzt mit seinem Anwalt Peter Rölz dem Richter gegenüber, neben ihnen der Anwalt des Arbeitgebers, Gregor Dornbusch. Es ist nicht so, dass Garbotz geklaut hätte. Es geht eher um die Methoden des Arbeitgebers, mit denen er versucht zu verhindern, dass jemand klaut.



Die Kontrollmethoden von Hollister, um Diebstahl von Mitarbeitern zu verhindern, beschäftigten nun auch das Landesarbeitsgericht Frankfurt.

"Die Vorgesetzten durchwühlten regelmäßig die Taschen von Mitarbeitern, tasteten sie am Körper ab, man musste die Hosenbeine heben, als Beweis dafür, dass man darunter keine gestohlene Zweithose trug", schildert Garbotz diese Methoden am Rande des Prozesses. Die Kontrollen hätten nicht nur am Ende des Dienstes stattgefunden, sondern willkürlich zu jeder Zeit. Und es sei vorgekommen, dass Vorgesetzte sich über private Utensilien lustig gemacht hätten, die sie in den Taschen fanden.

Hollister ist die Zweitmarke des US-Modekonzerns Abercrombie & Fitch, der seit drei Jahren in Deutschland eine Filiale nach der anderen eröffnet und für Aufsehen sorgt. Das besondere an ihnen sind die künstlich erzeugten Schlangen davor und der künstliche erzeugte Duft drinnen. Leicht bekleidete, junge, durchtrainierte Männer locken vor allem pubertierende Mädchen an. Mit genervten Müttern warten sie bis zu einer halben Stunde in der Schlange, bis ihnen Einlass gewährt wird. Drinnen herrscht Disco-Atmosphäre mit wummernder Musik und abgedunkeltem Licht. Die Mitarbeiter sind entweder "Impacter", die Regale einräumen, oder "Models", die in Fitnessstudios oder Schwimmbädern rekrutiert werden, 30 Euro pro Stunde verdienen und die Firmenphilosophie hochhalten: Hollister macht teure Mode nicht für jedermann. "Ganz ehrlich, wir wollen die coolen Kids. Viele Menschen haben in unserer Mode nichts zu suchen", hat der ansonsten verschwiegene Firmengründer Michael Jeffries, 68, einmal gesagt.

Dicke Luft herrscht in den Hollister-Läden nicht nur wegen des Parfüms. Das gilt besonders für die Frankfurter Filiale, der einzigen in Deutschland, die bisher einen Betriebsrat hat. "Der Arbeitgeber hat alles versucht, um die Gründung zu verhindern", sagt Luthfa Rahman von der Gewerkschaft Verdi. Mitarbeitern sei gedroht worden, sie würden gekündigt, wenn sie an der Wahl teilnähmen. 200 Leute arbeiten in der Zweigstelle, zu 80 Prozent sind es Aushilfen, meist Studenten. Im November wurde der Betriebsrat gegründet. Sein Vorsitzender ist: Stefan Garbotz.

"Wir machen einem amerikanischen Konzern gerade klar, dass in unserem Land andere Sitten und ein anderes Arbeitsrecht herrschen", sagt Gewerkschaftssekretärin Rahman. Sie habe so etwas im Einzelhandel noch nie erlebt. Es geht nicht nur um Diebstahlkontrolle, sondern auch um die Überwachung der Mitarbeiter am Arbeitsplatz. In Laden und Lager seien Kameras installiert gewesen, mit denen Mitarbeiter dauerhaft überwacht worden seien. "Das verletzt das Persönlichkeitsrecht massiv", sagt die Gewerkschafterin. Inzwischen habe der Arbeitgeber Blenden vor den Kameras angebracht.

An diesem Donnerstag aber geht es nur um die Taschenkontrollen. Betriebsrat und Arbeitgeber haben in der Zwischenzeit eine außergerichtliche Einigungsstelle angerufen. Die vorläufige Einigung hört sich skurril an, Arbeitgeber-Anwalt Dornbusch nennt sie "Würfellösung": Damit Vorgesetzte nicht mehr willkürlich jeden Mitarbeiter kontrollieren können, wird bei Dienstschluss gewürfelt. Durchsucht werden dürfen nur Beschäftigte, die eine Vier gewürfelt haben. Es ist dies ein Zufallsverfahren, wie es auch bei größeren Betrieben üblich ist, allerdings mit ausgefeilteren technischen Mitteln. Anfang Mai wollen sich die Parteien treffen, um eine endgültige Lösung zu finden. Das Verfahren vor Gericht ist deshalb eingestellt.

Gewerkschafterin Rahman erwartet, dass sie mit Hollister noch viel Arbeit haben wird. Es gehe darum, Arbeitsrechtsstandards aller Art durchzusetzen: Lärm, Arbeitszeiten, Befristung von Verträgen, Kleiderordnung. "Mitarbeiter wurden angehalten, die teuren Sachen von Hollister zu tragen, dabei verdienen viele nur 400 Euro im Monat", sagt Rahman. Das Problem sei, dass kaum etwas Schriftliches existiere, das System funktioniere über impliziten, mündlichen Zwang.

Und dann gibt es noch 16 Hollister-Shops in Deutschland, die überhaupt keinen Betriebsrat haben.

Hip und Hop

$
0
0
Lass uns schnell ein Lied machen: In einer Pariser Nacht trifft Patrice auf Max Herre. Nachgeschaut werden kann das bei Arte.


Die ersten Film-Bilder nach dem obligatorischen, aber hier sehr schönen Vorspann sind: abschreckend. Man sieht, was man ja immer auch hierzulande sieht seit gefühlten zwei zermürbenden Jahren: Schnee, Grau, Eis, eine Stadtsilhouette, die sich im frostigen Nebel eines weiteren kalten Tages in diesem ewigen Winter zu verlieren scheint, trunken wie bestürzt zugleich, als habe sie sich ergeben und überlasse der bleischweren Frostwettersuppe nun endgültig das Terrain.

Dann tritt Max Herre ins Bild, gekleidet wie ein Winterhipster, mit roter Nase und einem klug gewundenen roten Schal - und ist sofort sympathisch. Herre ist Musiker, ein (solo und mit der Band: Freundeskreis) äußerst erfolgreicher Musiker, muss man wissen. Der gebürtige Stuttgarter macht Hip-Hop, Reggae, Rap auf Deutsch: Das Stück 'A-N-N-A' ist vielleicht noch in Erinnerung, es bedeutete Herres musikalischen und kommerziellen Durchbruch.



In einer Pariser Nacht trifft Max Herre auf den Reggae-Star Patrice. Nachverfolgen kann man das am Sonntag auf Arte.

Herre trifft in dem winterlich verunstalteten Paris auf Patrice, einen deutschen Reggae-Star mit Wurzeln in Sierra Leone, der in Köln zur Welt kam, aber jetzt auch Frankreich zu seiner Wahlheimat gemacht hat. Und obwohl die französische Hauptstadt, die nächtliche zumal, für die Dreharbeiten nur Bilder von der dunklen Seite des Vorfrostfrühlings geliefert hat, entsteht mit den beiden sofort: Wärme. Man plauscht zuerst ein wenig, trinkt Tee und Patrice sagt: 'Wir können ja schnell ein Lied machen. Ein neues.' Dann hipp-hoppen sie ein bisschen mit Spontan-Texten, sehr nett, sehr professionell auch und es wird viel gelacht.

Dann geht es fachsimpelnd und Erfahrungen austauschend los in die vor allem afrikanisch angehauchte Pariser Nacht. Zuerst zum Friseur aus Kongo, man landet in Plattenläden und spricht über eigene Alkohol-Erfahrungen, die frühe Tina Turner, den verheerenden Einfluss von Yoko Ono auf die Beatles und den gerade runderneuerten David Bowie. Die beiden Künstler sind sich nicht immer einig, nicht in Fragen zur Erziehung ihrer Kinder und auch nicht über ihre Rollenverteilung in dem Film. Sie sprechen es offen an und aus. Man sieht sie dann im Studio mit dem nigerianischen Schlagzeuger Tony Allen, der ihnen derart cool und ausgewachsen klarmacht, wo der Bartl hier musikalisch den Most abholt, dass die Rapper eigentlich, obwohl sie mitjammen, nur noch ehrfurchtsvoll dabei zusehen können.

Mittlerweile wird nicht mehr nur Tee getrunken, sondern Wein und Cognac, und das merkt man auch. Es wird immer netter. Gerade, wenn irgendwie verquer über den Moment des Todes gesprochen wird, aber auch mit dem Poetry-Slammer Saul Williams, der vor seinem Kamin erklärt, warum Sprache auch Musik sein kann. Offen gestanden: Nach der Nacht ist der Winter gegessen.

Durch die Nacht mit... Max Herre und Patrice, Arte, Nacht zu Sonntag, 00.40 Uhr.

Wenn Pegasus stinkt

$
0
0
Der Unfall von Mayflower hat die Diskussion um die Energieversorgung in Amerika neu entfacht. Es geht nicht nur um die Sicherheit der Transportwege. Präsident Obama muss über den Bau einer neuen Pipeline entscheiden

Der schimmernde Schlamm quillt aus einem Waldstück in die Vorgärten, von dort aus weiter auf die Straßen. Plätschern und Blubbern ist auf den Amateurvideos zu hören, die die Anwohner gedreht haben - vor einer Woche, als das Öl nach Mayflower, Arkansas, kam. Hinter den Häusern war eine Pipeline des Energiekonzerns Exxon Mobil gebrochen, Pegasus heißt sie, benannt nach dem geflügelten Pferd aus den griechischen Sagen mit seinen weißen Schwingen. Ein Symbol der Reinheit, bewusst gewählt von den PR-Strategen.

Nun aber ist es zu spät, um die Wahrheit zu beschönen. Der geflügelte Schimmel bringt pechschwarzen Schlick und bedroht einen nahegelegenen See. Das Schlimmste aber können die Kameralinsen gar nicht einfangen. 'Abscheulich' nennen die Anwohner den Gestank. Kaum hatten sie die Gase eingeatmet, klagten sie über Kopfschmerzen und Übelkeit. 22 Familien mussten ihre Häuser verlassen und können noch immer nicht zurück, obwohl inzwischen kein neues Öl mehr aus der Pipeline tritt.



Ein Säuberungsteam bei der Arbeit

Dennoch: Die schwarze Flut von Mayflower wird nur als Fußnote in die Geschichte der Ölkatastrophen eingehen. Schlimmstenfalls sollen 10 000 Fässer Rohöl, etwa 1,6 Millionen Liter, ausgelaufen sein. Ein Rinnsal verglichen etwa mit dem Schwall, der im Sommer 2010 aus einem Bohrloch im Golf von Mexiko sprudelte und monatelang nicht gestoppt werden konnte. Und doch ist die Bedeutung der Geschehnisse von Mayflower immens, kommen sie doch zu einer Zeit, in der Präsident Barack Obama die wohl wichtigste energiepolitische Entscheidung seiner zweiten Amtszeit fällen muss.

Der Energiekonzern Transcanada plant eine Pipeline der Superlative, Keystone XL wird sie genannt. Sie soll Pegasus entlasten und Öl aus den Teersandgebieten in der kanadischen Einöde direkt zu den Raffinieren am Golf von Mexiko leiten. Die künftige Hauptschlagader der amerikanischen Energiewirtschaft ist ein Großprojekt, 2735 Kilometer lang und sieben Milliarden Dollar schwer. Es verspricht zigtausende Jobs und hohe Gewinne. Doch Umweltschützer stemmen sich gegen den Bau mit aller Macht, und das Unglück von Mayflower verleiht ihren Warnungen neues Gewicht.

Obama steht vor einem Dilemma. Er allein muss letztlich die Entscheidung fällen. Schon 2011 bedrängte ihn die Öllobby, doch der Präsident spielte auf Zeit, wollte den Streit um die Pipeline aus dem Wahlkampf heraushalten. Jetzt ist der Aufschub abgelaufen, eine Entscheidung muss her. Wird Keystone XL gebaut oder nicht? Es gibt keinen Mittelweg für Sowohl-Als-Auch-Politiker Obama. Entweder er empört die Öllobby, die seine politischen Gegner mit Milliardensummen aufpäppeln kann, oder er verprellt die Umweltschützer, die bisher zu seinen treuesten Unterstützern zählen. Am Mittwoch zogen mehr als 1000 Demonstranten in San Francisco auf die Straße, um den Präsidenten, der für ein Spendendinner in der Stadt war, an sein ökologisches Gewissen zu erinnern. Es war ein Vorgeschmack auf die Proteste, die drohen, wenn Obama die neue Pipeline genehmigt.

Gegen das Projekt sprechen zunächst sicherheitstechnische Bedenken. Das Vorhaben ist äußerst anspruchsvoll, quer durch den nordamerikanischen Kontinent soll die Leitung laufen und dabei ökologisch sensible Gebiete passieren, vor allem im Bundesstaat Nebraska. Zudem ist das Öl, das aus Teersanden gewonnen wird, ungewöhnlich zäh (Infokasten). Es muss erhitzt und bei besonders hohen Druck gepumpt werden, damit es in Bewegung kommt. Nur sind Pipelines, die unter hohem Druck erhitztes Öl transportieren, nach Einschätzungen von Umweltschützern wie dem Natural Resources Defense Council deutlich havarieanfälliger als Leitungen, durch die normal temperiertes Öl strömt. Zudem lässt sich dickflüssiges Öl im Falle eines Unglücks sehr viel schwerer absaugen als konventionelles Öl. Vor allem, wenn es in Gewässer gelangt.

Was dem See bei Mayflower droht, ist im Kalamazoo River in Michigan schon geschehen. Auch dort ist kanadisches Rohöl ausgelaufen. Doch statt sich an der Wasseroberfläche zu sammeln, sackten Teile der schwarzen Masse ab und wälzen sich seither auf dem Flussbett stromabwärts. Schwimmbarrieren, mit denen ausgetretenes Öl normalerweise aufgestaut wird, erwiesen sich als weitgehend nutzlos. Die für die Ölpest verantwortliche Energiefirma Enbridge bezifferte die Kosten der Aufräumarbeiten ursprünglich auf gerade einmal fünf Millionen Dollar. Inzwischen rechnet sie mit einer Belastung von 700 Millionen Dollar. Von einer technisch völlig neuen Herausforderung spricht die Umweltbehörde EPA.

Doch den Pipeline-Gegnern geht es um mehr als nur Sicherheitsbedenken. Es geht ihnen auch um Grundsätzliches, um die Frage nämlich, ob in Zeiten des Klimawandels überhaupt eine Ressource vermarktet werden soll, die eine so katastrophale CO2-Bilanz vorzuweisen hat wie Teersande. Bisher hat Kanada mit einem Flaschenhalsproblem zu kämpfen. Öl kann im Überfluss gefördert werden, doch es mangelt an Transportmöglichkeiten. Wenn das bestehende Pipeline-Netz erweitert würde, stünde der Ausbeutung der kanadischen Bodenschätze nichts mehr im Weg, so die Befürchtung der Umweltschützer. Sollte es so weit kommen, wäre ein kritischer Punkt erreicht, warnt der NASA-Klimaforscher James Hansen. 'Game over' für den Kampf gegen den Klimawandel, hieße es dann.

Transcanada und die Öllobby halten solche Szenerien wahlweise für weltfremd oder maßlos übertrieben. Erstens werde sich Kanada nicht davon abbringen lassen, seine Bodenschätze zu fördern. Zweitens zeige eine Studie des US-Kongresses, dass die Keystone-Pipeline, den jährlichen Treibhausgas-Ausstoß der USA um maximal 0,3 Prozent erhöhen würde. Der daraus resultierende globale Temperaturanstieg beträgt 0,00001 Grad Celsius. Mit anderen Worten: Er ist kaum messbar und kein Grund zur Sorge. Auch bei den Sicherheitsbedenken versuchen die Unternehmen zu beschwichtigen. Die ursprünglichen Pläne seien überarbeitet worden, inzwischen sei eine neue Strecke gefunden, die einen Bogen um Naturschutzgebiete schlägt. Zudem seien Pipelines das sicherste Transportmittel für Rohöl. Unfälle mit Tanklastern und Güterzügen seien um ein Vielfaches häufiger.

Nebraskas Gouverneur, in dessen Bundesstaat der Widerstand gegen die Pipeline besonders groß ist, hat dem Projekt inzwischen zugestimmt. Auch 53 Senatoren, darunter neun Parteifreunde Obamas, dringen auf eine rasche Genehmigung. Zudem sprechen sich Gewerkschaften, ebenfalls wichtige Alliierte des Präsidenten, für die Pipeline aus. Und Umfragen zeigen, dass zwei Drittel der Amerikaner den Bau unterstützen. Beobachter in Washington erwarten daher, dass Obama im Sommer sein Okay gibt. Die Folgen des Mayflower-Unglücks dürften kaum so gravierend sein, als dass sie im letzten Moment ein Umdenken erzwingen könnten. Doch sie genügen, um die Protestbereitschaft der Pipeline-Gegner zu verstärken. Obama steht ein heißer Sommer bevor.

Fahrradjäger

$
0
0
Fünf Mal in drei Jahren wurde Martin sein Fahrrad geklaut. Jetzt schlägt er zurück: Mit einem Portal, das bei der Suche nach Fahrraddieben hilft.


Es ist eine geradezu traumatische Erfahrung: Man kommt an den Ort zurück, an dem man sein Rad abgestellt hat. Und da steht keins mehr. Das Schloss baumelt zersägt am Fahrradständer. Oder ist mit dem Rad entschwunden. Weg. Fort. Für immer.

Fünfmal ist es dem Studenten Martin Jäger so ergangen. Fünfmal in drei Jahren. Und weil ihm da teils recht teure Gefährte geklaut worden waren, wollte er sich nicht mehr damit abfinden, dass er außer einer Anzeige bei der Polizei und dem Aushängen von Suchzetteln nichts tun konnte. Und so erfand er das Internetportal www.fahrradjaeger.de, gemeinsam mit seinen Studienfreunden Steffi Wulf und Anton Marcuse. Ihre Idee: Auf dem Portal können Radbesitzer ihr Veloziped registrieren, Betroffene einen Fahrraddiebstahl öffentlich machen, und gleichzeitig kann man dabei mithelfen, dass Diebesgut zurück zu seinem Eigentümer findet.



Ziemlich mickriges Schloss. Ob das den Dieben standhält? Wenn nicht, kommen die Fahrradjäger.

Seit gut einem Jahr gibt es das Portal, dessen Stärke in einem Aufkleber liegt: Wer sein Rad - mit einer möglichst ausführlichen Beschreibung versehen - registriert, bekommt einen Sticker, erklärt Anton Marcuse: "Darauf ist ein QR-Code gedruckt, den man mit einer App auf dem Smartphone oder Tablet-PC lesen kann. Damit lässt sich ein Fahrrad in Sekundenschnelle identifizieren." Denn auf dem Smartphone erscheint nach dem Lesen des Codes ein Link zum Portal. Ist das Rad nicht gestohlen, erfährt man lediglich dies.

Handelt es sich aber um ein gestohlenes Rad, kann man es mit der auf der Seite hinterlegten Beschreibung vergleichen, den Finderlohn einsehen und vor allem eine Nachricht hinterlassen, wo man das Diebesgut entdeckt hat. Mit diesem Prinzip setzen die Fahrradjäger vor allem auf Abschreckung. Diebe können gestohlene Ware nicht mehr sorglos weiterverkaufen, da sich die Verbindung zum ursprünglichen Besitzer sehr einfach herstellen lässt. Die Aufkleber lassen sich nur in Streifen abziehen oder haften so hartnäckig, dass sie nur durch das Abkratzen des Lackes zu entfernen sind. Das erregt bei einer Polizeikontrolle Aufmerksamkeit. Und welcher Dieb lackiert schon gerne seine Beute um.

Die Polizei attestiert dem Portal das Potenzial, Täter abzuschrecken. Zudem gebe es nun ein Fahndungsinstrument für Diebstahlopfer, die aufgrund mangelnder Aussicht auf Erfolg bisher gleich auf den Gang zur Polizeiwache verzichteten. Yvonne Hanske, Polizeihauptkommissarin in Rostock, steht in gutem Kontakt mit den Fahrradjägern. Das Portal stelle seinen "Fahndungsbestand" für jedermann zur Verfügung, was die Polizei nicht mache. "Die Fahrrad-App füllt eine Lücke, die von der Smartphone-Generation gern angenommen wird", sagt sie.

Das Projekt braucht allerdings Geld. Bislang ist die einzige Einnahmequelle der Verkauf der Aufkleber; als Anschubfinanzierung diente die Siegprämie eines Gründerwettbewerbs - und die ist aufgezehrt. "Das Portal war eine Geschäftsidee. Wir haben uns zwei Jahre Zeit gegeben - und gerade sieht es besser aus als angenommen." Waren die Zugriffe anfangs auf Rostock und Berlin konzentriert, wo die Fahrradjäger studieren, seien die registrierten User inzwischen über ganz Deutschland verteilt. Das sieht man an der mit Fadenkreuzen gespickten Landkarte, auf der die Diebstähle einzusehen sind. Und erste Erfolge gibt es: 38 Räder seien bisher gefunden - und eine unbekannte Zahl an Diebstählen verhindert worden. "In der Szene spricht sich so etwas wie die Fahrradjäger schnell rum", sagt Marcuse.

Schotten-Chic statt Wurstpelle

$
0
0
Seit Räder passend zur Lebenseinstellung ausgewählt werden, entdecken Designer die Fahrradmode. Von der Insel kommen jetzt gedeckte Farben und ein wiederentdeckter Stoff

Die "Belgische Mischung" versetzt einen in Staunen. Es ist schwer vorzustellen, dass die Radsportler einst nicht einfach aus ihren Sätteln gekippt und auf der Straße verendet sind. Denn diese "Pot Belge", die sie sich früher reingezogen haben, ist eine Teufelsmischung aus Amphetaminen, Heroin, Kokain, Betäubungsmitteln, Corticosteroiden und was der Medizinschrank und der Drogenmarkt sonst noch so hergaben. Mit dieser Art des Brachialdopings kurbelten Zweiradjunkies in den Zeiten vor Epo und Co über asphaltierte Leidenswege.

Die Zeiten sind vorangeschritten, die Dopingmethoden haben sich verfeinert - nur die Schmerzen sind geblieben. Zum Beispiel, wenn man den Katalog eines großen deutschen Fahrrad-Versenders durchblättert: Der Anblick gängiger Fahrradbekleidung löst Pein aus. Die aktuellen Kollektionen für Mountainbikefahrer sehen aus, als hätte man Schränke mit Skimode aus den achtziger Jahren gefleddert: Die Shirts sind weit geschnitten, die Muster knallen und die Farben sind neongrell. Es ist schwer bis unmöglich, diese Funktionswäsche mit Würde zu tragen.



Was super aussieht: Wie dieser Mensch über Stock und Stein heizt. Was nicht so super aussieht: Was er dabei anhat. Aber die Fahrradmode ändert sich gerade

Dabei geht es längst schon anders. Denn das Rad ist nicht mehr das Vehikel der armen Leute, die sich kein Automobil leisten können - und dementsprechend ist die Radmode mittlerweile auch von den verschiedensten Designern entdeckt worden. Das Rad-Outfit kostet dann gerne mal mehr als das Veloziped selbst. Das Rad ist Sinnbild der Lebenseinstellung des jeweiligen Fahrers geworden, denn wer möchte behaupten, es sei egal, ob man nun ein minimalistisches Singlespeed-Rad, ein voll ausgestattetes Mountainbike oder ein Elektrofahrrad fährt? So, wie die Räder in den vergangenen Jahren diversifiziert wurden, hat sich auch die Mode erweitert. Radkleidung war noch vor ein paar Jahren reine Sportkleidung - die immer gleiche Wurstpellenoptik mit Popo-Dämpfung. Die allerdings passt nicht zu einem lässigen Singlespeed-Rad, und ins Büro mag damit auch nicht jeder fahren.

Große Bekleidungsfirmen wie der Jeanshersteller Levi"s haben deshalb das Zweirad als Verkaufsvehikel entdeckt. Designer wie der Brite Paul Smith entwerfen Kleider, die zum stilechten Brooks-Ledersattel passen. Unternehmen wie der Berliner Laden Prêt-à-Vélo verkaufen Textilien im Retro-Chic und Modeschauen mit Zweirad werden in Berlin, München und anderswo auch längst organisiert. Das Pendel der Fahrradmode schwingt - weg von der Wurstpelle hin zum Zwirn. Wagen wir einen genaueren Blick.

Zum Beispiel auf das Boultbee Blackwell Cycling Jacket. Es wird aus wasserabweisendem Material gefertigt und soll den strampelnden Büromenschen auf dem Weg zur Arbeit in den Übergangszeiten vor Nässe schützen. Es sieht ein bisschen wie eine abgespeckte Version der klassischen Barbour-Jacke aus: dunkles, leicht angeschlammtes Grün, am Hals eine Art Gürtelschnalle und eine Tasche links neben dem Reißverschluss. Dass es sich um eine Jacke für Radler handelt, gibt lediglich der Schnitt preis: Am Rücken ragt halbrund ein Textillappen nach unten, der den Hintern vor Spritzwasser schützt. Denn in sportlicher Fahrhaltung rutscht die Rückenbedeckung ohne die runden Extralappen über den Hosenbund - und dann kann Regenwasser hineinlaufen. Bestimmt passt die Jacke ganz großartig zum ab Werk vorgealterten Brooks-Ledersattel aus Großbritannien - doch hier kommt der Haken: Das edle Stück kostet 549 Euro.

Für nur 150 Euro mehr erwirbt der solvente Moderadler dazu einen Blazer vom gleichen Hersteller. Das Boultbee-Elder- Street-Cycling-Jacket besteht aus wasserabweisendem Fox Brothers Tweed. Die Ärmel seien für den Radsport vorgeformt, heißt es, am Rücken befinde sich eine schräg angesetzte Sturmtasche, ganz wie bei einem herkömmlichen Trikot. Reflektierende Riemen sind ebenfalls aufgenäht und die Ellbogenpatches kann man an Münchner Ampeln sicher gut einsetzen.

Mit seinem Tweed-Rad-Jacket qualifiziert man sich für Fahrradmodeblogs - natürlich aber nur, wenn die anderen Zutaten des Zweiradgesamtkunstwerks die modische British- oder besser Scottishness bis ins Detail vervollkommnen. Schuhe, Sattel, Tasche, Hut - ach ja, und natürlich das Fahrrad. Mit einem Fox-Brothers-Tweed-Elder-Street-Cycling-Jacket lässt man sich nicht auf einem Kettler Alurad mit 21Gängen und schiefen Satteltaschen blicken. Da muss es schon etwas wie das Pashley Guv"nor sein - Doppelrahmen, handgefertigt in England, irre schick, aber man fragt sich doch, ob man damit auch fahren oder es nur dreckig machen kann. Denn dieses Rad wird in den gängigen Blogs verblüffend selten beim Gefahrenwerden abgebildet, sondern vor allem, wie es dekorativ an der Wand hängt oder vor Bücherregalen in minimalistisch eingerichteten Behausungen steht. Vielleicht ist das Fahrradmodependel da ein wenig in die Extremzone geschwungen.

Es geht aber auch zurückhaltender. Die Produkte des sperrig zu schreibenden japanischen Labels PEdALED sind etwas weniger geckenhaft, etwas dezenter und auch ein bisschen preiswerter als die Business-Radler-Kostüme aus Tweed. Die Jeans haben eine höher angelegte Naht über dem Gesäß, um die sensible Nierengegend zu schützen. Eine andere Hosenlinie verfügt über Seitentaschen, die sich wechseln lassen. Auch britischen Radl-Chic bietet das Label: Ein graues Allan Hacking Jackett aus russischem Leinen. Dezent, sehr schön - und doch bleibt die Frage, ob sich Sattel und Abendgarderobe vertragen. Kurze Hosen aus Leinen, so genannte Travelshorts, verkaufen die Japaner auch. Was daran spezifisch fürs Fahrrad entwickelt wurde, ist wiederum ein kleines Rätsel, denn sie weisen keine radspezifischen Verstärkungen oder Verlängerungen auf.

Anders die Hosen und Shorts aus dem Hause Levi"s, zumindest jenen aus seiner Pendlerserie. Die heißt natürlich nicht so, sondern wesentlich dynamischer: Commuter Series klingt eher nach Mad Men als nach Waldperlacher Alltagspendlern. Bei diesen recht schicken Modellen ist der Stoff im Schritt verstärkt. Am Gürtelbund gibt es Schlaufen, an denen sich während der Fahrt das Schloss befestigen lässt. Unter allen neuen Mode-Vorschlägen wohl die tragbarsten Alltags-Alternativen.

Modeaffine Radler und urbane Hipster mögen mit der Tweed-Radlmode auf dem Trottoir vor ihrer Tagesbar oder auf Laufstegen umherpedalieren - aber was ist nun mit dem Sportradler? Womöglich ist das Trikot "DeMarchi Merino Jerseys - Filotex 1975 Replica" eine Lösung. Das Retro-Teil in Blau sieht irre schick aus, hat einen Rundkragen, drei Taschen mit Perlmuttknöpfen (!!!) und ist aus Merinowolle gewebt. Dieses Trikot kann vielleicht optisch mit dem bunt geringelten Molteni-Hemd mithalten, das der Radsportheld Eddy Merckx in der düsteren Pot-Belge-Ära trug. Aber auf einem Rennrad, fies verschwitzt, mit Tunnelblick und einer frisch verschluckten Fliege im Rachen trägt wohl niemand so ein Hemd. Der Träger eines Filotex-Trikots im Stile der Siebziger lässt es wohl eher an der Bar im Club ruhig angehen - quälen können sich andere.

Textilien für den Zweiradfahrer bleiben also ein heikles Thema. Im Stadteinsatz wechselt der optisch orientierte Radler seine normalen Kleider gegen Tweed-Velo-Chic, ohne dass dies unbedingt nötig wäre. Im sportlichen Bereich wird weiter die Wurstpelle dominieren, praktisch zwar, aber optisch ohne Hipsterpotenzial. Gut aussehen oder gut radeln - diese Entscheidung bleibt bestehen. Gut ist allerdings, dass die belgische Mischung Geschichte ist. Da ist die britische Mischung doch wesentlich menschenfreundlicher.

Kasse und Klage

$
0
0
Die NPD muss aus Geldnot allen Mitarbeitern in der Berliner Parteizentrale kündigen. Ein Kommentar

Es mutet seltsam an, im Zusammenhang mit der NPD von erfreulichen Nachrichten zu sprechen, aber im Grunde ist das hier eine: Die rechtsextreme Partei hat allen Mitarbeitern ihrer Zentrale in Berlin kündigen müssen. Sie bereitet sich darauf vor, dass ihr in zwei, drei Monaten das Geld ausgeht; für den Fall, dass sie tatsächlich so lange auf Mittel des Staates verzichten muss, weil sie eine Millionenstrafe nicht beglichen hat.



Das Klingelschild der NPD-Parteizentrale

In der Debatte um ein Verbot der Partei gibt es gute und weniger gute Argumente. Das vielleicht beste Argument gegen ein Verbot lautet, dass man zwar eine Partei, nicht aber deren Mitglieder verbieten kann - die bleiben ja, mit ihrer Gesinnung und ihrem Drang zur Agitation. Eines der besten Argumente wiederum für ein Verbot ist, dass eine Demokratie es sich nicht zumuten muss, ihre Feinde zu alimentieren. Die 1,3 Millionen Euro, die der Bundestagspräsident im Jahr 2011 an die NPD überwies, machten 42 Prozent aller Einnahmen der Partei aus.

Indem die Rechtsextremisten nun so klamm sind, fügt sich womöglich das eine Argument zum anderen. Niemand kann abschätzen, was bei einem Verbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht herauskäme. Aber jeder kann sich ausmalen, was von einer Partei und ihren Sympathisanten bleibt, falls sie mangels Geld nicht mehr agitieren können. Vermutlich ist es doch so: Die Neonazis fürchten ihre Kasse derzeit noch mehr als die Klage.

Gefangen im Feindeskult

$
0
0
Nordkorea provoziert einen neuen kalten Krieg. Ein Kommentar

Nordkorea ist weder stalinistisch, wie gerne geschrieben wird, noch handelt es sich tatsächlich um einen marxistisch-leninistischen Staat, auch wenn dieser Ideologie-Vergleich noch am ehesten Sinn ergibt. Nordkorea gehorcht einer eigenen politischen Philosophie mit eigener Zeitrechnung, eigener Religion, ausgeprägter Symbolik und undurchschaubarer Hierarchie.



Der große Unbekannte: Kim Jung Un (rechts im Bild)

Koreanische Herrscherdynastien waren über viele Jahrhunderte hinweg nicht unähnlich organisiert. Und so ist es fast schon folgerichtig, dass auch die moderne nordkoreanische Dynastie der Kims seit ihrer Gründung 1948 die Macht von Generation zu Generation weitergegeben hat. Keiner modernen Diktatur der Welt ist dies je gelungen. Keine moderne Diktatur hat es auch geschafft, ein autarkes, kaum zu durchdringendes System zu etablieren, gefestigt von bellizistischem Nationalismus, kultartig fixiert auf die Führungsfigur an der Spitze, 65 Jahre schon im permanenten Antagonismus mit seinen Nachbarn und unberechenbar selbst für seine vermeintlichen Freunde.

Es könnte sein, dass sich dies alles nun ändert. Es könnte sein, dass der Druck der modernen Welt so stark wird, dass die Fiktion einer uneinnehmbaren Insel nicht länger aufrechterhalten werden kann. Die globalisierte Welt kriecht hinein nach Nordkorea - und das wäre das Ende dieses Staates und seiner Dynastie. Denn Nordkorea kann nur existieren, wenn es den Zustand der Belagerung aufrechterhält, wenn es den Feindeskult pflegt, wenn es unantastbar bleibt. Unantastbarkeit steht im Zentrum der Juche-Ideologie, der von Kim Il Sung geschaffenen Staatsphilosophie. Totale Autarkie ist das oberste Staatsziel - aber das Regime wird diese Schlüsselvoraussetzung für sein Überleben möglicherweise nicht länger bewahren können.

Unantastbarkeit ist auch das Thema nordkoreanischer Nuklearpolitik. Die Bombe dient nicht der Bedrohung etwa der USA. Selbst ein Kim der dritten Generation weiß, dass ein Angriff mit einer Atombombe auf die USA das Ende seines Staates bedeutete. Er will aber nicht Nordkorea auslöschen, sondern - wenn ihm ein Funken Rationalität bleibt - Nordkoreas Daseins als größter staatlicher Anachronismus der Erde bewahren.

Immer wieder in der Geschichte versuchte sich Nordkoreas Führung in großen Klimmzügen. Immer wieder provozierte Pjöngjang bis ins Unerträgliche, um anschließend den geordneten Rückzug anzutreten. Immer wieder wurde das Regime mit Zugeständnissen belohnt - und vor allem mit Bewegungsfreiheit. Jeder Schlag nach außen machte die Kims für eine Weile unantastbar. Die Bombe ist dabei ihre Lebensversicherung. Nicht die USA schrecken Nordkorea mit ihren Nuklearwaffen vor einem Angriff ab, Nordkorea schreckt die Welt außerhalb seiner Grenzen mit den kruden Plutonium-Bomben ab, die in seinem Arsenal lagern.

Wenn alles so durchschaubar ist, wenn der nordkoreanische Trick immer wieder gleich funktioniert - warum dann diese Nervosität? Soll er doch toben wie Rumpelstilzchen, der Dicke mit der Bombe. Doch Vorsicht: Mit Atomwaffen spielt man nicht, und Naivität ist eine der Todsünden im internationalen Geschäft. Tatsächlich gibt es im Westen eine Neigung, den Kims fast schon einen Unterhaltungsbonus zu gönnen. Weh tun wird die Krise schon nicht. Selbst in Südkorea lächeln sie auf den Straßen.

Doch das ist die Oberfläche. Die Krise ist voller Gefahren. Ganz oben steht die Figur des jungen Führers, keine 30 Jahre alt, erzogen in Europa, gekrönt vom Vater, seit der Machtübernahme nicht gesichtet beim wichtigsten Nachbarn China. Kim Jong Un ist der große Unbekannte. Liefert er sich einen Machtkampf mit modernisierungsfeindlichen Fraktionen? Blufft er nach außen, um im Inneren reformieren zu können? Hat er die Lage überhaupt unter Kontrolle? Ist es etwa möglich, dass sich seine Generalität, die den Fleischtrögen immer am nächsten war, gegen ihn gewendet hat und den kollektiven Selbstmord des Landes vorzieht? Wahn und Verblendung sind in Nordkorea tief eingebrannt. Ein Untergangs-Szenario mit einem kleinen Weltenbrand ist nicht undenkbar.

Realistischer ist aber dies: Nordkorea und seine Schutzmacht China sind gefangen in einem unauflösbaren Widerspruch. Nordkorea kann nur in der Isolation überleben, aber nicht einmal China kann diese Isolation mehr garantieren. Also muss sich das Land öffnen. Das bedeutet das Ende der Juche-Ideologie. Das bedeutet - vielleicht schnell, vielleicht auf lange Sicht - die Vereinigung mit dem Süden. China kann aber keinen Grenznachbarn Korea ertragen, dessen Schutzmacht USA bereits in Myanmar auftaucht und im Pazifik neue Basen errichtet.

Auf der anderen Seite die USA: Sie haben keine andere Wahl, als die nordkoreanischen Drohungen ernst zu nehmen. Kein Land ist zu Demut verdonnert, wenn es so unverfroren mit einem Nuklearschlag bedroht wird. Also wird über eine Reaktion nachgedacht - extended deterrence heißt das in der Codesprache und es bedeutet nicht weniger, als dass die USA zu einem nuklearen Gegenschlag bereit wären.

Um es nicht so weit kommen zu lassen, verlegen die USA Abfangraketen in den Pazifik - auf Schiffen und nach Guam. Sie untersuchen die Luft nach Partikeln aus dem letzten Nukleartest, weil die Aufschluss darüber geben, ob Nordkorea bereits über Bomben aus angereichertem Uran verfügt oder nur aus Plutonium. Anreicherung bedeutet: mehr Material, mehr Bomben. Das würde das Gleichgewicht massiv verschieben und möglicherweise in Japan und Südkorea die Begehrlichkeit nach einer eigenen Bombe wecken. China fürchtet genau dies: Noch mehr amerikanische Schiffe in seinem Einflussbereich, eine Raketenabwehr, die im Zweifel auch dem eigenen nuklearen Arsenal gilt, und am Ende - nach einem nordkoreanischen Kollaps und einer Wiedervereinigung der beiden Koreas - GI" s an seiner nordöstlichen Grenze.

So wird der junge Kim unversehens zum Katalysator einer Auseinandersetzung, auf die weder Washington noch Peking vorbereitet sind und auf die die Welt gerne verzichten könnte. Kim - oder seine Generäle - haben das Zaubermittel entdeckt, das sie noch für eine Weile unangreifbar hält: Wenn Nordkorea nicht mehr im Schatten des alten kalten Krieges existieren kann, angelehnt an Russland und China, dann eben im Schatten des neuen kalten Krieges, den es noch zu kreieren gilt. Ein monströser Schachzug eines gelehrigen Schülers der Juche-Ideologie. China und die USA müssen entscheiden, ob sie an diesem Spiel teilnehmen möchten. Beschlossen ist noch nichts.

Zärtlichkeiten verboten!

$
0
0
Ein Anruf bei Kurameddin Korkmaz, der in seinem Lokal in Innsbruck das Küssen verbietet

Küsse, Händchenhalten und Streicheln: Immer wieder kommen sich die Gäste im Innsbrucker Lokal 'Insieme' näher als Chef Kurameddin Korkmaz lieb ist. Kurzerhand hängte er neben die Hausordnung einen Zettel mit dem Hinweis: Zärtlichkeiten verboten! Wer sich nicht daran hält, den schmeißt der Wirt raus.

SZ: Herr Korkmaz, wie viele Leute bewirten Sie gerade in Ihrem Lokal?
Kurameddin Korkmaz: 30 bis 40 Gäste. Sie lesen Zeitung, trinken Kaffee, essen Pizza oder Salat.

Alles anständig.
Ja. Wir sind sehr zufrieden.

Wie kam es zu dem Aushang, dass Zärtlichkeiten zu unterlassen sind?
Den haben wir doch schon vor zehn Jahren angebracht, als es einige unschöne Vorfälle gegeben hat. Aber vor Kurzem gab es wieder eine Situation, die das alles wieder in die Diskussion gebracht hat.



In Innsbruck verbietet ein Wirt neuerdings das Küssen in seinem Lokal.

Was ist passiert?
Ein Mann saß im Lokal und hat Kaffee getrunken. Dann ist seine Frau dazugekommen und hat ihn auf den Mund geküsst.

So weit, so normal.
Natürlich. Ich bin Türke, und in meiner Heimat ist es gang und gäbe, dass wir uns umarmen und Bussi links und Bussi rechts geben. Auch die Männer. Aber die Dame hat sich dann zu ihrem Mann gesetzt und ihn zwischen den Beinen gestreichelt. Darauf bin ich hingegangen und habe gesagt: Die Rechnung geht aufs Haus, aber bitte trinken Sie Ihren Kaffee woanders.

Wie hat das Paar reagiert?
Anstatt sich zu schämen, sind sie zur Zeitung gegangen und haben sich beschwert.

Also ist Küssen zur Begrüßung erlaubt, und alles Weitere ist tabu?
Ja. Warum schmust man? In meinen Augen ist es ein sexuelles Vorspiel. Das will ich nicht haben. Die Leute sollen sich in der Öffentlichkeit beispielhaft benehmen. Ich küsse meine Freundin ja auch, wenn ich sie begrüße. Aber eben nicht mehr.

Haben Sie schon einen Blick für Paare, die auffällig werden könnten?
Ich bin kein Hellseher. Aber wir haben die Erfahrung gemacht, dass es immer Leute sind, die sich nebeneinander setzen. Dann fangen sie an ihre Hände zu streicheln, gehen dazu über, ihre Oberkörper abzutasten, fangen schließlich an zu schmusen. Es ist auch schon vorgekommen, dass der eine zur Toilette geht und der andere folgt.

Ihr Lokal heißt ja 'Insieme'...
... das bedeutet aber nicht, dass man rumstreicheln soll. Es bedeutet 'gemeinsam' auf Italienisch - das ist bewusst ausgesucht, weil wir internationale Gäste haben. Aus Deutschland, Polen oder Indien.

Haben Sie schon Angst vor dem Frühling? Da schießen ja bei vielen die Hormone ein.
Es muss ja nicht jeder zu mir kommen, es gibt hier noch andere Lokale. Meine Gäste werden königlich bedient und behandelt. Aber es gibt ein Sprichwort: Solange sich der König königlich benimmt, behandelt man ihn auch königlich.

Akademiker ohne Abi

$
0
0
An die Hochschulen strömen zunehmend Anfänger ohne klassische Hochschulreife, viele stemmen das Studium neben dem Beruf. Der Spagat zwischen Vorlesung und Arbeitsplatz beschert ihnen einen stressigen Alltag - kann sich aber am Ende auszahlen

Freitagnachmittag in Mannheim-Käfertal: Für die gut 2000 Mitarbeiter der Firma Alstom-Power steht der Start ins arbeitsfreie Wochenende bevor. Auch die Projektmanagerin Melanie Lück fährt das Konstruktionsgerät herunter - aber das Wochenende wird wieder mal anders ablaufen als bei den Kollegen. Zwei arbeitsfreie Tage bedeuten: Studien- und Lerntage. Jeden Samstag muss sie früh aufstehen, düst mit ihrem schwarzen Sport-Coupé nach Rüsselsheim, um kurz nach acht Uhr pünktlich da zu sein; um diese Uhrzeit beginnt die erste Vorlesung an der Hochschule RheinMain. Bis zum Spätnachmittag reiht sich dann Lehrveranstaltung an Lehrveranstaltung. Hinzu kommen ein wöchentlicher Seminartag jeweils mittwochs, zum Anfang und Ende des Semesters mehrtägige Blockkurse, obendrauf Klausurtermine. Mit Urlaub und ihrem Gleitzeitkonto kann die junge Frau das bewerkstelligen. Ein stressiger Alltag - mittlerweile schon seit sieben Semestern.

Melanie Lück, 27 Jahre alt, studiert Ingenieurwissenschaften und beginnt gerade mit ihrer Diplomarbeit. Darin geht es um die Frage, wie man Gasturbinen umweltfreundlicher bauen kann. Ihr Studium ist in dreifacher Hinsicht nicht alltäglich: Erstens handelt es sich um die Männerdomäne Maschinenbau, außer ihr gibt es nur noch eine Kommilitonin im Semester; zweitens absolviert Lück ihr Studium berufsbegleitend; und drittens: ohne Abitur.

Das Sommersemester beginnt in diesen Tagen. Voraussichtlich etwa 12000 der Studienanfänger werden in diesem Jahr kein Abitur haben - ihre Eintrittskarte ist der Meisterbrief, der Abschluss von Technikerfachschulen oder eine herkömmliche Lehre. Ihr Anteil wächst zwar, ist aber mit 2,3 Prozent aller Studenten noch eher gering. Andere EU-Länder verbuchen hier weitaus höhere Quoten, etwa in Schweden liegt sie bei einem Drittel der Studenten. Deutschland will aufholen, das ist seit Jahren erklärter Wille der Bildungsminister. Vor wenigen Tagen bekräftigte das Nordrhein-Westfalens Wissenschaftsministerin Svenja Schulze (SPD): 'Die Steigerungsraten sind ermutigend, aber natürlich wünschen wir uns viel mehr Studierende aus diesem Bewerberkreis. Studieren ohne Abi - das muss schlicht eine Selbstverständlichkeit werden.' Die meisten Nicht-Abiturienten im Hörsaal zählt ihr Land NRW, mit 4,7 Prozent aller Eingeschriebenen.



Absolventinnen der Universität Bonn freuen sich über ihren Hochschulabschluss. In NRW ist der Anteil der Studenten, die ohne Abitur ein Studium aufnehmen, mit 4,7 Prozent bundesweit am höchsten. 

Melanie Lück hat ihre Zeit am Gymnasium nicht in bester Erinnerung. Vor dem Abi schmiss sie die Schule: 'Das Ziel Abitur war noch so weit weg, die Zensuren waren gar nicht schlecht, aber ich wollte einfach nicht mehr.' Sie begann eine Berufsausbildung zur Technischen Zeichnerin. Lernen im Unternehmen machte ihr Spaß, Konstruieren von Gasturbinen wurde ihr Metier. Aber bald wollte sie mehr. 'Die Ausbildung war gut, mir reichte das aber nicht, ich wollte weiterkommen', sagt Lück, die ruhig und überlegt ihre Worte wählt und so dem Image vom etwas reservierten Tüftler entspricht, das Ingenieuren gerne zugeschrieben wird. Es folgte der Besuch einer Techniker-Fachschule, ebenfalls berufsbegleitend - also arbeiten und lernen, auch am Wochenende, vier Jahre. Mit dem Zertifikat zur staatlich geprüften Technikerin Automatisierungstechnik und Mechatronik in der Tasche wollte sie noch eine Schüppe drauflegen: Diplom-Ingenieurin. Doch komplett auszusteigen aus dem Job, um in Vollzeit zu studieren, kam für Melanie Lück nicht infrage: 'Ich hätte mit Bafög auskommen müssen, und die Anbindung an den Betrieb wäre auch weg gewesen.' So kam sie an die Hochschule RheinMain, die frühere Fachhochschule Wiesbaden, mit Standort in Rüsselsheim. Dort war man auf Klientel aus der Praxis tendenziell eher eingestellt als an vielen anderen Hochschulen.

Christian Streuber, Professor und Studiengangsleiter, verweist darauf, dass für viele ein Ausstieg aus dem Beruf gar nicht machbar sei - daher lancierte man das berufsintegrierte Angebot für Maschinenbau und Elektrotechnik. Bei Lücks Studienstart gab es noch das Diplom, später stellte man auf die neuen Abschlüsse Bachelor und Master um. Jeder zehnte Rüsselsheimer Student in den naturwissenschaftlichen und technischen Fächern hat seinen Job behalten. Mit all den Nachteilen für die Samstage wie bei Lück. Nur in den Ferien kann sie ausschlafen, mit dem Partner lange frühstücken, Freunde treffen.

Aber eben auch mit Vorteilen: dem Verdienst. Und den erhofften Chancen im eigenen Betrieb. Viele Unternehmen bewerten das Studium ohne Abitur durchweg positiv, fordern Mitarbeiter oft gezielt dazu auf - im Kampf gegen fehlende Ingenieure. So übernimmt Lücks Arbeitgeber die Semestergebühren in Höhe von 250 Euro. Und jetzt, bei der Diplomarbeit, kann sie die Anlagen im Konstruktionsbüro für derlei Zwecke nutzen. Streuber wirbt zudem mit Erfolgsquoten. 'Bei den Technikern führen wir knapp 90 Prozent zum erfolgreichen Abschluss, bei den Meistern sind es 60 Prozent.' Bemerkenswerte Zahlen, sind doch gerade bei universitären Ingenieurstudiengängen Abbrecherquoten von 50 Prozent üblich, wie aus Daten des HIS-Instituts für Hochschulforschung hervorgeht.

Unabhängig von Politik und Unternehmen spielt es eine große Rolle, wie offen die Hochschulen sind. Jede Einrichtung legt individuell fest, in welchen Studiengängen, unter welchen Bedingungen sie Nicht-Abiturienten aufnimmt. Und wie sie das Angebot für die neue Zielgruppe gestaltet, gerade für berufsbegleitende Studenten: Experten empfehlen flexible Modelle mit Fernseminaren sowie Brückenkurse für Stoffdefizite (siehe Artikel links). Der Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung in Bonn, Hubert Esser, beklagt, dass 'es kaum Angebote gibt, die sich an den Bedürfnissen der beruflichen Qualifizierten orientieren'. Das heißt, dass Hochschulen in der Lehre meist ihr Standardprogramm bieten - und keine gezielte Didaktik, die den Erfahrungsschatz der Praktiker ausschöpft. 'Die Hochschule knüpft zwar am Bildungsniveau der Technikerschule an, unsere Praxiserfahrungen bleiben aber außen vor', sagt auch Lück.

Dennoch - das baldige Diplom beweist es - hat sich ihr Studium gelohnt. Auch für die Karriere? Davon ist Lück überzeugt: 'Ich werde meinen Weg als Diplom-Ingenieurin machen.' Mit mehr Verantwortung, mit höherem Gehalt - sie hat da schon Ideen, wie sie sich beim Thema Gasturbine einbringen kann, vielleicht irgendwann an der Spitze ihres jetzigen Teams. Zunächst aber dürfte der Stress abnehmen, nach zwölf Jahren Bildungszeit von der Lehre bis zum Diplom. 'Da werde ich mir erst einmal überlegen, was ich ohne Vorlesungen und Lernen eigentlich anstellen soll.'
Viewing all 3345 articles
Browse latest View live