Aus richtig und falsch wird Scherz: Eine Ausstellung in Hamburg untersucht den schlechten Geschmack.
Nie war der Pranger so populär wie heute. Die Plattform der Schande heißt zwar mittlerweile Shitstorm, Bild-Zeitung, Facebook oder Kalkofe, aber das öffentliche Ausstellen von Dummheit, Geschmacklosem und peinlichen Fehltritten ist aktuell eher ein Volkssport denn eine seltene Marktplatzstrafe wie im Mittelalter. Nur die Museen wollen sich nicht so recht an dieser Denunziation des Negativen beteiligen. Obwohl es so viele Modesünden, schlechte Kunst und Design-Schrott gibt wie nie zuvor, sucht man Abteilungen für künstlerische Abschreckung dort vergeblich. Das war vor hundert Jahren noch ganz anders. Da hatte der Kunsthistoriker Gustav Pazaurek von "Dekorbrutalitäten", "Schmuckverschwendung" und "Pimpeleien" die Nase voll und forderte eine "Folterkammer" für "ästhetische Dickhäuter" in Kunstgewerbemuseen.
Als Pazaurek 1909 Direktor am Landesgewerbemuseum Stuttgart wurde, erfüllte er sich seine Kunstwartträume und eröffnete mit der "Abteilung der Geschmacksverirrung" einen Pranger für Kitsch.
23 Jahre bestand diese Rosskur für den schlechten Geschmack, für die Pazaurek rund 900 Stilblüten sammelte und sie wie ein Design-Botaniker in Ober- und Untergruppen klassifizierte. Seine vier großen Spezies des Missratenen (Materialfehler, Konstruktionsfehler, Dekorfehler und Kitsch) zergliederte er in spezielle Erscheinungsformen wie "Hemdsärmelkultur", "Dekorübergriffe", "Patenthumor", "Materialprotzerei" oder "Hurrakitsch", wobei die meisten der ausgestellten Objekte eindeutig in mehreren Kategorien zu Ehren gekommen wären.
Diese Enzyklopädie des Ungeschmacks hat in den Museen seither kaum Nachahmer gefunden, weswegen die Ausstellung "Böse Dinge" im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe in ihrer Gegenüberstellung von Pazaureks Entwurfsbestiarium mit zeitgenössischen Design-Verbrechen eine ähnlich befreiende Wirkung entfaltet, wie es das Stuttgarter Original gehabt haben mag. Wenn neben der Vitrine mit Heldenwichse von 1914 in den deutschen Reichsfarben Philippe Starcks goldenes Sturmgewehr als Lampe steht oder eine Tasse mit Schnurrbartschutz im alten Vitrinenschrank auf einen rosa Hüpfpenis von der Reeperbahn blickt, dann muss man feststellen, dass sich die geschmacklichen Entgleisungen auch nach vier Systemwechseln immer noch erstaunlich gleichen.
ausgesuchte Geschmacklosigkeiten bei der Ausstellung "Böse Dinge"
Hermann Brochs Diktum vom "Kitsch-Menschen" Adolf Hitler und Adornos Kritik des Massengeschmacks als verlogen und dümmlicher Trost stehen hier Pate für die moralische Aufladung des Ausstellungstitels. Aber die Gleichsetzung von schlecht und böse, die durch die Kuratoren vorgenommen wird, ist doch vermutlich eher amüsant gemeint. "Böse Dinge" ist keine ernste Thesenschau, selbst wenn sie in der Verlängerung von Pazaureks Fehlerkategorien in die Gegenwart nur politisch sehr korrekte Stichworte bildet: "Rassistische" oder "sexistische Gestaltung", "Förderung von Gewaltakzeptanz" oder "Artenschutzverbrechen" sind die Ordnungskategorien für die heutigen Staubfänger. Das mag zunächst ambitioniert klingen, verwischt aber eigentlich eher den historischen Unterschied im Urteilsernst.
Denn die Generation von Werkbund und Bauhaus, zu der Pazaurek gehörte, glaubte tatsächlich an eine Volkserziehung durch die Gute Form und benahm sich entsprechend oberlehrerhaft. Die meisten Dinge auf der modernen Seite der Ausstellung gelten aber in jedem halbwegs kultivierten Haushalt als respektabler Scherz, für den man sich nicht zu schämen braucht, sei es der Wecker in der Plastik-Moschee, die Spülbürsten "Diva" und "Disco" mit Afrolook oder der USB-Stick als Erdbeere. Viel entscheidender für die verwischten Grenzen der Geschmackskriterien, die wir heute pflegen, ist aber der Vergleich zwischen alten Dekor-Sünden und modernem Spitzendesign. Was bei Pazaurek Natur-, Dekor- und Jägerkitsch ist, wird bei Hochpreis-Designern wie Marcel Wanders, Jaime Hayon oder Patricia Urquiola zur stilistischen Inspiration.
Und deswegen ist "Böse Dinge" schließlich doch weniger ein Pranger des schlechten Geschmacks als ein fröhlicher Kulturvergleich zweier Epochen, von der die erste noch "richtig" und "falsch" kannte. Die Kinder von Jeff Koons und Lady Gaga aber werden einen Bismarck-Bierkrug vermutlich genauso "cool" finden wie einen Gebetsteppich aus Afghanistan, der das New Yorker Attentat vom 11. September 2001 zeigt. Denn heute führt die Geschmacksverirrung weniger in die Folterkammer als zum nächsten Trend.
Böse Dinge. Eine Enzyklopädie des Ungeschmacks, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, bis 15.September, www.mkg-hamburg.de
Nie war der Pranger so populär wie heute. Die Plattform der Schande heißt zwar mittlerweile Shitstorm, Bild-Zeitung, Facebook oder Kalkofe, aber das öffentliche Ausstellen von Dummheit, Geschmacklosem und peinlichen Fehltritten ist aktuell eher ein Volkssport denn eine seltene Marktplatzstrafe wie im Mittelalter. Nur die Museen wollen sich nicht so recht an dieser Denunziation des Negativen beteiligen. Obwohl es so viele Modesünden, schlechte Kunst und Design-Schrott gibt wie nie zuvor, sucht man Abteilungen für künstlerische Abschreckung dort vergeblich. Das war vor hundert Jahren noch ganz anders. Da hatte der Kunsthistoriker Gustav Pazaurek von "Dekorbrutalitäten", "Schmuckverschwendung" und "Pimpeleien" die Nase voll und forderte eine "Folterkammer" für "ästhetische Dickhäuter" in Kunstgewerbemuseen.
Als Pazaurek 1909 Direktor am Landesgewerbemuseum Stuttgart wurde, erfüllte er sich seine Kunstwartträume und eröffnete mit der "Abteilung der Geschmacksverirrung" einen Pranger für Kitsch.
23 Jahre bestand diese Rosskur für den schlechten Geschmack, für die Pazaurek rund 900 Stilblüten sammelte und sie wie ein Design-Botaniker in Ober- und Untergruppen klassifizierte. Seine vier großen Spezies des Missratenen (Materialfehler, Konstruktionsfehler, Dekorfehler und Kitsch) zergliederte er in spezielle Erscheinungsformen wie "Hemdsärmelkultur", "Dekorübergriffe", "Patenthumor", "Materialprotzerei" oder "Hurrakitsch", wobei die meisten der ausgestellten Objekte eindeutig in mehreren Kategorien zu Ehren gekommen wären.
Diese Enzyklopädie des Ungeschmacks hat in den Museen seither kaum Nachahmer gefunden, weswegen die Ausstellung "Böse Dinge" im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe in ihrer Gegenüberstellung von Pazaureks Entwurfsbestiarium mit zeitgenössischen Design-Verbrechen eine ähnlich befreiende Wirkung entfaltet, wie es das Stuttgarter Original gehabt haben mag. Wenn neben der Vitrine mit Heldenwichse von 1914 in den deutschen Reichsfarben Philippe Starcks goldenes Sturmgewehr als Lampe steht oder eine Tasse mit Schnurrbartschutz im alten Vitrinenschrank auf einen rosa Hüpfpenis von der Reeperbahn blickt, dann muss man feststellen, dass sich die geschmacklichen Entgleisungen auch nach vier Systemwechseln immer noch erstaunlich gleichen.
ausgesuchte Geschmacklosigkeiten bei der Ausstellung "Böse Dinge"
Hermann Brochs Diktum vom "Kitsch-Menschen" Adolf Hitler und Adornos Kritik des Massengeschmacks als verlogen und dümmlicher Trost stehen hier Pate für die moralische Aufladung des Ausstellungstitels. Aber die Gleichsetzung von schlecht und böse, die durch die Kuratoren vorgenommen wird, ist doch vermutlich eher amüsant gemeint. "Böse Dinge" ist keine ernste Thesenschau, selbst wenn sie in der Verlängerung von Pazaureks Fehlerkategorien in die Gegenwart nur politisch sehr korrekte Stichworte bildet: "Rassistische" oder "sexistische Gestaltung", "Förderung von Gewaltakzeptanz" oder "Artenschutzverbrechen" sind die Ordnungskategorien für die heutigen Staubfänger. Das mag zunächst ambitioniert klingen, verwischt aber eigentlich eher den historischen Unterschied im Urteilsernst.
Denn die Generation von Werkbund und Bauhaus, zu der Pazaurek gehörte, glaubte tatsächlich an eine Volkserziehung durch die Gute Form und benahm sich entsprechend oberlehrerhaft. Die meisten Dinge auf der modernen Seite der Ausstellung gelten aber in jedem halbwegs kultivierten Haushalt als respektabler Scherz, für den man sich nicht zu schämen braucht, sei es der Wecker in der Plastik-Moschee, die Spülbürsten "Diva" und "Disco" mit Afrolook oder der USB-Stick als Erdbeere. Viel entscheidender für die verwischten Grenzen der Geschmackskriterien, die wir heute pflegen, ist aber der Vergleich zwischen alten Dekor-Sünden und modernem Spitzendesign. Was bei Pazaurek Natur-, Dekor- und Jägerkitsch ist, wird bei Hochpreis-Designern wie Marcel Wanders, Jaime Hayon oder Patricia Urquiola zur stilistischen Inspiration.
Und deswegen ist "Böse Dinge" schließlich doch weniger ein Pranger des schlechten Geschmacks als ein fröhlicher Kulturvergleich zweier Epochen, von der die erste noch "richtig" und "falsch" kannte. Die Kinder von Jeff Koons und Lady Gaga aber werden einen Bismarck-Bierkrug vermutlich genauso "cool" finden wie einen Gebetsteppich aus Afghanistan, der das New Yorker Attentat vom 11. September 2001 zeigt. Denn heute führt die Geschmacksverirrung weniger in die Folterkammer als zum nächsten Trend.
Böse Dinge. Eine Enzyklopädie des Ungeschmacks, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, bis 15.September, www.mkg-hamburg.de