Odo Marquard erklärt in einer neuen Publikation bei Reclam die Existenzphilosophie und die Wichtigkeit von Einsamkeit.
Vor dreißig Jahren verfasste der Philosoph Odo Marquard ein knappes "Plädoyer für die Einsamkeitsfähigkeit". Ursprünglich handelte es sich um einen Vortrag für den Rundfunk. Was waren das für Zeiten! Angesichts heute üblicher Formen "symptomatischer Gegengeselligkeit" zur wechselseitigen Selbstbestätigung (Facebook, Twitter) erscheint Odo Marquards damaliges Plädoyer aktueller denn je.
Nun veröffentlicht der Reclam-Verlag aus Beständen des Deutschen Literaturarchivs in Marbach eine von Marquard selbst schriftlich ausgearbeitete, 1974 und 1978 in Gießen gehaltene Vorlesung zur Existenzphilosophie, auf die sich in seinen publizierten Schriften niemals ein Hinweis gefunden hatte und die doch als geistige Grundlage des erwähnten Plädoyers verstanden werden kann.
Diese neue Publikation darf, auch wenn man sich scheut so zu sprechen, als kleine Sensation gelten. Zutreffend bemerkt der Herausgeber Franz Josef Wetz im Nachwort, dem Leser trete in diesen Vorlesungen ein Odo Marquard entgegen, "wie man ihn aus seinen übrigen Büchern kaum kennt".
Zutreffend ist dies in zweierlei Hinsicht: Marquard, der stets nicht nur die Kürze des Lebens zu beachten, sondern auch die Kürze von Texten empfiehlt, entwickelt hier seine Argumentation in mühsamen Wendungen und Windungen. Für den heutigen Leser bedeutet das einen Gewinn: Man fühlt sich bei der Lektüre in die Atmosphäre des Hörsaals versetzt, vermag einen großen Denker bei der allmählichen Verfertigung seiner Gedanken unmittelbar zu beobachten.
Aber auch inhaltlich begegnet uns in diesen Vorlesungen ein bislang unbekannter Marquard: Nichts dürfte ihm, dem heute 85-jährigen Philosophen der menschlichen Endlichkeit, fremdartiger sein als existenzialistisches Pathos. So möchte man meinen. Weshalb dann aber dieses Interesse für Existenzphilosophie? Weil die Existenzphilosophie für Marquard Philosophie des Einzelnen ist: "Nur wer gelernt hat, Einsamkeit auf sich zu nehmen, gewinnt eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber dem Bedürfnis, sich durch den Beifall der Anderen bestechen zu lassen."
Einsamkeit kann manchmal ganz nett sein, auch wenn es nicht so aussieht.
Die existenzphilosophische Rehabilitierung des Einzelnen ergibt sich für Marquard aus der Behauptung eines Vorrangs der Existenz vor der Essenz. Um zu verstehen, was mit dieser vielfach nachgesprochenen These behauptet wird, ordnet Marquard sie in einen umfassenden geschichtlichen Kontext ein. Die Entstehung der Existenzphilosophie lässt sich für ihn eben nur historisch erklären.
Für Marquard gibt es nicht nur eine, sondern zwei Existenzphilosophien: eine frühneuzeitliche und eine moderne. Die frühneuzeitliche Selbsterhaltungsphilosophie, wie sie ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts von Bernardino Telesio formuliert wird, fragt nach der menschlichen Existenz im Sinne des schlichten Überlebens. Die Aufgabe der menschlichen Existenz besteht darin davonzukommen. Die moderne Existenzphilosophie, wie sie zuerst von Søren Kierkegaard formuliert wird, fragt, was man tun soll, wenn man davongekommen ist.
Wie kommt es zunächst zur Philosophie der Selbsterhaltung und später zur Philosophie der Existenz? Diese Entstehung verdankt sich laut Odo Marquard einerseits der Abdankung von Wesensbegriffen, so dass der Mensch zum Einzelnen wird, andererseits einem Telos-Schwund, so dass der Einzelne zum Sinnsucher wird. Die Existenz- und die Selbsterhaltungsphilosophie werden insofern als indirekte Spätfolge des "theologischen Absolutismus" (Hans Blumenberg) und einer "Inversion der Teleologie" (Robert Spaemann) interpretiert.
Das wirkt mitunter etwas konstruiert, insbesondere wenn Jahrhunderte auseinanderliegende philosophische Ansätze wie zwei am gleichen Schachbrett sitzende Spieler in Beziehung zueinander gesetzt werden. Es entsteht so die Versuchung, dass Philosophiegeschichte ihre Protagonisten zu zeitlosen Vertretern philosophischer Probleme stilisiert, die aber doch vorrangig diejenigen des Interpreten sind.
Ohnehin besteht das Bemerkenswerte dieser Vorlesungen nicht in der philosophiegeschichtlichen Einbettung der Existenzphilosophie, sondern in der ausführlichen Interpretation von Kierkegaards "Stadienlehre", wie sie bislang in Odo Marquards Schriften, trotz gelegentlicher Hinweise auf die grundsätzliche Bedeutung Kierkegaards für sein Denken, nicht zu finden war.
Der Einzelne, wie ihn Marquard verteidigt, so wird deutlich, ist jener Einzelne, über den Kierkegaard schrieb. Für Kierkegaard führte die Einsamkeit vor Gott in letzter Instanz zur Suspension des Ethischen. Denn das Ethische war für Kierkegaard das prächtig konstruierte Schloss, während der Einzelne doch immer nur in seiner eigenen Hütte wohnen kann. Weil das Paradox des Glaubens insofern eine Zumutung ist, die nur sich selbst zuzumuten ist, vertritt Kierkegaard, so bezeichnet das Marquard, "Ironie als Quarantäne". Indem Kierkegaard das, was bitter ernst gemeint ist, scherzend sagt, will er niemand anderen behelligen als sich selbst.
Am Ende seiner Vorlesungen setzt sich Marquard mit Martin Heidegger auseinander: Die Unverfügbarkeit von Vergangenheit und Zukunft für den Einzelnen erkannt zu haben, wird als die wesentliche Leistung von Heideggers Philosophie begriffen. Wie aber lässt sich diese Apologie der Unverfügbarkeit mit jenem Dezisionismus vereinbaren, der aller Existenzphilosophie doch eigentümlich sein dürfte? Der frühe Heidegger spricht von "Entschlossenheit", Sartre von einer "Wahl", die der Mensch sei. Begreift nicht auch Kierkegaard die Wahl zwischen ästhetischem, ethischem und religiösem Stadium als Resultat einer Entscheidung?
Odo Marquard lässt sich durch die Frage nach den dezisionistischen Elementen der Existenzphilosophie nicht irritieren. Er plädiert für eine Form von Existenzphilosophie, die sich zur Hermeneutik bekennt und an Vorgegebenheiten anknüpft. In diesem Zusammenhang beruft er sich auf Oskar Beckers Begriff der "Getragenheit" und stellt ihn ausdrücklich Martin Heideggers "Geworfenheit" und "Sorge" gegenüber.
Das klingt überaus sympathisch. Aber bedarf nicht jede Getragenheit einer Instanz, die trägt? Anders wäre doch die Rede, schon das Bild von einer Getragenheit nicht zu verstehen? Wer oder was aber wäre diese Instanz? Hinweise auf die Beantwortung dieser Frage enthalten die nunmehr publizierten Vorlesungen ebenso wenig wie Marquards sonstige Schriften.
Dies kann kein Einwand sein, sondern lediglich die Äußerung eines Bedauerns, welche freilich nicht verkennt, dass mit der vorliegenden Publikation, so unscheinbar sie in ihrem Fünf-Euro-Reclam-Kostüm auftreten mag, ein bedeutender und bislang unbekannter Schatz ans Tageslicht befördert wurde. Ein Schatz, nach dessen Begutachtung man sich unwillkürlich fragt, welche weiteren Preziosen sich in Marquards unveröffentlichten Papieren noch befinden mögen.
Vor dreißig Jahren verfasste der Philosoph Odo Marquard ein knappes "Plädoyer für die Einsamkeitsfähigkeit". Ursprünglich handelte es sich um einen Vortrag für den Rundfunk. Was waren das für Zeiten! Angesichts heute üblicher Formen "symptomatischer Gegengeselligkeit" zur wechselseitigen Selbstbestätigung (Facebook, Twitter) erscheint Odo Marquards damaliges Plädoyer aktueller denn je.
Nun veröffentlicht der Reclam-Verlag aus Beständen des Deutschen Literaturarchivs in Marbach eine von Marquard selbst schriftlich ausgearbeitete, 1974 und 1978 in Gießen gehaltene Vorlesung zur Existenzphilosophie, auf die sich in seinen publizierten Schriften niemals ein Hinweis gefunden hatte und die doch als geistige Grundlage des erwähnten Plädoyers verstanden werden kann.
Diese neue Publikation darf, auch wenn man sich scheut so zu sprechen, als kleine Sensation gelten. Zutreffend bemerkt der Herausgeber Franz Josef Wetz im Nachwort, dem Leser trete in diesen Vorlesungen ein Odo Marquard entgegen, "wie man ihn aus seinen übrigen Büchern kaum kennt".
Zutreffend ist dies in zweierlei Hinsicht: Marquard, der stets nicht nur die Kürze des Lebens zu beachten, sondern auch die Kürze von Texten empfiehlt, entwickelt hier seine Argumentation in mühsamen Wendungen und Windungen. Für den heutigen Leser bedeutet das einen Gewinn: Man fühlt sich bei der Lektüre in die Atmosphäre des Hörsaals versetzt, vermag einen großen Denker bei der allmählichen Verfertigung seiner Gedanken unmittelbar zu beobachten.
Aber auch inhaltlich begegnet uns in diesen Vorlesungen ein bislang unbekannter Marquard: Nichts dürfte ihm, dem heute 85-jährigen Philosophen der menschlichen Endlichkeit, fremdartiger sein als existenzialistisches Pathos. So möchte man meinen. Weshalb dann aber dieses Interesse für Existenzphilosophie? Weil die Existenzphilosophie für Marquard Philosophie des Einzelnen ist: "Nur wer gelernt hat, Einsamkeit auf sich zu nehmen, gewinnt eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber dem Bedürfnis, sich durch den Beifall der Anderen bestechen zu lassen."
Einsamkeit kann manchmal ganz nett sein, auch wenn es nicht so aussieht.
Die existenzphilosophische Rehabilitierung des Einzelnen ergibt sich für Marquard aus der Behauptung eines Vorrangs der Existenz vor der Essenz. Um zu verstehen, was mit dieser vielfach nachgesprochenen These behauptet wird, ordnet Marquard sie in einen umfassenden geschichtlichen Kontext ein. Die Entstehung der Existenzphilosophie lässt sich für ihn eben nur historisch erklären.
Für Marquard gibt es nicht nur eine, sondern zwei Existenzphilosophien: eine frühneuzeitliche und eine moderne. Die frühneuzeitliche Selbsterhaltungsphilosophie, wie sie ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts von Bernardino Telesio formuliert wird, fragt nach der menschlichen Existenz im Sinne des schlichten Überlebens. Die Aufgabe der menschlichen Existenz besteht darin davonzukommen. Die moderne Existenzphilosophie, wie sie zuerst von Søren Kierkegaard formuliert wird, fragt, was man tun soll, wenn man davongekommen ist.
Wie kommt es zunächst zur Philosophie der Selbsterhaltung und später zur Philosophie der Existenz? Diese Entstehung verdankt sich laut Odo Marquard einerseits der Abdankung von Wesensbegriffen, so dass der Mensch zum Einzelnen wird, andererseits einem Telos-Schwund, so dass der Einzelne zum Sinnsucher wird. Die Existenz- und die Selbsterhaltungsphilosophie werden insofern als indirekte Spätfolge des "theologischen Absolutismus" (Hans Blumenberg) und einer "Inversion der Teleologie" (Robert Spaemann) interpretiert.
Das wirkt mitunter etwas konstruiert, insbesondere wenn Jahrhunderte auseinanderliegende philosophische Ansätze wie zwei am gleichen Schachbrett sitzende Spieler in Beziehung zueinander gesetzt werden. Es entsteht so die Versuchung, dass Philosophiegeschichte ihre Protagonisten zu zeitlosen Vertretern philosophischer Probleme stilisiert, die aber doch vorrangig diejenigen des Interpreten sind.
Ohnehin besteht das Bemerkenswerte dieser Vorlesungen nicht in der philosophiegeschichtlichen Einbettung der Existenzphilosophie, sondern in der ausführlichen Interpretation von Kierkegaards "Stadienlehre", wie sie bislang in Odo Marquards Schriften, trotz gelegentlicher Hinweise auf die grundsätzliche Bedeutung Kierkegaards für sein Denken, nicht zu finden war.
Der Einzelne, wie ihn Marquard verteidigt, so wird deutlich, ist jener Einzelne, über den Kierkegaard schrieb. Für Kierkegaard führte die Einsamkeit vor Gott in letzter Instanz zur Suspension des Ethischen. Denn das Ethische war für Kierkegaard das prächtig konstruierte Schloss, während der Einzelne doch immer nur in seiner eigenen Hütte wohnen kann. Weil das Paradox des Glaubens insofern eine Zumutung ist, die nur sich selbst zuzumuten ist, vertritt Kierkegaard, so bezeichnet das Marquard, "Ironie als Quarantäne". Indem Kierkegaard das, was bitter ernst gemeint ist, scherzend sagt, will er niemand anderen behelligen als sich selbst.
Am Ende seiner Vorlesungen setzt sich Marquard mit Martin Heidegger auseinander: Die Unverfügbarkeit von Vergangenheit und Zukunft für den Einzelnen erkannt zu haben, wird als die wesentliche Leistung von Heideggers Philosophie begriffen. Wie aber lässt sich diese Apologie der Unverfügbarkeit mit jenem Dezisionismus vereinbaren, der aller Existenzphilosophie doch eigentümlich sein dürfte? Der frühe Heidegger spricht von "Entschlossenheit", Sartre von einer "Wahl", die der Mensch sei. Begreift nicht auch Kierkegaard die Wahl zwischen ästhetischem, ethischem und religiösem Stadium als Resultat einer Entscheidung?
Odo Marquard lässt sich durch die Frage nach den dezisionistischen Elementen der Existenzphilosophie nicht irritieren. Er plädiert für eine Form von Existenzphilosophie, die sich zur Hermeneutik bekennt und an Vorgegebenheiten anknüpft. In diesem Zusammenhang beruft er sich auf Oskar Beckers Begriff der "Getragenheit" und stellt ihn ausdrücklich Martin Heideggers "Geworfenheit" und "Sorge" gegenüber.
Das klingt überaus sympathisch. Aber bedarf nicht jede Getragenheit einer Instanz, die trägt? Anders wäre doch die Rede, schon das Bild von einer Getragenheit nicht zu verstehen? Wer oder was aber wäre diese Instanz? Hinweise auf die Beantwortung dieser Frage enthalten die nunmehr publizierten Vorlesungen ebenso wenig wie Marquards sonstige Schriften.
Dies kann kein Einwand sein, sondern lediglich die Äußerung eines Bedauerns, welche freilich nicht verkennt, dass mit der vorliegenden Publikation, so unscheinbar sie in ihrem Fünf-Euro-Reclam-Kostüm auftreten mag, ein bedeutender und bislang unbekannter Schatz ans Tageslicht befördert wurde. Ein Schatz, nach dessen Begutachtung man sich unwillkürlich fragt, welche weiteren Preziosen sich in Marquards unveröffentlichten Papieren noch befinden mögen.