António Guterres, UN-Hochkommissar für Flüchtlingsfragen, appelliert an die internationale Solidarität und mahnt, die Konflikte in Afrika nicht zu vergessen.
António Guterres, 63, ist seit Juni 2005 Hoher Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge. Von 1999 bis 2002 war er portugiesischer Ministerpräsident.
SZ: Sie haben erst kürzlich die Nachbarländer Syriens bereist. Was haben sie dort gesehen?
António Guterres: Vor der größten Herausforderung stehen jene Syrer, die in Syrien selbst sind. Etwa 2,5 Millionen Menschen brauchen dort Hilfe, vermutlich 1,5 Millionen wurden vertrieben. Zusätzlich haben wir nun in den Nachbarstaaten etwa 350000 Flüchtlinge, die offiziell registriert sind oder sich in dem Prozess befinden. Aber wir wissen auch, dass etwa in der Türkei 70000 weitere Syrer sind, die keine Hilfe beanspruchen. Sehr wahrscheinlich sind es bereits mehr als 600000 Menschen, die gezwungen waren, vor dem Konflikt über die Grenzen zu fliehen.
Was bedeutet das für ihre Arbeit?
Zunächst müssen wir sicherstellen, dass wir internationale Solidarität mobilisieren und all diese Menschen unterstützen können. Zweitens müssen wir internationale Solidarität mit den Aufnahmeländern mobilisieren. Der syrische Konflikt hat gewaltige Auswirkungen auf die Wirtschaft, Gesellschaft und Sicherheit dieser Länder. Sie brauchen politische und ökonomische Hilfe, damit sie mit den Herausforderungen umgehen können. Es ist im aufgeklärten Selbstinteresse insbesondere der europäischen Länder, Syriens Nachbarn voll dabei zu unterstützen.
Was meinen sie mit aufgeklärtem Selbstinteresse?
Wenn der Konflikt aus Syrien plötzlich über die Grenzen schwappen würde...
... was an der Grenze zur Türkei bereits passiert ist ...
... in kleinem Ausmaß. Das würde eine erhebliche Bedrohung für Frieden und Sicherheit weltweit bedeuten. Insbesondere im nicht so weit entfernten Europa darf das nicht unterschätzt werden.
António Guterres, UN-Hochkommissar für Flüchtlingsfragen
Die Belastungen nehmen mit dem Winter noch zu. UNHCR rechnet bis Jahresende mit 700000 Flüchtlingen in den Nachbarländern. Besteht die Gefahr, dass Grenzen geschlossen werden?
Ich bin durch das klare Bekenntnis aller Nachbarstaaten, die Grenzen offen zu halten, sehr ermutigt. Es ist aber maßgeblich, dass diese Großzügigkeit auf eine viel stärkere internationale Solidarität trifft.
Was genau erwarten Sie, insbesondere von der EU?
Zunächst einmal ist es wichtig, dass auch die europäischen Länder ihre Grenzen offen halten und Syrern, die Schutz in der EU suchen, Zugang gewähren. Man kann nicht von Jordanien, der Türkei und Libanon verlangen, dies zu tun, ohne selbst so zu handeln. Das gilt insbesondere, wenn es familiäre Verbindungen gibt.
In den vergangenen 18 Monaten sind etwa 20000 syrische Flüchtlinge nach Europa gekommen. Muss sich Europa auf einen Zustrom vorbereiten?
Wenn Jordanien insgesamt 1,9 Millionen Flüchtlinge aufnehmen kann, sollte auch Europa in der Lage sein, seine Verantwortung als Asyl-Kontinent wahrzunehmen.
Was würde das beinhalten?
Das beinhaltet, die Grenzen offen zu halten für Syrer, die Schutz suchen. Und es könnte bedeuten, sich aktiv an einem Resettlement-Programm zu beteiligen, wenn es in der nahen Zukunft nötig wird.
An welche Zahlen denken Sie dabei?
Es ist sinnlos, hypothetische Rechnungen aufzustellen. Man kann das nicht vorhersehen. Entscheidend ist die Einstellung. So wie Jordanien, Libanon, die Türkei und der Irak ihre Grenzen offen gehalten haben, so sollte es auch in Europa sein.
Sollten die Staaten Europas nach 18 Monaten Syrienkonflikt in der Frage der Flüchtlinge nicht enger zusammenarbeiten?
Wenn ein Syrer in ein europäisches Land kommt und Schutz sucht, muss ihm Schutz gewährt werden. Und ich glaube, dass die europäischen Länder dies auch tun - obgleich leider nicht mit einheitlich hohen Standards. Ohne Zweifel wäre es gut, in diesen Belangen eine kohärente europäische Linie zu haben, wie in allen Asylfragen. Ich bin ein großer Unterstützer eines gemeinsamen europäischen Asylsystems. Es ist wichtig, dass die Syrer gut aufgenommen werden. Und ich glaube, dass alle europäischen Länder dazu bereit sind.
Wenn Sie an die europäische Reaktion auf die Libyen-Krise zurückdenken, an die Angst vor einem Flüchtlingsstrom: Wie groß ist Ihre Enttäuschung?
Die meisten, die Libyen verlassen haben, waren keine Flüchtlinge, sondern Arbeitsmigranten. Wir haben gemeinsam mit der Internationalen Migrationsbehörde IOM Hunderttausenden geholfen, zurück in ihre Heimat zu kommen. Für die Übrigen, die nicht zurück konnten, weil in der Heimat Krieg herrscht oder politische Verfolgung droht, gibt es ein Resettlement-Programm in verschiedene Teile der Welt. Es stimmt, dass Europa für diese Gruppe viel weniger Plätze angeboten hat als Nordamerika.
Gilt das nur für Libyen?
Grundsätzlich sind die Resettlement-Programme der USA, Kanadas oder Australiens jeweils größer als alle europäischen Programme zusammen. Natürlich ist das etwas, das ich gerne anders hätte. Da Libyen so nah an Europa liegt, hätte ich erwartet, dass Europa mehr Neuansiedlungs-Möglichkeiten für diejenigen anbieten kann, die in Ägypten oder Tunesien gestrandet sind. Und die Krise ist nicht vorbei: In der Folge sind Kämpfer und Waffen nach Mali gelangt, wo wir nun eine sehr dramatische humanitäre und eine sehr dramatische Sicherheitslage haben. Auch das erfordert einen starken Einsatz Europas, um Flüchtlinge und Vertriebene in Mali zu unterstützen, aber auch um Bedingungen für eine politische Lösung zu schaffen.
Wie schwer ist es, die internationale Gemeinschaft dazu zu bringen, diese Krisen gleichzeitig wahrzunehmen?
Das ist sehr schwer. Wir leben in einer Ein-Thema-Welt. Die globale Aufmerksamkeit konzentriert sich immer auf ein einziges Thema. Derzeit ist das Syrien. Es gibt gute Gründe, warum Syrien die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft verdient - aus humanitären Gründen, aber auch wegen der geostrategischen Dimensionen des Konflikts. Leider entsteht so ein Umfeld, in dem afrikanische Krisen vergessen werden. Die Hälfte unserer Aktivitäten findet in Afrika statt. Wir haben Krisen in Mali, in Sudan und Südsudan, in der Demokratischen Republik Kongo, mit schrecklichen Auswirkungen. Wo es keine Aufmerksamkeit gibt, ist aber auch kein Geld. Alle unsere Aktivitäten in Afrika sind dramatisch unterfinanziert.
Haben Sie ein Rezept gefunden, um mit diesem Ungleichgewicht umzugehen?
Wir haben unsere strukturellen Kosten substantiell reduziert. Das hat es uns ermöglicht, nicht zweckgebundene Mittel für die vergessenen Krisen zu verwenden, für die wir kaum direkte Unterstützung haben. Um ein Beispiel zu nennen: Tschad hat etwa 300000 Flüchtlinge aus Darfur, und mehr als 50000 aus der Zentralafrikanischen Republik. Vor fünf Jahren war Darfur im Fokus der Aufmerksamkeit, unser Flüchtlingsprogramm im Tschad war mit 100 Millionen Dollar sehr gut ausgestattet.
Und heute?
2012 ist unsere Arbeit im Tschad nur zu 40 Prozent finanziert. Das bedeutet, dass wir etwa 60 Millionen von den nicht zweckgebundenen Mitteln nutzen müssen, um die gleiche Art der Unterstützung leisten zu können. Das vermittelt Ihnen einen Eindruck davon, wie relevant 'Moden' für humanitäre Aktivitäten sind.
António Guterres, 63, ist seit Juni 2005 Hoher Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge. Von 1999 bis 2002 war er portugiesischer Ministerpräsident.
SZ: Sie haben erst kürzlich die Nachbarländer Syriens bereist. Was haben sie dort gesehen?
António Guterres: Vor der größten Herausforderung stehen jene Syrer, die in Syrien selbst sind. Etwa 2,5 Millionen Menschen brauchen dort Hilfe, vermutlich 1,5 Millionen wurden vertrieben. Zusätzlich haben wir nun in den Nachbarstaaten etwa 350000 Flüchtlinge, die offiziell registriert sind oder sich in dem Prozess befinden. Aber wir wissen auch, dass etwa in der Türkei 70000 weitere Syrer sind, die keine Hilfe beanspruchen. Sehr wahrscheinlich sind es bereits mehr als 600000 Menschen, die gezwungen waren, vor dem Konflikt über die Grenzen zu fliehen.
Was bedeutet das für ihre Arbeit?
Zunächst müssen wir sicherstellen, dass wir internationale Solidarität mobilisieren und all diese Menschen unterstützen können. Zweitens müssen wir internationale Solidarität mit den Aufnahmeländern mobilisieren. Der syrische Konflikt hat gewaltige Auswirkungen auf die Wirtschaft, Gesellschaft und Sicherheit dieser Länder. Sie brauchen politische und ökonomische Hilfe, damit sie mit den Herausforderungen umgehen können. Es ist im aufgeklärten Selbstinteresse insbesondere der europäischen Länder, Syriens Nachbarn voll dabei zu unterstützen.
Was meinen sie mit aufgeklärtem Selbstinteresse?
Wenn der Konflikt aus Syrien plötzlich über die Grenzen schwappen würde...
... was an der Grenze zur Türkei bereits passiert ist ...
... in kleinem Ausmaß. Das würde eine erhebliche Bedrohung für Frieden und Sicherheit weltweit bedeuten. Insbesondere im nicht so weit entfernten Europa darf das nicht unterschätzt werden.
António Guterres, UN-Hochkommissar für Flüchtlingsfragen
Die Belastungen nehmen mit dem Winter noch zu. UNHCR rechnet bis Jahresende mit 700000 Flüchtlingen in den Nachbarländern. Besteht die Gefahr, dass Grenzen geschlossen werden?
Ich bin durch das klare Bekenntnis aller Nachbarstaaten, die Grenzen offen zu halten, sehr ermutigt. Es ist aber maßgeblich, dass diese Großzügigkeit auf eine viel stärkere internationale Solidarität trifft.
Was genau erwarten Sie, insbesondere von der EU?
Zunächst einmal ist es wichtig, dass auch die europäischen Länder ihre Grenzen offen halten und Syrern, die Schutz in der EU suchen, Zugang gewähren. Man kann nicht von Jordanien, der Türkei und Libanon verlangen, dies zu tun, ohne selbst so zu handeln. Das gilt insbesondere, wenn es familiäre Verbindungen gibt.
In den vergangenen 18 Monaten sind etwa 20000 syrische Flüchtlinge nach Europa gekommen. Muss sich Europa auf einen Zustrom vorbereiten?
Wenn Jordanien insgesamt 1,9 Millionen Flüchtlinge aufnehmen kann, sollte auch Europa in der Lage sein, seine Verantwortung als Asyl-Kontinent wahrzunehmen.
Was würde das beinhalten?
Das beinhaltet, die Grenzen offen zu halten für Syrer, die Schutz suchen. Und es könnte bedeuten, sich aktiv an einem Resettlement-Programm zu beteiligen, wenn es in der nahen Zukunft nötig wird.
An welche Zahlen denken Sie dabei?
Es ist sinnlos, hypothetische Rechnungen aufzustellen. Man kann das nicht vorhersehen. Entscheidend ist die Einstellung. So wie Jordanien, Libanon, die Türkei und der Irak ihre Grenzen offen gehalten haben, so sollte es auch in Europa sein.
Sollten die Staaten Europas nach 18 Monaten Syrienkonflikt in der Frage der Flüchtlinge nicht enger zusammenarbeiten?
Wenn ein Syrer in ein europäisches Land kommt und Schutz sucht, muss ihm Schutz gewährt werden. Und ich glaube, dass die europäischen Länder dies auch tun - obgleich leider nicht mit einheitlich hohen Standards. Ohne Zweifel wäre es gut, in diesen Belangen eine kohärente europäische Linie zu haben, wie in allen Asylfragen. Ich bin ein großer Unterstützer eines gemeinsamen europäischen Asylsystems. Es ist wichtig, dass die Syrer gut aufgenommen werden. Und ich glaube, dass alle europäischen Länder dazu bereit sind.
Wenn Sie an die europäische Reaktion auf die Libyen-Krise zurückdenken, an die Angst vor einem Flüchtlingsstrom: Wie groß ist Ihre Enttäuschung?
Die meisten, die Libyen verlassen haben, waren keine Flüchtlinge, sondern Arbeitsmigranten. Wir haben gemeinsam mit der Internationalen Migrationsbehörde IOM Hunderttausenden geholfen, zurück in ihre Heimat zu kommen. Für die Übrigen, die nicht zurück konnten, weil in der Heimat Krieg herrscht oder politische Verfolgung droht, gibt es ein Resettlement-Programm in verschiedene Teile der Welt. Es stimmt, dass Europa für diese Gruppe viel weniger Plätze angeboten hat als Nordamerika.
Gilt das nur für Libyen?
Grundsätzlich sind die Resettlement-Programme der USA, Kanadas oder Australiens jeweils größer als alle europäischen Programme zusammen. Natürlich ist das etwas, das ich gerne anders hätte. Da Libyen so nah an Europa liegt, hätte ich erwartet, dass Europa mehr Neuansiedlungs-Möglichkeiten für diejenigen anbieten kann, die in Ägypten oder Tunesien gestrandet sind. Und die Krise ist nicht vorbei: In der Folge sind Kämpfer und Waffen nach Mali gelangt, wo wir nun eine sehr dramatische humanitäre und eine sehr dramatische Sicherheitslage haben. Auch das erfordert einen starken Einsatz Europas, um Flüchtlinge und Vertriebene in Mali zu unterstützen, aber auch um Bedingungen für eine politische Lösung zu schaffen.
Wie schwer ist es, die internationale Gemeinschaft dazu zu bringen, diese Krisen gleichzeitig wahrzunehmen?
Das ist sehr schwer. Wir leben in einer Ein-Thema-Welt. Die globale Aufmerksamkeit konzentriert sich immer auf ein einziges Thema. Derzeit ist das Syrien. Es gibt gute Gründe, warum Syrien die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft verdient - aus humanitären Gründen, aber auch wegen der geostrategischen Dimensionen des Konflikts. Leider entsteht so ein Umfeld, in dem afrikanische Krisen vergessen werden. Die Hälfte unserer Aktivitäten findet in Afrika statt. Wir haben Krisen in Mali, in Sudan und Südsudan, in der Demokratischen Republik Kongo, mit schrecklichen Auswirkungen. Wo es keine Aufmerksamkeit gibt, ist aber auch kein Geld. Alle unsere Aktivitäten in Afrika sind dramatisch unterfinanziert.
Haben Sie ein Rezept gefunden, um mit diesem Ungleichgewicht umzugehen?
Wir haben unsere strukturellen Kosten substantiell reduziert. Das hat es uns ermöglicht, nicht zweckgebundene Mittel für die vergessenen Krisen zu verwenden, für die wir kaum direkte Unterstützung haben. Um ein Beispiel zu nennen: Tschad hat etwa 300000 Flüchtlinge aus Darfur, und mehr als 50000 aus der Zentralafrikanischen Republik. Vor fünf Jahren war Darfur im Fokus der Aufmerksamkeit, unser Flüchtlingsprogramm im Tschad war mit 100 Millionen Dollar sehr gut ausgestattet.
Und heute?
2012 ist unsere Arbeit im Tschad nur zu 40 Prozent finanziert. Das bedeutet, dass wir etwa 60 Millionen von den nicht zweckgebundenen Mitteln nutzen müssen, um die gleiche Art der Unterstützung leisten zu können. Das vermittelt Ihnen einen Eindruck davon, wie relevant 'Moden' für humanitäre Aktivitäten sind.